Urteil des BGH vom 11.03.2014

Leitsatzentscheidung

Nachschlagewerk: ja
BGHSt : nein
Veröffentlichung : ja
StGB § 66
EGStGB § 316f Abs. 2 Satz 1
Wegen bis zum 31. Mai 2013 begangener Taten darf die Si-
cherungsverwahrung weiterhin nur mit der Einschränkung strik-
ter Verhältnismäßigkeit im Sinne des Urteils des Bundesver-
fassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) ange-
ordnet werden.
BGH, Urteil vom 11. März 2014
– 5 StR 563/13
LG Cottbus
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
5 S t R 5 6 3 / 1 3
vom
11. März 2014
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung
vom 18. Februar und 11. März 2014, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Prof. Dr. Sander,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Dr. Berger,
Richter Bellay
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt ,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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in der Sitzung vom 11. März 2014 für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Cottbus vom 17. Juli 2013 aufgehoben
a) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit von der Anord-
nung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist,
b) zugunsten des Angeklagten im gesamten Strafausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Miss-
brauchs von Kindern in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Verstoß gegen
Weisungen während der Führungsaufsicht, sowie wegen Verstoßes gegen
Weisungen während der Führungsaufsicht in 19 weiteren Fällen zu einer Ge-
samtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt; wegen der
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Missbrauchstaten hat es Einzelfreiheitsstrafen von drei Jahren sowie von neun
Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet. Die vom Generalbundesan-
walt vertretene, soweit sie zum Nachteil des Angeklagten geführt wird, wirksam
auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkte und auf die
Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getrof-
fen:
a) Der im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 63-jährige Angeklagte, der be-
reits in den Jahren 2000 und 2007 jeweils wegen mehrerer Fälle des schweren
sexuellen Missbrauchs von Kindern zu mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafen
verurteilt worden war, besuchte Ende Mai 2012 den gesondert verfolgten
R. , den er während seiner Inhaftierung kennengelernt hatte. In der Woh-
nung des R. hielt sich der 13-jährige C. auf. Der Angeklagte und
R. vereinbarten, dass der Angeklagte gegen Zahlung von 50 Euro mit
C. sexuellen Kontakt aufnehmen könne. Der Geschädigte war damit ein-
verstanden. Im Beisein des R. führte der Angeklagte bei dem Geschädigten
den Oralverkehr durch und veranlasste ihn, bei dem Angeklagten den Analver-
kehr auszuüben. Während dieser sexuellen Handlungen masturbierte R.
vor dem Geschädigten. Anschließend onanierte der Angeklagte vor dem Ge-
schädigten bis zum Samenerguss. Danach gab der Angeklagte R. 50 Euro,
wovon 30 Euro für den Geschädigten bestimmt waren (Tat 1).
Im Sommer 2012 unterhielt der Angeklagte über Skype Kontakt zu R.
und dem zwölf Jahre alten Geschädigten L. , der sich in der
Wohnung des R. aufhielt. Bei der Übertragung onanierte der Angeklagte
vor R. und dem Geschädigten (Tat 2).
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Bei beiden Taten handelte der Angeklagte entgegen einer ihm im Rah-
men der Führungsaufsicht erteilten Kontaktverbotsweisung.
Entgegen dieser Weisung unterhielt der Angeklagte darüber hinaus Kon-
takte zu dem 13-jährigen W. , der ihm von Ende 2011 bis Som-
mer 2012 an 19 Tagen bei Problemen mit seinem Computer und dem Internet
half (Taten 3 bis 21).
b) Sachverständig beraten hat das Landgericht festgestellt, dass bei dem
Angeklagt
en eine Pädophilie vorliege, wobei sein „sexueller Hang“ Jungen gel-
te, die bereits sekundäre Geschlechtsmerkmale aufweisen. Die pädophile se-
xuelle Ausrichtung sei indes für den Angeklagten, der in der Vergangenheit
zeitweise in Lebenspartnerschaften, teils mit Männern, teils mit Frauen, gelebt
hatte, „nur eine von mehreren Varianten der für ihn attraktiven sexuellen Betäti-
gung, wobei seine sexuelle Appetenz breit ausgerichtet“ sei (UA S. 6, 8). Bei
Begehung seiner Taten sei der Angeklagte weder in seiner Einsichts- noch in
seiner Steuerungsfähigkeit gemindert gewesen. Er habe vielmehr günstige und
relativ sicher erscheinende Gelegenheiten abwarten können, die er dann wie-
derholt zu sexuellen Handlungen ausgenutzt habe.
2. Das Urteil ist hinsichtlich des Absehens von der Anordnung der Siche-
rungsverwahrung aufzuheben.
a) Die Strafkammer hat die Verhängung einer Sicherungsverwahrung
gegen den Angeklagten, „der deutlich Merkmale eines Hangtäters aufweist“,
nicht „konkret erwogen“, weil sie anhand der ihr „zugänglichen Gesetzestexte“
davon ausgegangen ist, dass nach der Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts vom 4. Mai 2011, die den § 66 StGB „für verfassungswidrig und nichtig
erklärt“ habe, und nach Ablauf der bis zum 31. Mai 2013 geltenden Übergangs-
frist
„bislang noch keine neue Regelung durch den Gesetzgeber getroffen wor-
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den sei“ (UA S. 11). Sie hat dabei übersehen, dass am 1. Juni 2013 das „Ge-
setz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Si-
cherungsverwahrung“ vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I 2425) in Kraft getreten
ist, durch das das genannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfGE 128, 326) umgesetzt wurde. Für die abgeurteilten Tatzeiträume ist
danach
– mit der nachfolgend unter c) aa) dargestellten Einschränkung – § 66
StGB
in der Fassung des „Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Siche-
rungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen“ vom 22. Dezember 2010
(BGBl. I 2300) anzuwenden (Art. 316e Abs. 1 Satz 1, Art. 316f Abs. 2 Satz 1
EGStGB).
b) Ungeachtet der fehlenden Angabe von Tatzeiten, Einzelstrafen und
Haftzeiten aus den beiden genannten Vorverurteilungen sind jedenfalls die for-
mellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gegeben; möglicher-
weise liegen sogar diejenigen des § 66 Abs. 1 StGB vor. Nach den Ausführun-
gen des Landgerichts ist es darüber hinaus
– wenngleich die beschwerde-
führende Staatsanwaltschaft nicht auf Anordnung von Sicherungsverwahrung
angetragen hat
– möglich, dass auch die materiellen Voraussetzungen des § 66
Abs. 1 Nr. 4 StGB erfüllt sind.
c) Auch die aufgrund der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfas-
sungsgerichts (aaO) nach Ansicht des Senats
– im Einklang mit der vom Ver-
teidiger in der Revisionshauptverhandlung vertretenen Auffassung
– im vorlie-
genden „Altfall“ weiterhin vorzunehmende „strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung"
(nachfolgend aa)) steht der Anordnung der Sicherungsverwahrung hier nicht
von vornherein entgegen (nachfolgend bb)).
aa) Die am 1. Juni 2013 in Kraft getretene Neuregelung enthält überaus
kompliziert ausgestaltete Übergangsvorschriften (vgl. Fischer, StGB, 61. Aufl.,
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§ 66 Rn. 17; Jehle in SSW-StGB, 2. Aufl., § 66 Rn. 5, 52). Hiernach sind für die
abgeurteilten Tatzeiträume gemäß Art. 316f Abs. 2 Satz
1 EGStGB „die bis zum
31. Mai 2013 geltenden Vorschriften über die
Sicherungsverwahrung“ (nach
Maßgabe der hier nicht einschlägigen Sätze 2 bis 4) anzuwenden. Gemäß
Art. 316e Abs. 1 Satz 1 EGStGB handelt es sich um § 66 StGB in der Fassung
des „Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu
begleitende
n Regelungen“ vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I 2300). Diese Vor-
schrift war zur Tatzeit nur mit der Maßgabe „strikter Verhältnismäßigkeit“ anzu-
wenden, die das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Urteil (aaO,
S. 406, Rn. 172) gemäß § 35 BVerfGG wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem
Grundgesetz infolge Verletzung des Abstandsgebotes einschränkend verlangt
hat.
Indem der Gesetzgeber in der Übergangsvorschrift ausdrücklich auf die
bisherigen Vorschriften abgestellt hat, hat er
– freilich entgegen seiner erklärten
Absicht (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des
Deutschen Bundestages vom 7. November 2012, BT-Drucks. 17/11388 S. 24;
entsprechend
wohl
schon
der
Gesetzentwurf
der
Bundesregierung,
BT-Drucks. 17/9874 S. 12)
– die zur Tatzeit geltende Rechtslage fortgeschrie-
ben, damit aber auch die Einschränkung aufgrund der Weitergeltungsanord-
nung des Bundesverfassungsgerichts. Der Wortlaut der Übergangsvorschrift
muss, da er die bisherige Rechtslage hervorhebt, vom Normadressaten nach
Auffassung des Senats im Sinne eines solchen Vertrauensschutzes verstanden
werden
(
so auch Renzikowski, NJW 2013, 1638, 1642; abweichend Jehle, aaO
Rn. 54; Zimmermann, HRRS 2013, 164, 170). Dass der Gesetzgeber in den
Folgesätzen weitergehende ausdrückliche Fortschreibungen vom Bundesver-
fassungsgericht vorgegebener Einschränkungen für Fälle besonderen Vertrau-
ensschutzes vorgenommen hat (BVerfG, aaO Rn. 173; vgl. dazu den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung, aaO; Zimmermann, aaO, S. 166), rechtfertigt an-
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gesichts des rückbezogenen Wortlauts der Regelung des ersten Satzes trotz
des entsprechenden Willens des Gesetzgebers nicht, die Einschränkung des
Bundesverfassungsgerichts für sonstige vor Inkrafttreten der Neuregelung be-
gangene Taten als überwunden zu verstehen.
Zu einem so weit gehenden Vertrauensschutz wäre der Gesetzgeber
nach Art. 103 Abs. 2 GG zwar nicht verpflichtet gewesen, womöglich auch nicht
nach dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes (vgl. § 2 Abs. 6 StGB). Eine
vertrauensschützende Fortgeltungsanordnung, wie sie der Senat dem Wortlaut
des Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB entnimmt, ist indes unbedenklich und
rechtsstaatlich ausgewogen. Andernfalls müssten nämlich Täter, die
– wie der
Angeklagte
– ihre Anlasstat vor Inkrafttreten der Neuregelung begangen haben,
eine Rechtsverschärfung gegenüber der Rechtslage zur Tatzeit hinnehmen,
ohne dass diese im Sinne des Opferschutzes, an dem die vom Bundesverfas-
sungsgericht verlangte einschränkende Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeit
sich orientiert, unerlässlich wäre; dies würde insbesondere auch in Fällen wie
dem vorliegenden gelten, die nicht bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes zur
Umsetzung des Abstandsgebotes am 1. Juni 2013 tatgerichtlich abgeurteilt
worden sind, obgleich dies ohne weiteres möglich gewesen wäre (hier: Tatzeit
bis Sommer 2012; Inhaftierung des Angeklagten im November 2012; Anklage
im Februar 2013). Soweit der Senat bislang die Fortgeltung des vom Bundes-
verfassungsgericht für die Weitergeltung des § 66 StGB verlangten Maßstabes
strikter Verhältnismäßigkeit aufgrund im Rechtsstaatsprinzip verankerten Ver-
trauensschutzes nur in Fällen verlangt hat, in denen
– anders als hier – ein tat-
gerichtliches Urteil bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen war
(BGH, Urteile vom 23. April 2013
– 5 StR 610 und 617/12 – und 12. Juni 2013
– 5 StR 129/13, NStZ 2013, 522 und 524), brauchte er ein weitergehendes ver-
trauensschützendes Verständnis von der Übergangsvorschrift nicht zu erwä-
gen.
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bb) Bei „strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung" scheidet die Anordnung
der Sicherungsverwahrung im vorliegenden Fall
– entgegen der Auffassung der
Verteidigung in der Revisionshauptverhandlung
– nicht von vornherein aus.
Zumindest Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ge-
mäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie sie der Angeklagte wiederholt begangen
hat, sind im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen
Auswirkungen und die hohe Strafdrohung unabhängig von körperlicher Gewalt-
anwendung
– unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – grund-
sätzlich als schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maßgabe des Bundesver-
fassungsgerichts zu werten (vgl. BGH, Urteile vom 23. April 2013
– 5 StR 617/12 und vom 19. Februar 2013 – 1 StR 275/12, jeweils
NStZ-RR 2014, 43). Allerdings werden bei der tatgerichtlichen Wertung das
fortgeschrittene Lebensalter des Angeklagten und seine nicht auf Kinder fixier-
ten sexuellen Neigungen zu bedenken sein sowie der Umstand, dass die einzi-
ge schwerwiegende abgeurteilte Tat des Angeklagten zum Nachteil eines be-
reits 13-jährigen Jungen verübt wurde, der ohne Zwangseinwirkung bereit war,
entsprechende Sexualpraktiken gegen Entgelt hinzunehmen. Freilich gebietet
die letztgenannte Besonderheit auch vor dem Hintergrund der mit Hilfe des
Sachverständigen konkret festgestellten Neigungen des Angeklagten, günstige
„Gelegenheiten“ auszunutzen, bei denen die jeweiligen Geschädigten die sexu-
ellen Handlungen bereitwillig ausführen ließen (UA S. 8), mit Blick auf Opfer-
schutzgesichtspunkte für sich genommen noch nicht die Annahme eines Aus-
nahmefalles. Immerhin bleibt zu beachten, dass gerade „wahrlose“ Kinder, die
von ihren Familien und ihrem sonstigen sozialen Nahraum ersichtlich keinen
ausreichenden Schutz erfahren und deshalb anfällig dafür sind, Opfer sexuellen
Missbrauchs zu werden, auf den Schutz des Strafrechts vor schweren sexuel-
len Übergriffen angewiesen sind. Der Umstand, dass der Angeklagte sich die
Bereitschaft des Jungen zur Hinnahme sexueller Handlungen durch Geldzah-
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lungen erkaufte, kann zudem ein frühes Abgleiten des Geschädigten in die
Prostitution und einen sozial randständigen Lebensstil begünstigen.
d) Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird unter Hinzu-
ziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 1 StPO) die Vorausset-
zungen des § 66 StGB
– unter der Einschränkung strikter Verhältnismäßigkeit –
zu prüfen, für den Fall des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB darüber hinaus die gebote-
ne Ermessensentscheidung zu treffen haben. Dem Antrag des Generalbundes-
anwalts folgend hebt der Senat zugunsten des Angeklagten den gesamten
Strafausspruch auf (§ 301 StPO), da nicht sicher auszuschließen ist, dass er
milder ausgefallen wäre, wenn das Tatgericht die Unterbringung in der Siche-
rungsverwahrung angeordnet hätte.
Basdorf Sander Schneider
Berger Bellay
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