Urteil des BGH vom 05.05.1998

BGH (ruhen der verjährung, sache, stgb, nachprüfung, pauschal, zweifel, verhandlung, mutter, staatsanwaltschaft, hauptverhandlung)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 263/02
vom
5. September 2002
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u. a.
- 2 -
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 5. September
2002, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach,
Winkler,
Pfister,
Hubert
als beisitzende Richter,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Land-
gerichts Itzehoe vom 6. März 2002 mit den Feststellungen aufge-
hoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Miß-
brauchs seiner am 15. Juni 1982 geborenen Stieftochter Janine A. in
sechs Fällen - begangen zwischen dem 15. Juni 1992 und dem 15. Juni
1994/1995 - freigesprochen. Hiergegen richtet sich die - vom Generalbundes-
anwalt vertretene - Revision der Staatsanwaltschaft, mit der die Beweiswürdi-
gung des Landgerichts in sachlich-rechtlicher Hinsicht beanstandet wird. Das
Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat den Angeklagten, der den Tatvorwurf pauschal
bestritten hat, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es Zweifel an
der Glaubhaftigkeit der Aussage der Geschädigten Janine A. nicht zu
überwinden vermochte. Die Beweiswürdigung der Jugendkammer hält rechtli-
cher Nachprüfung nicht stand.
- 4 -
Zwar ist es vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen, wenn der
Tatrichter deshalb freispricht, weil er Zweifel an der Schuld des Angeklagten
nicht überwinden kann. Denn die Würdigung der erhobenen Beweise ist
grundsätzlich allein Sache des Tatrichters. Revisionsrechtlich überprüfbar ist
insoweit lediglich, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler
unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung wider-
sprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wesentliche Feststellungen unberück-
sichtigt läßt oder naheliegende Schlußfolgerungen nicht erörtert, gegen Geset-
ze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder an die zur Verur-
teilung erforderliche Gewißheit überspannte Anforderungen stellt (st. Rspr.; vgl.
nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2 m. w. N.). Bestreitet der Angeklagte
wie hier den Tatvorwurf pauschal und hängt die Entscheidung allein davon ab,
ob der vermeintlich Geschädigten zu glauben ist, so muß der Tatrichter im
Rahmen einer Gesamtschau erkennen lassen, daß er alle Umstände, die ge-
eignet sind, seine Entscheidung zu beeinflussen, erkannt und in seine Überle-
gungen einbezogen hat (BGH NStZ-RR 2002, 174 m. w. N.). Dies gilt auch
dann, wenn ein Angeklagter deshalb freigesprochen wird, weil sich das Tatge-
richt von der Richtigkeit der belastenden Aussage nicht überzeugen konnte.
Die erforderliche umfassende Abwägung ist in den Urteilsgründen darzustellen
(BGH aaO).
An diesen Grundsätzen gemessen erweist sich die Beweiswürdigung
des Urteils als rechtsfehlerhaft.
a) Zur Aussage der Geschädigten Janine A. wird lediglich mitge-
teilt, sie habe in der Hauptverhandlung "den angeklagten Sachverhalt voll re-
produziert". Mit dieser Wendung wird die Jugendkammer unter den gegebenen
- 5 -
Umständen den Darstellungsanforderungen nicht gerecht. Insbesondere fehlt
die Darstellung der tatbezogenen Realkennzeichen, die nach den Ergebnissen
des Glaubwürdigkeitsgutachtens der psychologischen Sachverständigen
Dr. W. in den Bekundungen vorhanden waren (UA S. 9). Infolge dieses Man-
gels läßt das Urteil nicht die Nachprüfung zu, ob - worauf die Jugendkammer
entscheidungstragend abstellt - spezifische Befragungen der Mutter der Ge-
schädigten, der Zeugin Ilka A. , die geeignet gewesen sein könnten, die
Aussage ihrer Tochter zu beeinflussen, tatsächlich nicht ausgeschlossen wer-
den können.
b) Auch zur Entstehung der Aussage der Geschädigten, die in Fällen
wie dem vorliegenden kritisch zu prüfen und aufzuklären ist (BGH NStZ 1999,
45; 2000, 496, 497), ist die Darstellung im angefochtenen Urteil unzureichend.
Zwar stellt die Jugendkammer fest, daß sich die Zeugin Ilka A. am
1. Oktober 1999 telefonisch an den "Wendekreis Elmshorn" - eine "Anlauf- und
Beratungsstelle gegen sexuellen Kindesmißbrauch" - wandte. In diesem Zu-
sammenhang bleibt aber wegen der Formulierung, die Halbschwestern der Ge-
schädigten Lisa und Kathrin "sollen" vom gemeinsamen Duschen mit dem An-
geklagten, der dabei eine Erektion bekomme, berichtet haben (UA S. 5), offen,
ob die Jugendkammer von diesem - im übrigen auch für den Tatvorwurf mögli-
cherweise indiziell bedeutsamen - Vorfall überzeugt ist und er Auslöser für die
ersten Aktivitäten der Mutter der Geschädigten und die belastenden Aussagen
der Geschädigten war.
Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
- 6 -
2. Die Anklage gibt Anlaß zu dem Hinweis, daß für den Fall der Schuld-
feststellung die Verjährung der in Tateinheit angeklagten Vorwürfe des sexuel-
len Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen zu prüfen sein wirdEin Ruhen der
Verjährung scheidet insoweit aus, weil der sexuelle Mißbrauch von Schutzbe-
fohlenen (§ 174 StGB) nicht in die Regelung des § 78 b StGB einbezogen ist
(vgl. BGH, Beschl. vom 5. Mai 1998 - 4 StR 151/98;Tröndle/Fischer, StGB
50. Aufl. § 78 b Rdn. 3 a aE). Das tateinheitliche Zusammentreffen mit dem
(nicht verjährten) sexuellen Mißbrauch eines Kindes berührt den Lauf der Ver-
jährungsfrist des sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen nicht (BGH
NStZ 1990, 80, 81).
Tolksdorf Miebach RiBGH Winkler ist in Urlaub
und deswegen an der Unter-
schrift gehindert.
Tolksdorf
Pfister Hubert