Urteil des BGH vom 22.04.2004

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 108/03
Verkündet am:
22. April 2004
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
HPflG § 2
Führt ein ganz ungewöhnlicher und seltener Starkregen (hier: Wiederkehr-
zeit von mehr als hundert Jahren) zu einem Rückstau in der Abwasserkana-
lisation und zu einem Wiederaustritt des Niederschlagswassers, kann sich
die Gemeinde gegenüber der Anlagenhaftung aus § 2 HPflG auf höhere
Gewalt berufen.
BGH, Urteil vom 22. April 2004 - III ZR 108/03 - LG Köln
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. April 2004 durch den Vorsitzenden Richter Schlick und die Richter
Streck, Dr. Kapsa, Galke und Dr. Herrmann
für Recht erkannt:
Die Sprungrevision der Kläger gegen das Urteil der 5. Zivilkam-
mer des Landgerichts Köln vom 25. Februar 2003 wird zurückge-
wiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tra-
gen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Kläger sind Eigentümer des Hausgrundstücks Am W. 30 in
B. . Unmittelbar oberhalb des an einem Hang liegenden Grund-
stücks verlief früher ein von der beklagten Gemeinde unterhaltener und inzwi-
schen verlegter verrohrter Bachlauf, die Amicke, die weiter unten in die Dörspe
mündet. Nach der Behauptung der Kläger dient der Bach zugleich als Vorfluter
für die städtische Kanalisation.
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Am 3. Mai 2001 kam es im Raum W. /B. zu einem Unwet-
ter mit starken Niederschlägen. Dabei drang Wasser in die Kellerräume der
Kläger und einen Schuppen ein. Die Kläger nehmen deswegen die Beklagte
auf Schadensersatz in Höhe von 7.412,71 € nebst Zinsen in Anspruch. Sie ha-
ben behauptet, aus der Kanalleitung, insbesondere aus zwei Schachtbauwer-
ken, sei das Wasser fontänenartig herausgeschossen und habe sich auf ihr
Grundstück ergossen. Die Beklagte hat den Schadenshergang bestritten, tech-
nische Fehler der Anlage in Abrede gestellt und hat sich ferner auf einen Jahr-
hundertregen berufen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Sprungrevision ver-
folgen die Kläger ihre Klageforderung weiter.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
I.
Nach Ansicht des Landgerichts entfällt eine Anlagenhaftung nach § 2
Abs. 1 HPflG, weil der Schaden der Kläger durch höhere Gewalt verursacht
worden sei (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 HPflG). Aus dem von der Beklagten vorgelegten
Gutachten des Deutschen Wetterdienstes ergebe sich, daß in einer rund 15 km
langen, von W. nordostwärts in das Stadtgebiet von B. hinein
gerichteten Zone am 3. Mai 2001 von etwa 16.00 Uhr bis gegen 19.30 Uhr über
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100 mm Niederschlag gefallen seien. Der höchste dabei gemessene Wert von
110 mm in W. könne in der Kernzone des Niederschlags in Richtung B.
stellenweise sogar noch übertroffen worden sein. In der Region W. /
B. seien, bezogen auf ein 3,5 Stunden andauerndes Regenereignis,
Niederschlagshöhen ab 55 mm im Westen dieser Zone und 66 mm im Ostteil
des Gebiets nur alle 100 Jahre oder seltener zu erwarten. Die für diesen Be-
reich analysierten Werte von mehr als 100 mm in 3,5 Stunden seien somit als
noch weitaus selteneres Ereignis einzustufen.
Aus diesem Grunde stehe den Klägern auch kein Anspruch aus § 839
BGB i.V.m. Art. 34 GG zu. Dabei könne dahinstehen, ob der Bachlauf ausrei-
chend dimensioniert gewesen sei und den anerkannten Regeln der Technik
entsprochen habe. Die Überflutung des Grundstücks der Kläger sei gerade
darauf zurückzuführen, daß die Regenmengen im Einzugsbereich des Bachs
deutlich über dem gelegen hätten, wovor die Beklagte die Anwohner zu schüt-
zen verpflichtet sei. Insoweit sei auch nicht maßgeblich, daß es sich um den
dritten Überflutungsschaden innerhalb von fünf Jahren gehandelt habe.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung stand.
1.
Da das Landgericht weder zu der zwischen den Parteien streitigen Fra-
ge, ob der Bachlauf in die von der Beklagten betriebene Abwasserkanalisation
einbezogen worden ist, noch zu den näheren Ursachen des Schadensfalles
Feststellungen getroffen hat, ist das Klagevorbringen in beiden Punkten als
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richtig zu unterstellen. Der Senat muß deshalb zum einen davon ausgehen,
daß das verrohrte Gewässer der städtischen Kanalisation als Vorfluter dient,
und zum anderen, daß die schadensstiftenden Wassermassen aus dem Kanal-
rohr ausgetreten sind und alsdann das Grundstück der Kläger überflutet haben.
2.
Die Beklagte ist den Klägern hiernach nicht zum Schadensersatz aus
§ 2 Abs. 1 HPflG verpflichtet. Dem steht, wie das Landgericht zutreffend ent-
schieden hat, der Haftungsausschluß wegen höherer Gewalt nach § 2 Abs. 3
Nr. 3 HPflG entgegen.
a) Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 HPflG (Wirkungshaftung)
sind allerdings erfüllt. Zu den dort genannten Rohrleitungsanlagen, an die das
Gesetz eine Gefährdungshaftung ihres Inhabers knüpft, rechnet der Senat in
ständiger Rechtsprechung auch die städtische Abwasserkanalisation (BGHZ
109, 8, 12; 115, 141, 142; Urteil vom 26. April 2001 - II ZR 102/00 - NVwZ
2001, 1448; zuletzt Urteil vom 11. März 2004 - III ZR 274/03 - für BGHZ vorge-
sehen). Nach dem zu unterstellenden Sachverhalt hat von der Kanalisation
ausgehendes Wasser den geltend gemachten Schaden verursacht.
b) Ob und inwieweit sich die Gemeinde in Fällen, in denen ein seltener
Starkregen zu einem Rückstau in der Kanalisation und daher zu einem Wie-
deraustritt des Niederschlagswassers aus dem Kanalnetz geführt hat, auf hö-
here Gewalt berufen kann, ist streitig (bejahend OLG Düsseldorf ZMR 1994,
326, 328 für eine Wiederkehrzeit von 100 Jahren; OLG München OLG-Report
2000, 62 für ein Regenereignis mit höherer als 10jähriger bis zu 40jähriger
Wiederkehr; OLG Zweibrücken BADK-Inf. 1991, 53 f. bei 20jähriger oder 25-
bis 100jähriger Wiederkehrzeit; Filthaut, HPflG, 6. Aufl., § 2 Rn. 74 für einen
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sogenannten "Jahrhundertregen"; verneinend bei einer Wiederkehrzeit von 10
Jahren OLG Karlsruhe NVwZ-RR 2001, 147, 148; die Revision gegen dieses
Urteil hat der Senat durch Beschluß vom 19. Oktober 2000 - III ZR 322/99 -
nicht angenommen; OLG Rostock VersR 2003, 909, 911 bei einer Wiederkehr-
zeit von 20 Jahren, sofern die Kapazität der Anlage [Regenrückhaltebecken]
nicht den veränderten Umständen angepaßt wurde). Der erkennende Senat hat
diese Frage bisher offengelassen (BGHZ 109, 8, 14 f.; Urteil vom 26. April
2001 aaO S. 1449; s. auch Senatsurteil vom 14. Juli 1988 - III ZR 225/87 -
NJW 1989, 104, 105). Er beantwortet sie nunmehr dahin, daß bei einem ganz
ungewöhnlichen und seltenen Regenereignis (Katastrophenregen), wie es mit
einer Wiederkehrzeit von mehr als 100 Jahren hier vorliegt, der Einwand höhe-
rer Gewalt nicht ausgeschlossen ist.
aa) Die Gefährdungshaftung für gefährliche Anlagen beruht auf dem
Gedanken, daß derjenige, der zur Förderung seiner Zwecke erlaubtermaßen
Gefahren schafft, denen sich andere nicht in zumutbarer Weise entziehen kön-
nen, auch ohne Verschuldensnachweis für die Schäden aufkommen soll, die
bei dem gefahrenträchtigen Betrieb - auch bei Einhaltung aller Sorgfalt - ent-
stehen (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 2004 - VI ZR 69/03 - Umdruck S. 14
m.w.N., für BGHZ vorgesehen). Ausnahmen sieht das Gesetz insbesondere
dann vor, wenn der Schaden durch höhere Gewalt verursacht worden ist. Dar-
unter versteht die höchstrichterliche Rechtsprechung ein betriebsfremdes, von
außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen
herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung un-
vorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste,
nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet
oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufig-
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keit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist (RGZ 171, 104, 105 f.;
BGHZ 7, 338, 339; 109, 8, 14 f.; BGH, Urteil vom 17. Februar 2004 aaO S. 16;
s. ferner Filthaut, aaO § 1 Rn. 158 f.; § 2 Rn. 71 m.w.N.). Das Merkmal der hö-
heren Gewalt ist ein wertender Begriff, mit dem diejenigen Risiken von der Haf-
tung ausgeschlossen werden sollen, die bei einer rechtlichen Bewertung nicht
mehr dem gefährlichen Unternehmen (Bahnbetrieb, Rohrleitungsanlage usw.),
sondern allein dem Drittereignis zugerechnet werden können (vgl. BGH, Urteil
vom 15. März 1988 - VI ZR 115/87 - NJW-RR 1988, 986 = VersR 1988, 910).
bb) Nach diesen Maßstäben ist die Überlastung einer Abwasserkanali-
sation durch einen Katastrophenregen bei wertender Betrachtung nicht mehr
den Risiken der Anlage, sondern dem von außen hinzutretenden "Drittereignis"
zuzurechnen. Es geht in solchen Fällen - ungeachtet dessen, daß hier auch
das aus dem konzentrierten Transport von Wasser stammende Risiko zum
Schaden beigetragen hat - letztlich um ganz außergewöhnliche, katastrophen-
artige Wirkungen elementarer Naturkräfte, auf die die Gemeinde wegen deren
Seltenheit ihr Kanalsystem wirtschaftlich zumutbar nicht einrichten kann und
muß. Von der Gemeinde darf zwar im allgemeinen erwartet werden, daß die
von ihr betriebene Abwasserkanalisation das aufgenommene Wasser schadlos
ableitet; insofern gehen auch die Anforderungen an den Tatbestand der "höhe-
ren Gewalt" im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 3 HPflG über die an das Aufnahme-
vermögen des Kanalnetzes, mit denen sich der Senat verschiedentlich unter
dem Gesichtspunkt der Amtspflichtverletzung befaßt hat (vgl. BGHZ 109, 8,
10 f.; 115, 141, 147 f.; 140, 380, 385; Urteil vom 11. Dezember 1997 - III ZR
52/97 - NJW 1998, 1307 f.; s. auch Urteil vom 11. Oktober 1990 - III ZR
134/88 - NJW-RR 1991, 733, 734 = VersR 1991, 888, 889), hinaus. Gleichwohl
findet die Gefährdungshaftung für Rohrleitungsanlagen ebenfalls ihre Grenze
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in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Kommunen und dem von ihnen
vernünftigerweise zu erwartenden Aufwand bei der Auslegung ihres Kanalsy-
stems. Wo genau die Grenzlinie zu ziehen ist, hängt von den Umständen des
Einzelfalls ab und entzieht sich einer einheitlichen rechtlichen Beurteilung. Im
vorliegenden Fall, in dem nach den Feststellungen des Landgerichts die ge-
meindliche Abwasseranlage Niederschlagsmengen zu bewältigen hatte, die
seltener als alle 100 Jahre zu erwarten sind, ist aber diese Grenze jedenfalls
überschritten.
cc) Der Berufung auf höhere Gewalt steht im Streitfall auch nicht entge-
gen, daß die Anlage nach den Behauptungen der Kläger nicht ausreichend
dimensioniert gewesen ist und nicht den anerkannten Regeln der Technik ent-
sprochen hat. Das Landgericht hat festgestellt, daß sich derartige Mängel je-
denfalls nicht ausgewirkt haben, vielmehr die Überflutung gerade auf die kata-
strophenartig erhöhten Regenmengen zurückzuführen ist. An diese Feststel-
lungen ist der Senat gebunden. Verfahrensrügen hiergegen sind bei einer
Sprungrevision grundsätzlich nicht zulässig (§ 566 Abs. 4 Satz 2 ZPO) und
werden auch nicht erhoben.
3.
Amtshaftungsansprüche (§ 839 BGB, Art. 34 GG) wegen der behaupte-
ten fehlerhaften Errichtung oder Dimensionierung des Abwasserkanals hat das
Landgericht dementsprechend an dem fehlenden Ursachenzusammenhang
zwischen den Pflichtverletzungen und dem Schaden scheitern lassen. Das ist
aus Rechtsgründen gleichfalls nicht zu beanstanden und wird von der Revision
ebensowenig angegriffen.
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4.
Andere Ersatzansprüche sind nicht gegeben. Für einen neben der Haf-
tung aus Amtspflichtverletzung zu prüfenden Entschädigungsanspruch aus ent-
eignungsgleichem Eingriff gilt zur Kausalität dasselbe wie hinsichtlich der
Amtshaftung. Nach der Rechtsprechung des Senats kommt zwar außerdem,
wenn ein Bachlauf - wie hier - verrohrt und in das gemeindliche Kanalsystem
einbezogen ist, ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB wegen
Verletzung der Gewässerunterhaltungspflicht in Betracht (Urteil vom 27. Januar
1983
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- III ZR 70/81 - LM Nr. 74 zu § 839 [Fe] BGB = DVBl. 1983, 1055, 1056 f.).
Auch in dieser Beziehung wäre jedoch die Kausalitätsfrage nicht abweichend
zu beurteilen.
Schlick
Streck
Kapsa
Galke
Herrmann