Urteil des BGH vom 28.02.2008

BGH (in dubio pro reo, psychotherapeutische behandlung, cousine, wohnung, alibi, verurteilung, erwägung, stpo, einkauf, besuch)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 375/07
vom
28. Februar 2008
in der Strafsache
gegen
wegen Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 28. Februar
2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Prof. Dr. Kuckein,
Athing,
Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović
als beisitzende Richter,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Ne-
benklägerin wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg
vom 27. März 2007 mit den Feststellungen aufgehoben.
2.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere
Jugendkammer als Jugendschutzkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen von
dem Vorwurf freigesprochen, in der Zeit vom 15. bis 19. August 2004 die da-
mals 13jährige Nebenklägerin Lisa N. zweimal sexuell missbraucht zu haben.
Gegen dieses Urteil wenden sich die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin.
Die Rechtsmittel haben mit den Sachrügen Erfolg.
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1. Nach den Feststellungen besuchte die Nebenklägerin während ihrer
Sommerferien - in der Zeit vom 13. bis zum 23. August 2004 - ihre Cousine Da-
na S., die Lebensgefährtin des Angeklagten. Dabei kam es nach der Schilde-
rung des Mädchens am Dienstag, dem 17. August 2004, gegen 13 Uhr, in der
Wohnung ihrer Cousine auf einer im Wohnzimmer liegenden, als Schlafstätte
benutzten Matratze zu einem sexuellen Übergriff des Angeklagten auf sie, bei
dem dieser u.a. mit einem Finger in ihre Scheide eindrang. Sie sei zwar nach
dem Vorfall "geschockt" gewesen, habe sich jedoch entschlossen, niemandem
von dem Vorfall zu erzählen, weil sie zu ihrer Cousine den "guten Kontakt" habe
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aufrechterhalten wollen. Am Folgetag sei es nach einem gemeinsamen Einkauf
mit dem Angeklagten in der Wohnung ihrer Cousine zu einem weiteren sexuel-
len Missbrauch gekommen, bei dem der Angeklagte mit ihr den Geschlechts-
verkehr vollzogen habe. Auch nach diesem Übergriff habe sie sich entschlos-
sen, niemandem davon zu erzählen. Sie habe - wie geplant - ihren Besuch fort-
gesetzt, sei aber nach dem letzten Vorfall nie mehr mit dem Angeklagten allein
gewesen; die beiden Vorfälle habe sie sich nicht anmerken lassen. Die Taten
wurden bekannt, nachdem die Nebenklägerin im September 2004 einer Schul-
freundin davon berichtet hatte. Hinsichtlich der Begehungsweisen entsprechen
die von der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung geschilderten Taten der
Anklage.
2. Die Jugendschutzkammer ist mit der gehörten Aussagepsychologin
davon überzeugt, dass die detailreichen Angaben der Nebenklägerin erlebnis-
fundiert seien (UA 29, 36, 40, 44), dass die Nebenklägerin nachvollziehbar dar-
gelegt habe, warum sie (zunächst) niemandem von den Vorfällen erzählt und
sie den Besuch ihrer Cousine nicht vorzeitig abgebrochen habe (UA 30 f.), dass
es "ausgeschlossen" sei, dass die Nebenklägerin die von ihr geschilderten bei-
den Vorfälle lediglich auf den Angeklagten projiziere (UA 33, 39), dass "durch-
greifende Motive" für eine Falschaussage des Mädchens nicht erkennbar seien
(UA 32) und dass die Aussage weiterer Zeugen (der Freundin, der Eltern, der
Großmutter und der Therapeutin H. ) und die Entstehungsgeschichte der
Aussage der Nebenklägerin (UA 31) deren Angaben stützten.
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Dennoch meint das Landgericht, die Einlassung des den Tatvorwurf
bestreitenden Angeklagten sei "nicht von vornherein unglaubhaft" (UA 15), weil
die Aussage der Nebenklägerin “in einzelnen Punkten im Randbereich" Zwei-
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feln begegne (UA 41, 44). Es hat daher den Angeklagten in Anwendung des
Grundsatzes "in dubio pro reo" freigesprochen.
3. Diese Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand; sie
lässt vielmehr besorgen, dass die Jugendschutzkammer überspannte Anforde-
rungen an die für eine Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt
hat (vgl. hierzu BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 22, 25).
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Die Zweifel des Landgerichts an der Täterschaft des Angeklagten grün-
den sich im Wesentlichen auf zwei Erwägungen:
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Zum einen erschienen die von der Nebenklägerin genannten Tatzeiten -
Dienstag- (17. August 2004) und Mittwochmittag (18. August 2004) - zweifel-
haft, weil der Angeklagte für diese Zeiten (möglicherweise) ein Alibi habe. Falls
die Vorfälle außerhalb der von der Nebenklägerin genannten Zeiträume ge-
schehen seien, sei eine Verurteilung nicht möglich, weil insoweit keine Feststel-
lungen hätten getroffen werden können (UA 45).
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Diese Erwägung trägt nicht. Wie die Revisionen zutreffend darlegen, hat
der Angeklagte für die von der Nebenklägerin genannte Tatzeit für die erste Tat
(Dienstag, 17. August 2004 gegen 13 Uhr) kein Alibi. Er kann nach dem Ge-
spräch mit dem Zeugen S. in W. , das möglicherweise gegen
12.15 Uhr endete (UA 7, 17), bei einer Fahrzeit von gut einer halben Stunde
(UA 15) gegen 13 Uhr in der Wohnung seiner Lebensgefährtin gewesen sein
und die Tat begangen haben. Für die zweite Tat liegt es nahe, dass sie nicht
am Mittwoch, sondern am Donnerstag, dem 19. August 2004, begangen wurde
(gemeinsamer Einkauf im Gemüseladen, Verabredung zum "Musiksommer",
UA 9, 13, 28, 42, 44). Für diese Zeit hat der Angeklagte ebenfalls kein Alibi.
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Eine nicht korrekte Angabe der Tatzeit(en) durch die Nebenklägerin wäre im
Übrigen allenfalls geeignet, deren Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Diesen
Schluss zieht die Jugendkammer aber gerade nicht; denn sie geht davon aus,
dass die Nebenklägerin “das von ihr Geschilderte auch erlebt hat“ (UA 36).
Dass die Tat(en) möglicherweise zu anderen Zeiten innerhalb des angeklagten
Tatzeitraums begangen wurden, hinderte - nach entsprechendem Hinweis
(§ 265 StPO) - eine Verurteilung nicht.
Zum anderen meint das Landgericht, es sei unverständlich, dass sich die
Nebenklägerin nach den Taten in ihrem Erscheinungsbild nicht geändert, sie
sogar sexuelle Gesprächsthemen aufgegriffen habe (UA 41) und Dritten "nichts
Besonderes" (UA 42) an ihr aufgefallen sei. Auch diese Erwägung trägt nicht.
Sie steht in Widerspruch zu der Annahme der Jugendkammer, das Verhalten
der Nebenklägerin nach der ersten Tat könne "mit jugendlichem Leichtsinn" und
im Übrigen damit erklärt werden, dass die Nebenklägerin - wie von ihr bekundet
- keinen Anlass für etwaige Nachfragen geben wollte (UA 30 f.). Sie lässt aber
insbesondere außer Acht, dass sich die Nebenklägerin nach den von ihr ge-
schilderten Vorfällen in eine langwierige psychotherapeutische Behandlung be-
geben hat, die noch andauert (UA 37, 39). Hierzu teilt das Landgericht nichts
Näheres mit. Dass die von der Zeugin H. bekundete Tatsache der Therapie
"keine durchgreifende Stütze" für die Angaben der Nebenklägerin sein soll
(UA 38), erschließt sich nicht ohne Weiteres und bedarf näherer Erörterung.
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Die Sache muss daher neu verhandelt und entschieden werden.
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Tepperwien Maatz Kuckein
Athing Solin-Stojanović