Urteil des BGH vom 03.06.2014

BGH: wiedereinsetzung in den vorigen stand, prozesshandlung, berufungsfrist, berufungsschrift, verfahrensordnung, absicht, zugang, rechtsschutz, räumung, wohnung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VIII ZB 23/14
vom
3. Juni 2014
in dem Rechtsstreit
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. Juni 2014 durch die Rich-
terin Dr. Milger als Vorsitzende, die Richterin Dr. Hessel, den Richter
Dr. Schneider, die Richterin Dr. Fetzer sowie den Richter Dr. Bünger
beschlossen:
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
gen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung
der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer
des Landgerichts Dresden vom 20. Dezember 2013 gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der vorgenannte
Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Dresden aufge-
hoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
gen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung
der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Dresden vom
3. Mai 2013 gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kos-
ten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht
zurückverwiesen.
Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 6.272 €
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Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 3. Mai 2013, zuge-
stellt am 23. Mai 2013, zur Räumung der von ihr gemieteten Wohnung und zu
Betriebskostennachzahlungen verurteilt. Am 24. Juni 2013 (Montag) ging ein
von der Beklagten persönlich unterzeichnetes Prozesskostenhilfegesuch bei
dem Berufungsgericht ein.
Mit einem als "Berufungsbegründung" bezeichneten Schriftsatz vom
17. Oktober 2013 stellte ein neuer Prozessbevollmächtigter der Beklagten Beru-
fungsanträge und begründete das Rechtsmittel. Durch Beschluss vom 22. Ok-
tober 2013, zugestellt am 24. Oktober 2013, bewilligte das Berufungsgericht der
Beklagten Prozesskostenhilfe.
Nach Hinweisen des Berufungsgerichts vom 12. und 25. November
2013, dass kein Wiedereinsetzungsgesuch eingegangen und die Berufungsein-
legung nicht nachgeholt worden sei, legte der Prozessbevollmächtigte der Be-
klagten mit Schriftsatz vom 26. November 2013 Berufung ein und begehrte
Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag mit Beschluss
vom 20. Dezember 2013 zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig ver-
worfen. Zur Begründung hat es darauf abgestellt, dass die Beklagte bis zum
7. November 2013 kein Wiedereinsetzungsgesuch eingereicht und die Einle-
gung der Berufung nicht nachgeholt habe.
Der Beschluss des Berufungsgerichts vom 20. Dezember 2013 wurde
der Beklagten am 6. Januar 2014 zugestellt. Mit Schreiben vom 1. Februar
2014, eingegangen am 4. Februar 2014, hat die Beklagte Prozesskostenhilfe
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für eine beabsichtigte Rechtsbeschwerde beantragt. Der Senat hat der Beklag-
ten mit Beschluss vom 1. April 2014, der ihrem zweitinstanzlichen Prozessbe-
vollmächtigten am 7. April 2014 zugestellt worden ist, Prozesskostenhilfe bewil-
ligt. Am 9. April 2014 hat die Beklagte Rechtsbeschwerde eingelegt und Wie-
dereinsetzung gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begrün-
dung der Rechtsbeschwerde beantragt. Mit Schriftsatz vom 29. April 2014 hat
die Beklagte die Rechtsbeschwerde begründet.
II.
Der Beklagten, die innerhalb der laufenden Frist zur Einlegung der
Rechtsbeschwerde einen ordnungsgemäßen Prozesskostenhilfeantrag unter
Beifügung vollständiger Unterlagen über ihre persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse gestellt hat, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die
Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde
zu bewilligen (§ 233 ZPO). Denn sie war im Hinblick auf ihre Bedürftigkeit ohne
ihr Verschulden an der Einhaltung der Fristen zur Einlegung und Begründung
der Rechtsbeschwerde gehindert und hat die versäumten Rechtshandlungen
nach Wegfall des Hindernisses innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist (§ 234
Abs. 1 ZPO) nachgeholt.
III.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des ange-
fochtenen Beschlusses, zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich
der Fristen zur Einlegung und Begründung der Berufung sowie zur Zurückver-
weisung der Sache an das Berufungsgericht.
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1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522
Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Auch die besonderen Zuläs-
sigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO liegen vor, weil eine Entschei-
dung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Recht-
sprechung erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die angegriffene Ent-
scheidung verletzt den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch der Beklagten
auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaats-
prinzip). Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es den Gerichten, den Parteien
den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzu-
mutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschwe-
ren (st. Rspr., z.B. Senatsbeschlüsse vom 16. November 2010 - VIII ZB 55/10,
NJW 2011, 230 Rn. 10; vom 5. Februar 2013 - VIII ZB 38/12, FamRZ 2013, 696
Rn. 8; vom 14. Januar 2014 - VIII ZB 40/13, juris Rn. 4; jeweils mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Beklagte
nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch Beschluss vom 22. Oktober
2013, zugestellt am 24. Oktober 2013, bis zum Ablauf der Wiedereinsetzungs-
frist am 7. November 2013 (§ 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO) weder Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist des § 517 ZPO
beantragt noch die versäumte Prozesshandlung nachgeholt habe.
a) Eine Nachholung der versäumten Prozesshandlung gemäß § 236
Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 ZPO war vorliegend entbehrlich, weil diese, wenn auch
verspätet, bereits vor dem Beginn der Wiedereinsetzungsfrist am 24. Oktober
2013 vorgenommen worden war (vgl. hierzu BGH, Urteile vom 17. Januar 2013
- III ZR 168/12, NJW-RR 2013, 692 Rn. 16; vom 26. Januar 1978 - VII ZB
20/77, VersR 1978, 449). Bereits mit dem als "Berufungsbegründung" bezeich-
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neten Schriftsatz vom 17. Oktober 2013 hat die Beklagte das Rechtsmittel nicht
nur begründet, sondern zugleich - unbedingt - Berufung gegen das Urteil des
Amtsgerichts einlegt (§ 519 Abs. 1, § 520 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Der Schriftsatz
vom 17. Oktober 2013 enthält nicht nur die Bezeichnung des Urteils, gegen das
sich die Beklagte wendet (§ 519 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Er macht auch zweifelsfrei
deutlich, dass gegen das Urteil Berufung eingelegt werden soll (§ 519 Abs. 2
Nr. 2 ZPO). Entscheidend ist, dass der Erklärung die Absicht, das erstinstanzli-
che Urteil einer Nachprüfung durch die höhere Instanz zu unterstellen, eindeutig
zu entnehmen ist (BGH, Beschlüsse vom 17. Juli 2008 - V ZB 151/07, FamRZ
2008, 1926 Rn. 9; vom 23. Juni 2005 - I ZB 15/05, MDR 2006, 110; vom
19. November 1997 - XII ZB 157/97, NJW-RR 1998, 507; vom 25. November
1986 - VI ZB 12/86, NJW 1987, 1204 unter II). Diesen Anforderungen wird der
Schriftsatz vom 17. Oktober 2013 gerecht. Die Bezeichnung als "Berufungsbe-
gründung" steht der Beurteilung nicht entgegen, dass es sich zugleich um eine
Berufungsschrift handelt, da eine wirksame Berufungsschrift nicht davon ab-
hängt, dass sie ausdrücklich als "Berufung" bezeichnet ist (BGH, Beschlüsse
vom 17. Juli 2008 - V ZB 151/07, aaO Rn. 11; vom 25. November 1986 - VI ZB
12/86, aaO).
b) Es gereicht der Beklagten nicht zum Nachteil, dass sie nicht rechtzei-
tig Wiedereinsetzung in die versäumten Fristen zur Einlegung und Begründung
der Berufung beantragt hat. Aufgrund der vorgenannten Umstände kann gemäß
§ 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt
werden. Eine von Amts wegen statthafte Wiedereinsetzung kann auch das
Rechtsbeschwerdegericht im Rahmen des bei ihm anhängigen Beschwerdever-
fahrens aussprechen, wenn die Wiedereinsetzung, wie hier, nach dem Akten-
stand ohne Weiteres zu gewähren ist (vgl. BGH, Urteil vom 17. Januar 2013
- III ZR 168/12, aaO Rn. 21; BGH, Beschlüsse vom 8. Oktober 1992 - V ZB
6/92, VersR 1993, 713; vom 9. Juli 1985 - VI ZB 8/85, NJW 1987, 2650 unter II
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2; Urteil vom 4. November 1981 - IVb ZB 625/80, NJW 1982, 1873 unter II 1).
Davon hat der Senat Gebrauch gemacht.
Dr. Milger Dr. Hessel Dr. Schneider
Dr. Fetzer Dr. Bünger
Vorinstanzen:
AG Dresden, Entscheidung vom 03.05.2013 - 144 C 7803/12 -
LG Dresden, Entscheidung vom 20.12.2013 - 4 S 328/13 -