Urteil des BGH vom 10.01.2001

BGH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, öffentliche verhandlung, akten, zpo, protokoll, verkündung, formular, zustellung, berufungsfrist, form)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 187/00
vom
10. Januar 2001
in dem Rechtsstreit
- 2 -
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Januar 2001 durch den
Vorsitzenden Richter Dr. Blumenröhr und die Richter Dr. Krohn, Dr. Hahne,
Gerber und Prof. Dr. Wagenitz
beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Beschluß des
12. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am
Main vom 9. August 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten
des Beschwerdeverfahrens, an das Oberlandesgericht zurück-
verwiesen.
Beschwerdewert: 12.000 DM.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt die Feststellung einer Schadensersatzverpflichtung
der Beklagten wegen Verletzung eines Vertrages über die Errichtung einer
Plakatanschlagtafel auf dem Grundstück der Beklagten.
Am 18. Oktober 1999 fand vor dem Einzelrichter beim Landgericht, an
den der Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen war, eine mündliche Ver-
handlung mit den Prozeßbevollmächtigten der Parteien statt. Das Gericht be-
- 3 -
schloß gemäß der eidesstattlichen Versicherung der Prozeßbevollmächtigten
der Klägerin, daß eine Entscheidung am Ende der Sitzung ergehen sollte, nach
dem Inhalt des Verhandlungsprotokolls vom 18. Oktober 1999 (in dem als an-
wesender Vertreter der Klägerin Rechtsanwalt W. aufgeführt ist, während nach
eidesstattlicher Versicherung von Rechtsanwältin R. diese den Termin wahrge-
nommen hat), daß Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den
22. November 1999 bestimmt wurde. In den Akten befindet sich - im Anschluß
an das genannte Verhandlungsprotokoll - ein von dem Einzelrichter unter-
schriebenes Formular, in dem das Aktenzeichen des vorliegenden Verfahrens
ausgefüllt und im übrigen unter dem Vordruck "Niederschrift über die öffentli-
che Verhandlung der 3. Zivilkammer" sowie der Angabe des Richters die vor-
gedruckten Zeilen: "Es wurde das anliegende Urteil unter Bezugnahme auf die
Entscheidungsformel verkündet", angekreuzt sind. Ein Datum trägt das For-
mular nicht. Danach folgt in den Akten ein in vollständiger Form abgefaßtes
Urteil, das den vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unterschriebenen
Vermerk trägt: "Zur Geschäftsstelle gelangt am 21. Juni 2000". Darüber befin-
det sich der ebenfalls von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unter-
schriebene Verkündungsvermerk "gemäß Sitzungsniederschrift verkündet am
22. Nov. 1999". Das Urteil wurde am 29. Juni 2000 zur Zustellung hinausgege-
ben und der Klägerin, deren Klage abgewiesen wurde, zu Händen ihrer Pro-
zeßbevollmächtigten am 10. Juli 2000 zugestellt.
Am 24. Juli 2000 legte die Klägerin, vertreten durch ihren bei dem
Oberlandesgericht zugelassenen Prozeßbevollmächtigten, gegen das Urteil
Berufung ein und beantragte, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
gen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren. Zur Begründung des
Wiedereinsetzungsgesuchs trug sie - unter Vorlage einer eidesstattlichen Ver-
sicherung ihrer erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten - vor: Ihre Prozeßbe-
- 4 -
vollmächtigte habe seit dem 18. Oktober 1999 durch schriftliche Sachstand-
sanfragen vom 24. Januar, 17. März und 2. Juni 2000 sowie durch mehrfache
telefonische Anfragen bei der Geschäftsstelle versucht zu erfahren, welche
Entscheidung am 18. Oktober 1999 nach dem Ende der Sitzung verkündet
worden sei. Das Sitzungsprotokoll, aus dem sie den auf den 22. November
1999 bestimmten Verkündungstermin ersehen habe, sei ihr, auf Intervention
von Rechtsanwalt W., erstmals am 21. Juli 2000 per Telefax übermittelt wor-
den. Bei ihren telefonischen Rückfragen bei der Geschäftsstelle habe die Pro-
zeßbevollmächtigte stets nur erfahren, die Akten lägen nicht vor, sondern be-
fänden sich noch bei dem Richter. Dieser sei trotz 30 bis 40 Anwahlversuchen
telefonisch nicht erreichbar gewesen.
Das Oberlandesgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewie-
sen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet
diese sich mit der form- und fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde.
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Klägerin hat die Berufungsfrist entge-
gen der Auffassung des Oberlandesgerichts nicht versäumt.
Die Berufungsfrist beginnt nach § 516 ZPO mit der Zustellung des in
vollständiger Form abgefaßten Urteils, spätestens mit dem Ablauf von fünf Mo-
naten nach der Verkündung. Hier hat die Frist erst mit der Zustellung des Ur-
teils am 10. Juli 2000 zu laufen begonnen. Die Einlegung der Berufung am
24. Juli 2000 war daher rechtzeitig.
- 5 -
Ein früherer Fristbeginn könnte nur in Frage kommen, wenn das landge-
richtliche Urteil schon vor dem 10. Juli 2000 verkündet worden wäre. Das kann
jedoch nicht festgestellt werden.
Die in den Akten befindliche Urschrift des Urteils trägt zwar den nach
§ 315 Abs. 3 ZPO vorgeschriebenen, von dem Urkundsbeamten der Ge-
schäftsstelle unterschriebenen Vermerk, daß das Urteil am 22. November 1999
verkündet worden sei. Damit ist die Verkündung indessen nicht bewiesen.
Denn nach § 165 Satz 1 ZPO kann die Beachtung der für die mündliche Ver-
handlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, zu denen nach § 160 Abs. 3 Nr. 7
ZPO die Verkündung von Entscheidungen gehört, nur durch das Protokoll be-
wiesen werden (vgl. hierzu Senatsbeschluß vom 7. Februar 1990 - XII ZB 6/90
= BGHR ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 7 Urteil 2 = FamRZ 1990, 507, m.w.N). Das bei
den Akten befindliche Formular eines Verkündungsprotokolls beweist die Ver-
kündung eines "anliegenden Urteils" am 22. November 1999 jedoch nicht. Die
Beweiskraft dieser Urkunde erstreckt sich von vornherein nicht auf einen be-
stimmten Verkündungstermin, da die Urkunde kein Datum enthält. Darüber
hinaus ist die Beweiskraft dadurch beeinträchtigt (§ 419 ZPO), daß nach dem
Protokoll "das anliegende Urteil" - unter Bezugnahme auf die Entscheidungs-
formel - verkündet wurde; dem Protokoll ist aber keine Anlage, auch keine Ent-
scheidungsformel,
- 6 -
beigefügt. Das in den Akten im Anschluß an das Protokoll abgeheftete voll-
ständige Urteil ist weder als Anlage zu dem Protokoll bezeichnet, noch befand
es sich - nach dem Vermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle - vor
dem 21. Juni 2000 auf der Geschäftsstelle.
Blumenröhr Krohn Hahne
Gerber Wagenitz