Urteil des BGH vom 11.03.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZB 22/13
vom
11. März 2014
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3
Zu den Anforderungen an den Inhalt einer Berufungsbegründung.
BGH, Beschluss vom 11. März 2014 - VI ZB 22/13 - OLG Frankfurt am Main
LG Gießen
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. März 2014 durch den
Vorsitzenden Richter Galke, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge, die
Richterin von Pentz und den Richter Offenloch
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des
8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
3. Juni 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zu-
rückverwiesen.
Beschwerdewert: 12.000
Gründe:
I.
Die 1997 geborene Klägerin litt seit ihrer Geburt an einer Fibulaaplasie
des rechten Beins. Die im Jahr 2003 im Gelenkzentrum W. versuchte operative
Behebung der Beinlängendifferenz hatte letztlich keinen Erfolg. Nach zuneh-
mender Verbiegung des rechten Unterschenkels suchte die Klägerin im Oktober
2004 die Notfallambulanz der A. Klinik W. auf. Dort wurde eine Grünholzfraktur
diagnostiziert und mittels einer Plattenosteosynthese versorgt. Die Weiterbe-
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handlung erfolgte durch den Beklagten zu 1 im Klinikum S., dessen Trägerin die
Beklagte zu 2 ist. Bei der Erstvorstellung wurden neben einer Beinlängendiffe-
renz eine Valgusfehlstellung und eine X-Beinfehlstellung des rechten Unter-
schenkels von 40° diagnostiziert. Der Beklagte zu 1 stimmte mit den Eltern der
Klägerin eine Behandlung in zwei Schritten ab. Eine zunächst vorzunehmende
Achskorrektur sollte die Belastungsfähigkeit des Beins gewährleisten; anschlie-
ßend sollte in einem zweiten Schritt die Beinlängenverlängerung wieder aufge-
nommen werden. Mit der Verlängerung des rechten Unterschenkels wurde im
Oktober 2004 begonnen. Am 28. Januar 2005 wurde sie bei einer radiologisch
gemessenen Verlängerung um 1,5 cm eingestellt. Die weitere Behandlung dau-
erte bis Mai 2007. Am 5. Oktober 2007 unterzog sich die Klägerin im Universi-
tätsklinikum F. einer neuerlichen achskorrigierenden Operation des Unter-
schenkels, bei der u.a. der bis dahin noch nicht durchtrennte Fibulastrang des
rechten Beins durchtrennt wurde.
Die Klägerin macht geltend, die Behandlung durch den Beklagten zu 1
sei in mehrerlei Hinsicht fehlerhaft gewesen. Nach Einholung eines gerichtli-
chen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. S. hat sie unter Bezugnahme
auf ein Privatgutachten von Dr. C. u.a. geltend gemacht, ohne eine Durchtren-
nung des Fibulastrangs hätten die Korrekturmaßnahmen keinen Erfolg haben
können. Angesichts der problembehafteten Vorgeschichte sei es ferner behand-
lungsfehlerhaft gewesen, nur die Fehlstellung des Unterschenkels zu therapie-
ren, statt eine Gesamtkorrektur der Beinachse vorzunehmen. Bei der anschlie-
ßenden Behandlung und Versorgung seien dem Beklagten zu 1 weitere Be-
handlungsfehler unterlaufen.
Die Klägerin begehrt im Wege der Leistungs- und Feststellungsklage Er-
satz materiellen und immateriellen Schadens. Das Landgericht hat die Klage
abgewiesen. Mit ihrer Berufung hat die Klägerin geltend gemacht, das Landge-
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richt sei unkritisch den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen ge-
folgt, ohne sich mit dem Privatgutachten von Dr. C. auseinanderzusetzen. Das
Landgericht habe es versäumt, trotz der Widersprüche zwischen dem Privat-
und dem Gerichtsgutachten auch den Privatgutachter anzuhören oder ein wei-
teres, von ihr beantragtes Sachverständigengutachten einzuholen, hilfsweise
den gerichtlichen Sachverständigen mit einer Ergänzung seines Gutachtens zu
beauftragen.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht die Beru-
fung als unzulässig verworfen, weil sie nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen
Form begründet worden sei. Die Berufungsbegründung zeige nicht auf, dass
die Entscheidung des Landgerichts auf einer unzureichenden Würdigung und
Auseinandersetzung mit dem Privatgutachten beruhe. Es seien auch keine
konkreten Anhaltspunkte dargelegt, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollstän-
digkeit der Tatsachenfeststellung des Landgerichts begründeten und deshalb
eine erneute Feststellung geböten. Nicht ersichtlich sei, welche Feststellungen
angegriffen würden und welche Folgerungen daraus zu ziehen seien. Das
Landgericht habe sich erkennbar mit dem Gutachten von Dr. C. auseinander-
gesetzt. Es habe den gerichtlichen Sachverständigen beauftragt, in einem Er-
gänzungsgutachten zu dem Privatgutachten Stellung zu nehmen. In der münd-
lichen Verhandlung sei der gerichtliche Sachverständige detailliert zu dem Pri-
vatgutachten befragt worden. Er habe nachvollziehbar erklärt, warum er keine
Abweichung von dem fachärztlichen Standard sehe. Selbst der Privatgutachter
beschreibe in seiner Zusammenfassung im Ergänzungsgutachten lediglich eine
Vielzahl von kleinen Problemen, auf die seiner Ansicht nach keine adäquate
Antwort gefunden worden sei. Gegen diesen Beschluss wendet sich die Kläge-
rin mit der Rechtsbeschwerde.
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II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, denn eine Ent-
scheidung des Senats ist jedenfalls zur Sicherung einer einheitlichen Recht-
sprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
a) Die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzt die Klägerin in ih-
rem Verfahrensgrundrecht auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG
in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Das Berufungsgericht hat die in
§ 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO beschriebenen Anforderungen an den Inhalt der Beru-
fungsbegründung überspannt und hierdurch der Klägerin den Zugang zur Beru-
fungsinstanz in unzulässiger Weise versagt.
aa) Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO hat, wenn die Berufung darauf
gestützt wird, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung
beruht (§ 513 Abs. 1, § 546 ZPO), die Berufungsbegründung die Bezeichnung
der Umstände zu enthalten, aus denen sich nach Ansicht des Rechtsmittelfüh-
rers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Ent-
scheidung ergibt. Da die Berufungsbegründung erkennen lassen soll, aus wel-
chen tatsächlichen und rechtlichen Gründen der Berufungskläger das angefoch-
tene Urteil für unrichtig hält, hat dieser - zugeschnitten auf den Streitfall und aus
sich heraus verständlich - diejenigen Punkte rechtlicher Art darzulegen, die er
als unzutreffend beurteilt ansieht, und dazu die Gründe anzugeben, aus denen
sich die Fehlerhaftigkeit jener Punkte und deren Erheblichkeit für die angefoch-
tene Entscheidung herleiten. Zur Darlegung der Fehlerhaftigkeit ist somit ledig-
lich die Mitteilung der Umstände erforderlich, die das Urteil aus der Sicht des
Berufungsführers in Frage stellen. Besondere formale Anforderungen werden
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nicht gestellt; für die Zulässigkeit der Berufung ist es insbesondere ohne Bedeu-
tung, ob die Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind (st.
Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2012 - III ZB 24/12, NJW 2012,
3581 Rn. 8 mit zahlreichen Nachweisen).
bb) Gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO hat der Berufungsführer kon-
krete Anhaltspunkte zu bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollstän-
digkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und
deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Da das Berufungsgericht an die
vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen grundsätzlich
gebunden ist (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), muss die Berufung, die den festgestell-
ten Sachverhalt angreifen will, eine Begründung dahin enthalten, warum die
Bindung an die festgestellten Tatsachen ausnahmsweise nicht bestehen soll
(vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Mai 2003 - XII ZB 165/02, VersR 2004, 1064,
1065 und vom 26. Februar 2009 - III ZB 67/08, juris Rn. 11). Konkrete Anhalts-
punkte, welche hiernach die Bindung des Berufungsgerichts an die vorinstanzli-
chen Feststellungen entfallen lassen, können sich insbesondere aus Verfah-
rensfehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sach-
verhalts unterlaufen sind (BGH, Urteil vom 12. März 2004 - V ZR 257/03, BGHZ
158, 269, 272).
b) Die Berufungsbegründung der Klägerin genügt sowohl den Erforder-
nissen von § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO als auch denen von § 520 Abs. 3
Satz 2 Nr. 3 ZPO.
aa) Die Klägerin hat geltend gemacht, das Landgericht sei unkritisch den
Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen gefolgt, ohne sich
mit den Einwendungen aus den vorgelegten Privatgutachten von Dr. C. ausei-
nanderzusetzen, der die Behandlung durch den Beklagten zu 1 in mehrerlei
Hinsicht als fehlerhaft bewertet habe. Darin liegt die Rüge des Verfahrensfeh-
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lers einer unvollständigen Beweiswürdigung (Verstoß gegen § 286 ZPO).
bb) Mit dieser Rüge hat die Klägerin hinreichend konkrete Anhaltspunkte
aufgezeigt, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entschei-
dungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststel-
lung gebieten können. Das Gericht hat in Arzthaftungsprozessen die Pflicht,
sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und
auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Wider-
spruch zum Gerichtsgutachten ergibt (st. Rspr., vgl. etwa Senatsurteile vom
14. Dezember 1993 - VI ZR 67/93, VersR 1994, 480, 482; vom 10. Mai 1994
- VI ZR 192/93, VersR 1994, 984, 986; vom 9. Januar 1996 - VI ZR 70/95,
VersR 1996, 647, 648; vom 24. September 1996 - VI ZR 303/95, VersR 1996,
1535, 1536; vom 28. April 1998 - VI ZR 403/96, VersR 1998, 853, 854; vom
10. Oktober 2000 - VI ZR 10/00, VersR 2001, 525, 526; vom 16. Januar 2001
- VI ZR 408/99, VersR 2001, 783, 784 und vom 23. März 2004 - VI ZR 428/02,
VersR 2004, 790, 791; Senatsbeschluss vom 21. Januar 2009 - VI ZR 170/08,
VersR 2009, 499 Rn. 7). Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das
im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständi-
gen steht, so ist vom Tatrichter besondere Sorgfalt gefordert. Er darf in diesem
Fall - wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich be-
stellter Sachverständiger - den Streit der Sachverständigen nicht dadurch ent-
scheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begrün-
dung einem von ihnen den Vorzug gibt (BGH, Urteile vom 22. September 2004
- IV ZR 200/03, VersR 2005, 676, 677 f. und vom 24. September 2008 - IV ZR
250/06, VersR 2008, 1676 Rn. 11, jeweils mwN).
cc) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts waren nähere Dar-
legungen zu Zweifeln an den getroffenen Feststellungen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1
ZPO) auch nicht deshalb geboten, weil das Landgericht den gerichtlichen
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Sachverständigen beauftragt gehabt habe, in einem Ergänzungsgutachten zu
dem Privatgutachten Stellung zu nehmen, und der Sachverständige in der
mündlichen Verhandlung detailliert zu dem Privatgutachten befragt worden sei.
Das Ergänzungsgutachten und das Ergebnis der mündlichen Erörterung mögen
für das Gericht überzeugend gewesen sein. In den Entscheidungsgründen des
landgerichtlichen Urteils wird dazu jedoch nichts ausgeführt. Insbesondere ist
nicht erkennbar, weshalb das Gericht hinsichtlich der entscheidenden medizini-
schen Fragen dem gerichtlichen Gutachten den Vorzug gegenüber dem Privat-
gutachten gegeben hat. Diesen Mangel hat die Klägerin mit der Berufungsbe-
gründung gerügt. Die Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung und de-
ren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben, sind mit dieser
Rüge hinreichend bezeichnet. Damit genügte die Berufungsbegründung den
Anforderungen für die Zulässigkeit dieses Rechtsmittels (§ 520 Abs. 3 Satz 2
Nr. 2 und 3 ZPO). Für die Zulässigkeit der Berufung ist dagegen nicht erforder-
lich, dass die Berufungsbegründung inhaltlich schlüssig ist und begründeten
Anlass für eine erneute und vom Erstgericht abweichende Würdigung (Feststel-
lung) gibt (BGH, Beschluss vom 13. September 2012 - III ZB 24/12, aaO
Rn. 11).
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3. Nach alledem durfte das Berufungsgericht die Berufung nicht als unzu-
lässig verwerfen, so dass der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sa-
che an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist, damit es über die Begrün-
detheit der Berufung befindet (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Galke
Diederichsen
Pauge
von Pentz
Offenloch
Vorinstanzen:
LG Gießen, Entscheidung vom 30.11.2012 - 3 O 261/09 -
OLG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 03.06.2013 - 8 U 1/13 -
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