Urteil des BGH vom 18.02.2010
BGH (verordnung, costa rica, ausgleichszahlung, gerichtshof, zahlung, flug, zulassung, höhe, entschädigung, verhandlung)
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Xa ZR 164/07
Verkündet am:
18. Februar 2010
Anderer
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der Xa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 18. Februar 2010 durch den Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richte-
rin Mühlens und die Richter Dr. Berger, Dr. Grabinski und Hoffmann
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das am 7. November 2007 ver-
kündete Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt im
Umfang der nachfolgenden Änderung des Ersturteils aufgehoben.
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 12. Juli 2007 verkündete
Urteil des Amtsgerichts Rüsselsheim abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, über die in den Vorinstanzen zugespro-
chenen Leistungen hinaus an die Klägerin 400,-- Euro nebst Zinsen
hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
seit dem 1. Juli 2007 zu zahlen.
Die weitergehenden Rechtsmittel werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte 7/10 und die
Klägerin 3/10.
Von Rechts wegen
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Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von der beklagten Charterfluggesellschaft unter an-
derem eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine
gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug-
gäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspä-
tung von Flügen (ABl. EG L 46 S. 1; im Folgenden: Verordnung), weil sie mit
erheblicher Verspätung abgeflogen und mit erheblicher Verspätung am Zielflug-
hafen angekommen ist.
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Die Klägerin buchte bei der Beklagten einen Flug von Frankfurt am Main
nach Costa Rica und zurück. Der für den 30. Januar 2006 gebuchte Rückflug
hatte bei Start und Landung eine Verspätung von rund 41 Stunden. Die Kläge-
rin hat deshalb eine Ausgleichszahlung in Höhe von 600,-- Euro, eine Minde-
rung des Flugpreises um 200,-- Euro und Entschädigung wegen nutzlos aufge-
wendeter Urlaubszeit in Höhe von 150,-- Euro geltend gemacht. Die Beklagte
hat Klageabweisung beantragt.
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Das Amtsgericht hat der Klägerin lediglich den geltend gemachten Minde-
rungsbetrag von 200,-- Euro zuerkannt und hiervon eine vermeintliche Zahlung
der Beklagten in Höhe von 60,-- Euro abgezogen. Die weitergehende Klage hat
es abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht ihr ei-
nen weiteren Minderungsbetrag von 60,-- Euro zugesprochen. Die weiterge-
hende Berufung, mit der die Klägerin ihre Ansprüche auf Ausgleichszahlung
und Entschädigung weiterverfolgt hat, ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Be-
rufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren in vol-
lem Umfang weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
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Der Senat hat mit Rücksicht auf ein beim Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften anhängiges Vorlageverfahren mit Zustimmung der Parteien
zunächst von der Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung über
die Revision abgesehen. Der Gerichtshof hat in dem Vorlageverfahren mit Urteil
vom 19. November 2009 (C-402/07, RRa 2009, 282 = NJW 2010, 43) wie folgt
entschieden:
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1.
Art. 2 Buchst. l sowie die Art. 5 und 6 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine
gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für
Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer
Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG)
Nr. 295/91 sind dahin auszulegen, dass ein verspäteter Flug unabhängig
von der - auch erheblichen - Dauer der Verspätung nicht als annulliert ange-
sehen werden kann, wenn er entsprechend der ursprünglichen Flugplanung
des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird.
2.
Die Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 sind dahin auszulegen,
dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des
Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt wer-
den können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Aus-
gleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäte-
ten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h.,
wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luft-
fahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen. Eine sol-
che Verspätung führt allerdings dann nicht zu einem Ausgleichsanspruch
zugunsten der Fluggäste, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen
kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurück-
geht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutba-
ren Maßnahmen ergriffen worden wären, also auf Umstände, die von dem
Luftfahrtunternehmen tatsächlich nicht zu beherrschen sind.
3.
Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ist dahin auszulegen, dass ein
bei einem Flugzeug aufgetretenes technisches Problem, das zur Annullie-
rung oder Verspätung eines Fluges führt, nicht unter den Begriff "außerge-
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wöhnliche Umstände" im Sinne dieser Bestimmung fällt, es sei denn, das
Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ur-
sache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luft-
fahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind.
Entscheidungsgründe:
Die nur wegen des Anspruchs auf Ausgleichszahlung zulässige Revision
hat in diesem Umfang teilweise Erfolg und führt insoweit zur Aufhebung des
Berufungsurteils und zur Verurteilung der Beklagten. Im Übrigen ist die Revision
als unzulässig zu verwerfen.
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A.
Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 1 ZPO unzulässig, soweit die Klä-
gerin den Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung wegen nutzlos aufgewen-
deter Urlaubszeit gemäß § 651f Abs. 2 BGB weiterverfolgt. Insoweit fehlt es an
der erforderlichen Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht.
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Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Zulassung der Revision be-
zieht sich lediglich auf den Anspruch auf Zahlung einer Ausgleichsleistung nach
Art. 7 der Verordnung. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Tenor des Beru-
fungsurteils, aber aus den Entscheidungsgründen.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann sich
die Eingrenzung einer Rechtsmittelzulassung auch aus den Entscheidungs-
gründen ergeben. Von einer beschränkten Zulassung der Revision ist regelmä-
ßig auszugehen, wenn die Rechtsfrage, die nach den Ausführungen in den Ent-
scheidungsgründen zur Zulassung geführt hat, nur für einen von mehreren pro-
zessualen Ansprüchen erheblich ist (BGHZ 153, 358, 360 ff. m.w.N.). Im Streit-
fall ist die vom Berufungsgericht als klärungsbedürftig angesehene Frage, wann
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eine Annullierung im Sinne von Art. 5 der Verordnung vorliegt, nur für den gel-
tend gemachten Ausgleichsanspruch erheblich, nicht hingegen für den auf
§ 651f Abs. 2 BGB gestützten Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung we-
gen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit. Damit erstreckt sich die Zulassung der
Revision nicht auf diesen Anspruch.
Die vom Berufungsgericht verwendete Formulierung, umstritten seien "ins-
besondere" die Frage der Auslegung des Verspätungsbegriffs und dessen Ab-
grenzung zur Annullierung, führt zu keiner anderen Beurteilung. Diesen Ausfüh-
rungen lässt sich lediglich entnehmen, dass das Berufungsgericht weitere Fra-
gen im Zusammenhang mit der Auslegung der Verordnung für klärungsbedürf-
tig gehalten und die Revision auch im Hinblick darauf zugelassen hat. Anhalts-
punkte dafür, dass das Berufungsgericht die Revision auch zur Klärung der
Frage, ob § 651f Abs. 2 BGB auf Beförderungsverträge anwendbar ist, zulas-
sen wollte, ergeben sich daraus nicht.
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B. Die begehrte Ausgleichszahlung steht der Klägerin unter dem Ge-
sichtspunkt der Verspätung eines gebuchten Fluges zu.
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I.
Die Annahme des Berufungsgerichts, die Voraussetzungen für die
begehrten Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung seien nicht
erfüllt, hält der Nachprüfung nicht stand.
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1.
Eine Annullierung des Flugs im Sinne von Art. 5 der Verordnung hat
allerdings, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, nicht stattge-
funden. Nach dem Urteil des Gerichtshofs kann ein verspäteter Flug unabhän-
gig von der - auch erheblichen - Dauer der Verspätung nicht als annulliert an-
gesehen werden, wenn er entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des
Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird (aaO Tz. 39). So verhält es sich im
Streitfall. Der Flug von Costa Rica nach Frankfurt ist trotz der eingetretenen
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Verzögerung entsprechend der ursprünglichen Flugplanung durchgeführt wor-
den.
2. Wegen des wesentlich verspäteten Abflugs kommt gleichwohl ein
Anspruch auf die in Art. 7 der Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung in
Betracht.
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a)
Der Flug hat etwa 41 Stunden später als geplant begonnen; die Vor-
aussetzungen des Art. 6 Abs. 1 der Verordnung für die Annahme einer von der
Verordnung erfassten (großen) Verspätung lagen daher ohne weiteres vor.
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b) In einem solchen Fall steht dem Fluggast, sofern auch die weiteren
Voraussetzungen für eine Ausgleichsleistung erfüllt sind, der in Art. 7 der Ver-
ordnung vorgesehene Ausgleichsanspruch zu, wenn er wegen des verspäteten
Fluges sein Endziel nicht früher als drei Stunden nach der ursprünglich geplan-
ten Ankunftszeit erreicht (EuGH aaO Tz. 61). Auch diese Voraussetzung ist oh-
ne weiteres erfüllt, denn das Endziel der Klägerin wurde ebenfalls etwa
41 Stunden später als geplant erreicht. Damit liegen im Streitfall die vom Ge-
richtshof aufgestellten Anforderungen für einen Ausgleichsanspruch wegen ei-
ner wie eine Annullierung zu behandelnden großen Verspätung vor.
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II.
Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sa-
che selbst entscheiden, da der Rechtsstreit auf der Grundlage des vom Beru-
fungsgericht festgestellten Sachverhalts zur Endentscheidung reif ist.
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1.
Der Ausgleichsanspruch ist nicht entsprechend Art. 5 Abs. 3 der Ver-
ordnung ausgeschlossen. Außergewöhnliche Umstände, die der Entstehung
eines Ausgleichsanspruchs entgegenstehen könnten, sind nicht vorgetragen.
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Entgegen der von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vertrete-
nen Auffassung besteht auch keine Veranlassung, den Rechtsstreit an das Be-
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rufungsgericht zurückzuverweisen, um der Beklagten Gelegenheit zu geben, zu
den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung vorzutragen. Die Par-
teien haben in den Tatsacheninstanzen darüber gestritten, ob die Beklagte im
Streitfall zu einer Ausgleichszahlung wegen Annullierung des Flugs verpflichtet
ist. Die Beklagte war demgemäß gehalten, auch zu den Voraussetzungen vor-
zutragen, unter denen die Verpflichtung zu einer solchen Ausgleichszahlung
ausgeschlossen ist, wenn sie sich damit verteidigen wollte. Für den Ausgleichs-
anspruch wegen großer Verspätung gelten keine anderen Voraussetzungen.
2.
Die Beklagte schuldet danach eine Ausgleichszahlung in der in Art. 7
Abs. 1 Buchst. c der Verordnung bestimmten Höhe von 600,-- Euro. Da der
Klägerin vom Berufungsgericht - unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Min-
derung des Flugpreises - bereits ein Betrag von 200,-- Euro für die Flugverspä-
tung zuerkannt worden ist, ist die Beklagte zur Zahlung weiterer 400,-- Euro zu
verurteilen. Ein Mangel der Flugleistung, der einen zusätzlichen Minderungsan-
spruch begründen könnte, liegt in einer Verspätung regelmäßig nicht (Sen.Urt.
v. 28.5.2009 - Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 = NJW 2009, 2743); auch im
Streitfall ist für einen Mangel nichts dargetan.
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Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus § 288 Abs. 1 BGB.
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3.
Zu der von der Beklagten angeregten Vorlage der Sache an den Ge-
richtshof der Europäischen Union sieht der Senat keine Veranlassung.
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Der Bundesgerichtshof hat dem Gerichtshof die Streitsache X ZR 95/06
zur Vorabentscheidung vorgelegt, weil er es nicht für zweifelsfrei gehalten hat,
dass den Fluggästen eines wesentlich verspäteten Fluges, wie er im Streitfall
vorliegt, nach der Verordnung kein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zusteht.
Diese Unklarheit hinsichtlich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist da-
durch beseitigt worden, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. Novem-
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ber 2009 die Verordnung dahin ausgelegt hat, dass auch in einem solchen Fall
Ausgleichsleistungen zu erbringen sind. Das Urteil selbst wirft jedenfalls keine
für den Streitfall relevanten neuen Auslegungsfragen auf, die der Senat nicht
ohne erneute Vorlage beantworten könnte.
Soweit sich das Urteil nicht ausdrücklich mit der Frage befasst, ob das
vom Gerichtshof gefundene Auslegungsergebnis mit dem Montrealer Überein-
kommen vereinbar ist, hat der Senat diese Frage bereits in seinem Urteil vom
10. Dezember 2009 (Xa ZR 61/09) bejaht; daran hält er fest. Der Gerichtshof
hat dies offenbar ebenso gesehen; dass er Art. 29 MÜ übersehen hätte, kann
nicht angenommen werden.
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Der Senat hat auch keine Zweifel an der Gültigkeit der Verordnung. Der
Gerichtshof hat die Gültigkeit - anders als die Generalanwältin - bejaht (aaO
Tz. 47). Für den von der Beklagten angenommenen Verstoß gegen den Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatz ist nichts Substantiiertes geltend gemacht.
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4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
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Meier-Beck Mühlens Berger
Grabinski
Hoffmann
Vorinstanzen:
AG Rüsselsheim, Entscheidung vom 12.07.2007 - 3 C 1219/06 (32) -
LG Darmstadt, Entscheidung vom 07.11.2007 - 7 S 119/07 -