Urteil des BGH vom 19.04.2007
BGH (in betrunkenem zustand, wider besseres wissen, hauptverhandlung, beurteilung, strafkammer, stpo, zeitpunkt, zweifel, aufgabe, begründung)
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 23/07
vom
19. April 2007
in der Strafsache
gegen
wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19. April
2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Athing,
Dr. Ernemann,
Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des
Landgerichts Bochum vom 28. Juni 2006 wird verworfen.
2.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmit-
tels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen
notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexu-
ellen Missbrauchs eines Kindes in 201 Fällen und des sexuellen Missbrauchs
eines Kindes in einem weiteren Fall aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
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I.
Dem Angeklagten lag zur Last, seit 1991 bis zum 26. Januar 1996 mit
seiner am 27. Januar 1982 geborenen Tochter Nadine W. , der Nebenklä-
gerin, in mindestens 200 Fällen den Beischlaf vollzogen und in mindestens ei-
nem weiteren Fall seinen Finger in die Scheide des Kindes eingeführt zu haben.
Ferner habe er zu einem nicht mehr bestimmbaren Zeitpunkt im Jahre 1991 an
der Scheide des Kindes geleckt.
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Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten und angegeben, im Tat-
zeitraum keine sexuellen Handlungen an seiner Tochter vorgenommen zu ha-
ben. Er habe lediglich einmal, allerdings als die Nebenklägerin schon 17 oder
18 Jahre alt gewesen sei, in betrunkenem Zustand mit ihr den Geschlechtsver-
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kehr durchgeführt. Das Landgericht hat diese Einlassung nicht für widerlegbar
angesehen. Den Angaben der Nebenklägerin ist es nicht gefolgt. Zur Begrün-
dung hat es im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin in der
Hauptverhandlung in mehreren Punkten bewusst unwahre Angaben gemacht
habe und ihre Aussage überdies in Teilen widersprüchlich und zu den Tatvor-
würfen durchweg detailarm gewesen sei. Zudem habe sie bereits im Jahre
2000 ihren Vater des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Ein daraufhin einge-
leitetes Ermittlungsverfahren sei jedoch gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt
worden, nachdem die Nebenklägerin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht
Gebrauch gemacht habe und über ihre Schwester der Polizei habe mitteilen
lassen, sie - die Nebenklägerin - habe gelogen und der sexuelle Missbrauch
durch den Angeklagten sei von ihr erfunden gewesen.
Gegen die Freisprechung des Angeklagten wendet sich die Nebenkläge-
rin mit ihrer auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Re-
vision. Dem Rechtsmittel bleibt der Erfolg versagt.
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II.
1. Die zulässig (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Rügerecht 3) erhobene
Verfahrensrüge, die sich gegen die Ablehnung eines Beweisantrags der Staats-
anwaltschaft auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zum
Beweis der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin wendet, ist unbe-
gründet. Die Strafkammer hat den Beweisantrag mit der tragfähigen Begrün-
dung, selbst über die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung der zum Zeit-
punkt der Hauptverhandlung 23 bzw. 24 Jahre alten Zeugin zu verfügen, abge-
lehnt.
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Die Würdigung von Zeugenaussagen und die Beurteilung ihrer Glaub-
würdigkeit ist Aufgabe des Gerichts. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass
Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsycholo-
gischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussa-
gen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist und dass sie diese Sach-
kunde den beteiligten Laienrichtern vermitteln können.
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Besonderheiten, die hier ausnahmsweise die Hinzuziehung eines Sach-
verständigen erforderlich gemacht haben könnten (vgl. hierzu BGH NStZ-RR
2006, 241), sind nicht ersichtlich. Solche haben sich insbesondere nicht daraus
ergeben, dass Gegenstand der Aussage Straftaten gegen die sexuelle Selbst-
bestimmung sind und die Nebenklägerin zur Zeit der vorgeworfenen Taten zwi-
schen neun und 13 Jahre alt, mithin im kindlichen Alter war. Auch eine - wie
hier - nicht als Jugendschutzkammer tätige allgemeine Strafkammer verfügt
regelmäßig über die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung eines im Zeitpunkt
der Hauptverhandlung erwachsenen, zudem, was die Strafkammer rechtsfeh-
lerfrei festgestellt hat, mit zumindest durchschnittlichen intellektuellen Fähigkei-
ten ausgestatteten Opfers einer Sexualstraftat. Zwar hat sich mit Blick auf die
Aussageentstehung und das Aussageverhalten der Nebenklägerin die Beweis-
würdigung im vorliegenden Fall als durchaus schwierig erwiesen. Indes gingen
die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Beweiswürdigung noch nicht
über das Maß hinaus, das vom Tatrichter regelmäßig verlangt wird.
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2. Die Freisprechung des Angeklagten hält auch der sachlich-rechtlichen
Nachprüfung stand.
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a) Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel
eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt
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grundsätzlich allein dem Tatrichter. Seine Beweiswürdigung hat das Revisions-
gericht regelmäßig hinzunehmen. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu
ersetzen oder sie nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine ande-
re Bewertung der Beweise näher gelegen hätte. Kann der Tatrichter vorhande-
ne, wenn auch nur geringe Zweifel nicht überwinden, so kann das Revisionsge-
richt eine solche Entscheidung nur im Hinblick auf Rechtsfehler überprüfen (st.
Rspr.; etwa BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33).
b) Einen derartigen durchgreifenden Rechtsfehler weist das angefochte-
ne Urteil nicht auf. Das Landgericht hat eine eingehende Prüfung der den An-
geklagten belastenden und entlastenden Indizien vorgenommen und diese
- entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - auch in ihrer Gesamt-
heit gewürdigt (UA 13, 15, 20 und 23). Dass es sich im Ergebnis nicht von der
Zuverlässigkeit der belastenden Angaben der Nebenklägerin zu überzeugen
und deshalb Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht zu überwinden
vermocht hat, ist deshalb aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
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Das Landgericht hat sich bei der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aus-
sage der Nebenklägerin erkennbar davon leiten lassen, dass diese im Zusam-
menhang mit den gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfen sowohl in zu-
rückliegender Zeit als auch in der Hauptverhandlung bewusst unwahre Anga-
ben gemacht hat. Sie hat nicht nur ihre Angaben, die zur Einleitung des frühe-
ren Ermittlungsverfahrens gegen den Angeklagten im Jahre 2000/2001 führten,
wieder zurückgenommen und sich selbst der Lüge bezichtigt, sondern sie hat
auch in der Hauptverhandlung wahrheitswidrig behauptet, sich auf Empfehlung
ihrer Therapeutin nach ihrem Auszug aus der väterlichen Wohnung nochmals
zum Angeklagten ins Bett gelegt zu haben, um "zu testen, ob er immer noch
etwas von ihr wolle". Ferner hat sie falsche Angaben zu ihren Kontakten mit der
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Lebensgefährtin ihres Vaters und zu einem angeblichen sexuellen
Übergriff durch einen Bekannten gemacht. Stellt sich jedoch in einem Fall, in
welchem - wie hier - Aussage gegen Aussage steht, heraus, dass die Hauptbe-
lastungszeugin bewusst unwahre Angaben gemacht hat, sind strenge Anforde-
rungen an die Beweiswürdigung zu stellen und der Tatrichter muss außerhalb
der Zeugenaussage liegende gewichtige Umstände feststellen, die es ihm er-
möglichen, der Zeugenaussage dennoch zu glauben (BGHSt 44, 153, 159; 44,
256, 257).
Dass der Tatrichter hier solche Umstände nicht in ausreichendem Maße
zu erkennen vermocht hat, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Das
Landgericht hat vielmehr zu Recht auf die Detailarmut der Schilderungen der
Nebenklägerin auch gegenüber dritten Personen, auf Widersprüche in ihren
Aussagen jedenfalls zum Randgeschehen der Taten und auf ihr ambivalentes
Verhalten gegenüber dem Angeklagten verwiesen. Es hat ferner hervorgeho-
ben, dass die Nebenklägerin auf Grund der von ihr als tiefe Verletzung empfun-
denen Zurückweisung durch ihren Vater ein Motiv zur (erneuten) Anzeigeerstat-
tung gehabt habe. Außerdem verfüge sie über eine ausreichende Phantasiebe-
gabung, was sich daran zeige, dass sich die Nebenklägerin bereits im Jahre
2002 daran beteiligt habe, einen Bekannten wider besseres Wissen eines ge-
gen sie gerichteten sexuellen Übergriffs zu bezichtigen und diesen wahrheits-
widrigen Sachverhalt auch in der jetzigen Hauptverhandlung in Übereinstim-
mung mit ihren diesbezüglichen früheren Angaben wiederholt habe.
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Diesen Umständen hat die Strafkammer Beweisanzeichen gegenüber-
gestellt, die für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin sprechen
können. Sie hat dabei auch in noch ausreichender Weise die Aussagegenese
dargestellt und bedacht, dass der Angeklagte eingeräumt hat, mit der Neben-
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klägerin einmal den Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben, als diese 17 bzw.
18 Jahre alt gewesen sei. Dass sich das Landgericht gleichwohl in Anbetracht
des Aussageverhaltens der Nebenklägerin nicht von der Glaubhaftigkeit ihrer
Angaben zu überzeugen vermocht hat, ist deshalb vom Revisionsgericht hinzu-
nehmen.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible