Urteil des BGH vom 12.12.2013

BGH: ärztliche untersuchung, abschiebung, haftgrund, anhörung, flugzeug, versuch, nigeria, bundespolizei, entziehen, aufenthalt

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 220/12
vom
12. Dezember 2013
in der Abschiebungshaftsache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Dezember 2013 durch die
Richter Dr. Lemke, Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Czub, die Richterin
Dr. Brückner und den Richter Dr. Kazele
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom
20. November 2012 und der Beschluss der 29. Zivilkammer des
Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. Dezember 2012 ihn in
seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Westerwaldkreis
auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.000 €.
Gründe:
I.
Der Betroffene, ein nigerianischer Staatsangehöriger, war seit der Ableh-
nung eines Asylantrags und der Aufforderung zur Ausreise im Jahre 2004 aus-
reisepflichtig. In der Zeit von Mai 2007 bis September 2007 war sein Aufenthalt
im Bundesgebiet unbekannt. Am 20. November 2012 unternahm die beteiligte
Behörde einen ersten Versuch der Abschiebung. Dieser scheiterte, weil der Be-
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troffene sich weigerte, das Flugzeug zu besteigen. Er gab gegenüber den Be-
amten der Bundespolizei an, dass er nicht aus Nigeria stamme, zudem klagte
er über Asthmaprobleme und über Bluthochdruck.
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am
20. November 2012 gegen den Betroffenen die Haft zur Sicherung der Ab-
schiebung bis zum 19. Januar 2013 angeordnet. Das Landgericht hat die Be-
schwerde des Betroffenen mit Beschluss vom 3. Dezember 2012 zurückgewie-
sen. Der Betroffene, der am 5. Dezember 2012 nach Nigeria abgeschoben
worden ist, beantragt mit der Rechtsbeschwerde, die Verletzung in seinen
Rechten durch die Haftanordnung und die Entscheidung des Beschwerdege-
richts festzustellen.
II.
Das Beschwerdegericht meint, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei
rechtmäßig gewesen. Der in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG bezeichnete
Haftgrund habe vorgelegen, da der Betroffene sich der Abschiebung am
20. November 2012 widersetzt habe, indem er sich flugunwillig gezeigt und sich
geweigert habe, das Flugzeug zu besteigen. Nach der aktuellen Mitteilung der
beteiligten Behörde sei die Rückführung des Betroffenen nach Lagos im Rah-
men einer Chartermaßnahme am 5. Dezember 2012 geplant gewesen; hierfür
habe der Behörde eine Zusage der Bundespolizei vorgelegen. Eine erneute
Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren sei nicht erforderlich, weil
davon angesichts der zeitnah erfolgten Anhörung durch das Amtsgerichts keine
neuen Erkenntnisse zu erwarten seien. Der Betroffene habe auch keine neuen
relevanten Tatsachen vorgetragen.
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III.
Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG mit dem Feststel-
lungsantrag nach § 62 FamFG statthafte (Senat, Beschluss vom 25. Februar
2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151) und auch im Übrigen zulässige
(§ 71 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Der Betroffene ist durch die Haftanordnung in seinen Rechten verletzt
worden, weil das Amtsgericht unter Verstoß gegen seine Amtsermittlungspflicht
(§ 26 FamFG) den Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG bejaht
hat.
Nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ist der Ausländer in Haft zu
nehmen, wenn er sich in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen hat. Die-
ser Haftgrund ergibt sich jedoch nicht aus der ohne einen Hinweis auf weitere
Tatsachen erfolgten Feststellung des Amtsgerichts, dass der Betroffene sich
seiner Abschiebung am 20. November 2012 widersetzt habe. Der Ausländer
entzieht sich nicht der Abschiebung in einer die Anordnung von Haft nach die-
ser Vorschrift rechtfertigenden Weise, wenn er bei dem Versuch seiner Ab-
schiebung keinen aktiven Widerstand leistet, sondern sich ruhig verhält und
sachliche Gründe gegen die Durchführung der Abschiebung auf dem Luftwege
wegen einer seine Flugtauglichkeit ausschließenden oder beeinträchtigenden
Erkrankung vorbringt (vgl. OLG Köln, InfAuslR 2004, 396; HK-AuslR/Keßler,
AufenthG, § 62 Rn. 28). Anhaltspunkte dafür, dass dieses Vorbringen ersicht-
lich unbegründet war und allein dazu diente, sich der Abschiebung zu entzie-
hen, hat das Amtsgericht nicht festgestellt. Dass eine ärztliche Untersuchung
des Antragstellers auf seine Flugtauglichkeit stattgefunden hätte, ist weder fest-
gestellt noch von der beteiligten Behörde vorgetragen worden, obwohl die mit
der Durchführung der Abschiebung beauftragte Bundespolizeiinspektion am
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Flughafen Frankfurt am Main angeraten hatte, bei einem nächsten Abschie-
bungsversuch eine aktuelle Bescheinigung über die Flugtauglichkeit des Be-
troffenen einzuholen. Vor diesem Hintergrund stellt es eine Verletzung der
Amtsermittlungspflicht dar, wenn das Amtsgericht ohne eigene Ermittlungen zur
Flugtauglichkeit des Betroffenen (insbesondere ohne eine ärztliche Untersu-
chung) davon ausgeht, dass der Betroffene sich seiner Abschiebung entzogen
habe, indem er sich flugunwillig gezeigt habe.
2. Der Betroffene ist auch durch die Entscheidung des Beschwerdege-
richts in seinen Rechten verletzt worden. Das Beschwerdegericht hat den Feh-
ler des Amtsgerichts wiederholt, indem es trotz der in der Beschwerdebegrün-
dung vorgetragenen gesundheitlichen Probleme ohne eigene Ermittlungen zur
Flugtauglichkeit des Betroffenen davon ausgegangen ist, dass der Betroffene
sich seiner Abschiebung im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FamFG wider-
setzt habe.
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IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430
FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert be-
stimmt sich nach § 128c Abs. 3 Satz 2, § 30 Abs. 2 KostO.
Lemke
Schmidt-Räntsch
Czub
Brückner
Kazele
Vorinstanzen:
AG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 20.11.2012 - 934 XIV 491/12 B -
LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 03.12.2012 - 2-29 T 345/12 -
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