Urteil des BGH vom 20.11.2007
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 8/07 Verkündet
am:
20. November 2007
Böhringer-Mangold,
Justizamtsinspektorin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
StVO § 42 Abs. 4a (Zeichen 325/326), § 8 Satz 1, § 10
Die besonderen Pflichten des § 10 Satz 1 StVO gelten für den Fahrer, der einen ver-
kehrsberuhigten Bereich verlässt, auch dann, wenn das Zeichen 326 (Ende) nicht
unmittelbar im Bereich der Einmündung oder Kreuzung, sondern einige Meter davor
aufgestellt ist. Entscheidend ist, ob das Einfahren in eine andere Straße bei objekti-
ver Betrachtung noch als Verlassen des verkehrsberuhigten Bereichs im Sinne des
§ 10 StVO erscheint. Dies ist in der Regel zu bejahen, wenn das Zeichen 326 nicht
mehr als 30 m vor der Einmündung oder Kreuzung aufgestellt ist und keine konkre-
ten Anhaltspunkte eine abweichende Beurteilung rechtfertigen.
BGH, Urteil vom 20. November 2007 - VI ZR 8/07 - LG Stade
AG Buxtehude
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 20. November 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter
Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil der 1. Zivilkammer
des Landgerichts Stade vom 12. Dezember 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Im Januar 2006 befuhr der Kläger mit seinem Pkw eine durch Ver-
Fahrtrichtung das Verkehrsschild 326 (Ende) in einer Entfernung von etwa
10 Metern vom Einmündungsbereich der Straße in eine Querstraße stand.
Auf dieser näherte sich von links der bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversi-
cherte Pkw der Beklagten zu 1. Im Einmündungsbereich kam es zum Zu-
sammenstoß der beiden Fahrzeuge, wobei der Pkw des Klägers beschädigt
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wurde. Der Kläger verlangt von den Beklagten vollen Ersatz seines Sach-
schadens.
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Die Parteien streiten darum, ob die Beklagte zu 1 das Vorfahrtsrecht
des von rechts kommenden Klägers verletzt hat, weil die verkehrsberuhigte
Zone bereits 10 Meter vor der Einmündung endete, oder ob der Kläger unter
Verletzung des Vorfahrtsrechts der Beklagten zu 1 aus der noch bis zum
Einmündungsbereich fortbestehenden verkehrsberuhigten Zone ausgefahren
ist.
Das Amtsgericht ist der letztgenannten Ansicht gefolgt und hat die
Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht
der Klage unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsanteils des Klä-
gers von 25 % teilweise stattgegeben. Dagegen richtet sich die vom Beru-
fungsgericht zugelassene Revision der Beklagten.
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Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts verstieß die Beklagte zu 1 ge-
gen § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO, da sie die Vorfahrt des Klägers nicht beachtete.
Die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, wann der nach dem
Ausfahren aus einer durch Verkehrszeichen 326 (verkehrsberuhigte Zone) ge-
regelte Bereich ende, sei dahin zu beantworten, dass ab dem konkreten Stand-
punkt des Verkehrsschildes Zeichen 326 die allgemeinen Verkehrsregeln gäl-
ten.
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Bei der Abwägung seien demnach auf Seiten der Beklagten zu 1 der
Verstoß gegen § 8 StVO sowie die Betriebsgefahr des Pkw zu berücksichti-
gen. Der Unfall sei indes für den Kläger nicht unabwendbar gewesen. Viel-
mehr habe sich dieser nicht hinreichend aufmerksam nach links orientiert
und infolgedessen das von dort herannahende, gut sichtbare Fahrzeug der
Beklagten zu 1 übersehen. Insbesondere unter Berücksichtigung des Um-
standes, dass der Kläger eine verkehrsberuhigte Zone verlassen habe und
der Regelungsbereich des § 10 StVO für ihn unklar gewesen sei, hätte der
Kläger sich seines Vorfahrtsrechts vergewissern müssen. Das Fehlverhal-
ten der Beklagten zu 1 wiege jedoch unter Abwägung der beiderseitigen
Verursachungsbeiträge und unter Berücksichtigung der gleich hohen Be-
triebsgefahr der unfallbeteiligten Fahrzeuge schwerer, so dass ein Haf-
tungsanteil in Höhe von 75 % zu Lasten der Beklagten und in Höhe von
25 % zu Lasten des Klägers angemessen sei.
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II.
Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.
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1. § 42 Abs. 4a StVO normiert für verkehrsberuhigte Bereiche, die durch
Zeichen 325 (Beginn) und 326 (Ende) gekennzeichnet werden, bestimmte
Rechte und Pflichten der Fußgänger und der Kraftfahrer. Darüber hinaus hat
nach § 10 Satz 1 StVO derjenige, der aus einem verkehrsberuhigten Bereich
(Zeichen 325/326) auf die Straße einfahren will, sich dabei so zu verhalten,
dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Prob-
lematisch ist, dass für Kraftfahrer in Einmündungs- oder Kreuzungsbereichen je
nach den Umständen nicht ausreichend klar erkennbar sein kann, ob die Ver-
haltensanforderung des § 10 Satz 1 StVO gilt oder die des § 8 Abs. 1 Satz 1
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StVO, wonach an Kreuzungen und Einmündungen die Vorfahrt hat, wer von
rechts kommt. Die Verwaltungsvorschrift zu § 42 Abs. 4a StVO bestimmt, das
Zeichen 326 sei höchstens 30 m vor der nächsten Einmündung oder Kreuzung
aufzustellen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass ein Kraftfahrer, der einen
verkehrsberuhigten Bereich verlässt, dessen Verlassen im Einzelfall aufgrund
der spezifischen Gestaltung des konkreten Straßenbereichs nicht mehr als Aus-
fahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich erkennt.
2. a) Deshalb könnte für die Ansicht des Berufungsgerichts, ab dem kon-
kreten Standpunkt des Verkehrsschildes gälten die allgemeinen Verkehrsre-
geln, der Gesichtspunkt einer klaren Regelung sprechen. Unter diesem Aspekt
wird die Auffassung des Berufungsgerichts auch von Teilen der Rechtspre-
chung und Literatur vertreten (vgl. OLG Hamm, StVE Nr. 22 zu § 10 StVO
- Zeichen 326 ca. 30 m vor der Einmündung; LG Koblenz, NJWE-VHR 1998,
260; AG Sömmerda, DAR 1999, 78 f. - Zeichen 326 ca. 24 m vor der Einmün-
dung; Janiszewski, NStZ 1997, 267, 270; vgl. auch OLG Celle, OLGR 2004,
607). Andere - wie auch das Amtsgericht im vorliegenden Rechtsstreit - teilen
diese Betrachtungsweise indes nicht (vgl. LG Gießen, NZV 1996, 456 - Abstand
des Schildes 17,1 m; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 10 StVO
Rn. 6a).
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b) Auch der erkennende Senat hält die erstgenannte Ansicht nicht für
richtig. Bezogen auf die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO hat das Zei-
chen 326 eine die Vorfahrt regelnde Bedeutung. Die sich aus dieser Regelung
ergebenden Verpflichtungen enden nicht generell auf der Höhe des Verkehrs-
schildes. Sie enden vielmehr in der Regel erst dann, wenn sich das Gebot ak-
tualisiert, beim Einfahren aus einem verkehrsberuhigten Bereich in eine andere
Straße eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Dies ist
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regelmäßig an der nächsten Einmündung oder Kreuzung nach Ende des ver-
kehrsberuhigten Bereichs der Fall.
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Die abweichende Ansicht berücksichtigt nicht ausreichend, dass im vor-
liegenden Zusammenhang nicht der Begrenzung des verkehrsberuhigten Be-
reichs, sondern der vorfahrtregelnden Wirkung des Zeichens 326 entscheiden-
de Bedeutung zukommt. Diese Wirkung kann nicht davon abhängen, ob das
Zeichen unmittelbar im Einmündungs- bzw. Kreuzungsbereich steht oder einige
Meter davor. Dass es unmittelbar im Einmündungs- oder Kreuzungsbereich
aufgestellt ist, wird eher selten sein. Häufig wird es sich einige Meter vor der
Kreuzung oder Einmündung befinden. Es erschiene aber verfehlt, in diesen Fäl-
len von der Geltung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auszugehen, insbesondere
wenn der Querverkehr aufgrund der für ihn sichtbaren Beschilderung oder der
Gestaltung des Straßenverlaufs oder der Straßenflächen annehmen darf, der
Fahrer des einfahrenden Fahrzeugs habe die Verhaltensanforderungen des
§ 10 StVO zu beachten.
c) Freilich gelten die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO nicht stets
bis zur nächsten Kreuzung oder Einmündung.
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aa) Ist das Zeichen 326 mehr als 30 m vor der nächsten Einmündung
oder Kreuzung aufgestellt, enden die Verpflichtungen aus § 10 StVO in der Re-
gel am Aufstellungsort des Zeichens. Dies kann der Fall sein, wenn der ver-
kehrsberuhigte Bereich nur für einen bestimmten Straßenabschnitt angeordnet
ist oder sich die nächste Kreuzung oder Einmündung aus anderen Gründen
mehr als 30 m hinter dem Aufstellungsort des Zeichens 326 befindet. Eine Fall-
gestaltung, bei der sich das aus § 10 StVO folgende Gebot aktualisieren kann,
liegt dann nicht vor. Die in der Verwaltungsvorschrift zu § 42 Abs. 4a StVO an-
gegebene Entfernung von 30 m erscheint dem erkennenden Senat als brauch-
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barer Anhaltspunkt, um für den Regelfall den örtlichen Bereich der Pflichten zu
begrenzen, die sich beim Verlassen eines verkehrsberuhigten Bereichs erge-
ben. Es stellt für einen durchschnittlichen Kraftfahrer auch keine Überforderung
dar, sich über diese Entfernung zu merken, dass er einen verkehrsberuhigten
Bereich verlassen hat, und entsprechend vorsichtig zu fahren.
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bb) Auch aus den örtlichen Umständen kann sich ergeben, dass die Ver-
haltensanforderungen des § 10 StVO im Bereich der nächsten Einmündung
oder Kreuzung nicht gelten. Auch wenn das Zeichen 326 im 30-m-Bereich auf-
gestellt ist, kann sich aus dem Ausbau oder der Gestaltung des nachfolgenden
Straßenabschnitts ergeben, dass der Kraftfahrer bereits unmittelbar nach dem
Passieren des Schildes wieder in den laufenden Verkehr integriert wird. Dann
jedoch ist für eine Anwendung des § 10 StVO kein Raum.
3. In Fällen der vorliegenden Art ist also entscheidend darauf abzustel-
len, ob das Einfahren in eine andere Straße bei objektiver Betrachtung als Ver-
lassen des verkehrsberuhigten Bereichs im Sinne des § 10 StVO erscheint.
Dies ist nach dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale zu bestim-
men (vgl. Senatsurteile vom 5. Oktober 1976 - VI ZR 256/75 - VersR 1977,
58 f.; vom 14. Oktober 1986 - VI ZR 139/85 - VersR 1987, 306, 307; vom
23. Juni 1987 - VI ZR 296/86 - NJW-RR 1987, 1237, 1238). Es kommt also
nicht nur darauf an, in welcher Entfernung sich das Verkehrsschild vor der Ein-
mündung befindet, sondern auch darauf, ob der Einmündungsbereich trotz der
Aufstellung des Schildes einige Meter davor bei objektiver Betrachtung noch als
Ausfahrtsbereich der verkehrsberuhigten Zone erscheint. Befindet sich das Zei-
chen 326 nicht mehr als 30 m vor der nächsten Einmündung oder Kreuzung,
wird der Tatrichter in der Regel davon ausgehen können, dass für den Ausfah-
renden die Verhaltensanforderungen des § 10 StVO gelten, wenn keine An-
haltspunkte vorliegen, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen. Solche
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Anhaltspunkte können sich insbesondere aus der Straßenführung oder der bau-
lichen Gestaltung im Bereich der Unfallörtlichkeit ergeben (etwa farblichen oder
gestalterischen Abgrenzungen der Fahrbahnflächen). Entsprechende Feststel-
lungen hat der Tatrichter zu treffen.
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4. Das Berufungsurteil kann danach, soweit es von einer Vorfahrtsverlet-
zung der Beklagten zu 1 ausgeht, nicht aufrechterhalten werden. Es stellt ledig-
lich darauf ab, das Zeichen 326 habe sich 10 m vor der Einmündung befunden.
Dies reicht nach den vorstehenden Ausführungen für die Feststellung einer Vor-
fahrtsverletzung der Beklagten zu 1 nicht aus, zumal die Revision darauf hin
weist, aus der Beiakte ergebe sich, dass eine besondere Straßenpflasterung
auf eine Zugehörigkeit des Einfahrtsbereiches zu der verkehrsberuhigten Zone
schließen lasse. Der erkennende Senat kann nicht in der Sache selbst ent-
scheiden. Im Streitfall befand sich das Zeichen 326 zwar erheblich näher als
30 m vor der Einmündung. Das Berufungsgericht hat indes keine Feststellun-
gen getroffen, die eine abschließende Bewertung der Unfallörtlichkeit erlauben.
Insoweit sind weitere Feststellungen und eine neue Würdigung der maßgebli-
chen Umstände erforderlich.
5. Das Berufungsgericht bewertet die von ihm bejahte Vorfahrtsverlet-
zung der Beklagten zu 1 im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG mit 75 %,
obwohl es dem Kläger vorwirft, sich nicht hinreichend aufmerksam nach links
orientiert und infolgedessen das von dort herannahende, gut sichtbare
Fahrzeug der Beklagten zu 1 übersehen zu haben, und obwohl es annimmt,
der Kläger habe sich unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er eine
verkehrsberuhigte Zone verlassen habe und der Regelungsbereich des § 10
StVO für ihn unklar gewesen sei, seines Vorfahrtsrechts vergewissern müs-
sen. Auch wenn das Berufungsgericht unter Berücksichtigung der oben
dargelegten Rechtsauffassung erneut eine Vorfahrtsverletzung der Beklag-
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ten zu 1 bejahen sollte, wird es diese Abwägung zu überprüfen haben. In
derartigen Fällen ist im Rahmen der Abwägung nicht stets davon auszugehen,
dass der Verursachungsanteil desjenigen, der das Vorfahrtsrecht verletzt hat,
denjenigen des Bevorrechtigten überwiegt. Ein Vorfahrtsberechtigter, der davon
ausgehen muss, dass sein Vorfahrtsrecht von anderen Verkehrsteilnehmern
aufgrund der örtlichen Gegebenheiten möglicherweise nicht erkannt wird, ist zu
besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme verpflichtet; er muss damit rechnen,
dass sein Vorfahrtsrecht missachtet wird und muss seine Fahrweise darauf ein-
stellen (vgl. Senatsurteil vom 14. Oktober 1986 - VI ZR 139/85 - VersR 1987,
306, 308; vgl. auch BayObLG, NZV 1989, 121 f.). Derartige Situationen sind
angesichts der für die Verkehrsteilnehmer nicht immer eindeutigen Verkehrsla-
ge nicht auszuschließen und können deshalb Bedeutung für die haftungsrecht-
liche Abwägung gewinnen.
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III.
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Die Revision führt danach zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und
zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Müller Greiner Diederichsen
Pauge Zoll
Vorinstanzen:
AG Buxtehude, Entscheidung vom 18.07.2006 - 31 C 280/06 -
LG Stade, Entscheidung vom 12.12.2006 - 1 S 52/06 -