Urteil des BGH vom 06.05.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ARZ 65/13
vom
6. Mai 2013
in dem Gerichtsstandsbestimmungsverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 3; Brüssel I-VO Art. 16 Abs. 1
a) § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO findet Anwendung, wenn hinsichtlich eines Antragsgegners
im Inland lediglich ein besonderer Gerichtsstand nach unionsrechtlichen Zustän-
digkeitsbestimmungen begründet ist und die anderen Antragsgegner ihren allge-
meinen Gerichtsstand im Inland haben.
b) Ergibt sich der Gerichtsstand eines Antragsgegners aus einer abschließenden
Zuständigkeitsbestimmung der Brüssel-I-Verordnung, ist das Auswahlermessen
des Gerichts im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO eingeschränkt.
BGH, Beschluss vom 6. Mai 2013 - X ARZ 65/13 - OLG München
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Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Mai 2013 durch den Vor-
sitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richterin Mühlens und die Richter
Gröning, Hoffmann und Dr. Deichfuß
beschlossen:
Als zuständiges Gericht wird das Landgericht Stuttgart bestimmt.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin, die in Stuttgart wohnt, beabsichtigt, die Antragsgeg-
nerinnen wegen einer gescheiterten Kapitalanlage aus Prospekthaftung auf Scha-
densersatz in Anspruch zu nehmen. Nach ihrem Vortrag beteiligte sie sich an einem
in München aufgelegten geschlossenen Medienfonds. Die Antragsgegnerin zu 1 ist
nach dem Vorbringen der Antragstellerin die Initiatorin und Prospektherausgeberin
des Fonds, die Antragsgegnerin zu 2 die Treuhänderin, mit der Antragsgegnerin zu 3
habe sie einen obligatorischen Finanzierungsvertrag geschlossen.
Die Antragsgegnerinnen zu 1 und zu 2 haben ihren Sitz im Bezirk des Landge-
richts München I, die Antragsgegnerin zu 3 ist in Irland ansässig.
Die Antragstellerin hat beim Oberlandesgericht München beantragt, ein zu-
ständiges Gericht zu bestimmen, ohne ein bestimmtes Gericht zu bezeichnen. Das
Oberlandesgericht München hat die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung
des zuständigen Gerichts vorgelegt.
II.
Die Vorlage ist gemäß § 36 Abs. 3 ZPO zulässig.
Nach § 36 Abs. 3 ZPO hat ein Oberlandesgericht, das mit der Zuständigkeits-
bestimmung befasst ist, die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen, wenn es in
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einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des
Bundesgerichtshofs abweichen will. Diese Voraussetzungen liegen vor.
Das vorlegende Oberlandesgericht vertritt den Standpunkt, das Gericht sei im
nationalen Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht zwingend auf
das nach Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember
2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel-I-VO) zuständige Gericht fest-
gelegt. Der Anwendungsvorrang der Brüssel-I-Verordnung könne in Ausübung des
im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO eingeräumten Auswahlermessens über-
wunden werden. Damit würde es von der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts
Frankfurt am Main abweichen, das der Ansicht ist, die Regelung des Art. 16 Brüssel-
I-VO führe bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts zu einer Beschränkung des
Auswahlermessens insoweit, als die dort geregelten ausschließlichen Zuständigkei-
ten zwingend zu beachten seien (OLG Frankfurt am Main, ZIP 2013, 387; ebenso mit
Blick auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b Brüssel-I-Verordnung KG, VersR 2007, 1007).
III.
Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36
Abs. 1 Nr. 3 ZPO liegen vor.
1.
Die Antragsgegnerinnen können als Streitgenossen im Sinne des
§ 60 ZPO verklagt werden. Die Norm beruht weitgehend auf Zweckmäßigkeitserwä-
gungen und ist deshalb grundsätzlich weit auszulegen. Dies gestattet es, auch ohne
Identität oder Gleichheit des tatsächlichen und rechtlichen Grundes der geltend zu
machenden Ansprüche Streitgenossenschaft anzunehmen, wenn diese Ansprüche in
einem inneren sachlichen Zusammenhang stehen, der sie ihrem Wesen nach als
gleichartig erscheinen lässt (BGH, Beschluss vom 3. Mai 2011 - X ARZ 101/11,
NJW-RR 2011, 1137 Rn. 18; BGH, Beschluss vom 23. Mai 1990 - I ARZ 186/90,
MDR 1991, 222 f. = NJW-RR 1991, 381). Ein solcher Zusammenhang ist auch im
Streitfall gegeben. Er ergibt sich daraus, dass die Antragstellerin die Antragsgegne-
rinnen auf Ersatz derselben Schäden in Anspruch nimmt, die ihr im Zusammenhang
mit der als einheitlichen Lebenssachverhalt zu beurteilenden Vermögensanlage ent-
standen sind. Dabei ist unerheblich, ob die Ansprüche gegen die Antragsgegnerin-
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nen auf unterschiedliche Verträge gestützt werden, die ihrerseits nicht in unmittelba-
rem rechtlichen Zusammenhang stehen (BGH, Beschluss vom 3. Mai 2011
- X ARZ 101/11, NJW-RR 2011, 1137 Rn. 18).
2.
Die Antragsgegnerinnen zu 1 und zu 2 einerseits und die Antrags-
gegnerin zu 3 andererseits haben verschiedene allgemeine Gerichtsstände. Wäh-
rend die Antragsgegnerinnen zu 1 und zu 2 ihren allgemeinen Gerichtsstand im Be-
zirk des Landgerichts München I haben, hat die Antragsgegnerin zu 3 keinen allge-
meinen inländischen Gerichtsstand. Zudem besteht für die Antragsgegnerinnen kein
gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand.
3.
Dem Antrag steht nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin zu 3 im In-
land keinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Für die in Irland ansässige Antragsgeg-
nerin zu 3 ist ein Gerichtsstand nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. c, Art. 16 Abs. 1 Brüssel-
I-VO am nach Art. 59 Abs. 1 Brüssel-I-VO in Verbindung mit § 7 BGB zu bestimmen-
den Wohnsitz der Antragstellerin und damit beim Landgericht Stuttgart begründet.
a)
Bei dem beabsichtigten Rechtsstreit um den obligatorischen Finanzie-
rungsvertrag, den die Antragstellerin als Bestandteil der Vermögensanlage mit der
Antragsgegnerin zu 3 geschlossen hat, handelt es sich um eine Verbrauchersache
im Sinne von Art. 15 Abs. 1 Brüssel-I-VO.
Dieser Begriff ist autonom zu bestimmen. Dabei ist eine enge Auslegung ge-
boten, weil die daran anknüpfende Zuständigkeitsregel eine Ausnahme von dem in
Art. 2 Abs. 1 Brüssel-I-VO normierten Grundsatz der Zuständigkeit des Gerichts am
Wohnsitz des Beklagten darstellt (EuGH, Urteil vom 20. Januar 2005 - C-464/01, Slg.
I-2005, 439 Rn. 31, 32, 43 - Gruber/BayWa AG). Die Verbrauchereigenschaft ist
nach der objektiven Stellung der betroffenen Person im Rahmen des konkreten Ver-
tragsverhältnisses in Verbindung mit dessen Natur und Zielsetzung zu bestimmen
(EuGH, Urteil vom 3. Juli 1997 - C-269/95, Slg. I-1997, 3767 Rn. 16 - Benincasa;
BGH, Urteil vom 28. Februar 2012 - XI ZR 9/11, WM 2012, 747 Rn. 28).
Nach diesen Grundsätzen ist das zugrundeliegende Geschäft im Hinblick da-
rauf, dass es sich vorliegend um eine Vermögensanlage zu privaten Zwecken han-
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delt, als Verbrauchersache anzusehen. Unerheblich ist insoweit, dass die konkrete
Form der Vermögensanlage als Beteiligung an einer Kommanditgesellschaft ausge-
staltet ist. Der Abschluss eines Darlehensvertrages ist dann von Art. 15 Abs. 1
Buchst. c Brüssel-I-VO erfasst, wenn der mit der Kreditaufnahme verfolgte Zweck
nicht mit der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit des Darlehensnehmers zusam-
menhängt (EuGH, Urteil vom 20. Januar 2005 - C-464/01, Slg. I-2005, 439 Rn. 39f. -
Gruber/BayWa AG; BGH, Urteil vom 28. Februar 2012 - XI ZR 9/11, WM 2012, 747
Rn. 27 ff.). Dies ist bei dem allein der Finanzierung der Beteiligung an dem Medien-
fonds zur privaten Vermögensanlage dienenden Darlehen der Fall (vgl. auch Kro-
pholler/v. Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., Art. 15 EuGVVO Rn. 20).
b)
Die Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 1 Brüssel-I-VO, der in seiner zwei-
ten Alternative nicht nur die internationale, sondern auch die örtliche Zuständigkeit
regelt, schließt zudem einen Rückgriff auf Art. 6 Nr. 1 Brüssel-I-VO aus, sodass auch
hieraus kein gemeinsamer Gerichtsstand für die Antragsgegnerinnen abgeleitet wer-
den kann.
Die Zuständigkeit für Verbrauchersachen ist in Kapitel II, Abschnitt 4 der Brüs-
sel-I-Verordnung abschließend geregelt. Insoweit hat der Gerichtshof der Europäi-
schen Union zu den in Kapitel II, Abschnitt 5 geregelten Zuständigkeiten für individu-
elle Arbeitsverträge entschieden, dass die darin aufgeführten Bestimmungen ab-
schließenden Charakter haben und jeden Rückgriff auf Art. 6 Nr. 1 der Verordnung
verbieten (EuGH, Urteil vom 22. Mai 2008 - C-462/06, Slg. I-2008, 3965 = EuZW
2008, 369 - Glaxosmithkline). Entsprechendes gilt für die in Kapitel II, Abschnitt 4 der
Brüssel-I-Verordnung geregelten Zuständigkeit bei Verbrauchersachen (Kropholler/
v. Hein, aaO, Art. 16 Rn. 1; Leible in Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht,
2. Aufl., Art. 6 Rn. 2; Corneloup/Althammer in Simons/Hausmann, Brüssel I-Verord-
nung, 2012, Art. 6 Rn. 41).
c)
§ 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO ist auch in Fällen anzuwenden, in denen hin-
sichtlich eines Antragsgegners im Inland lediglich ein besonderer Gerichtsstand nach
den unionsrechtlichen Zuständigkeitsbestimmungen begründet ist und die anderen
Antragsgegner ihren allgemeinen Gerichtsstand im Inland haben (BGH, Beschluss
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vom 19. März 1987 - I ARZ 903/86, NJW 1988, 646; Roth in Stein-Jonas, ZPO,
22. Aufl., § 36 Rn. 25; Hausmann in Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl., § 36 Rn. 39;
Lange in Prütting/Gehrlein, ZPO, 4. Aufl., § 36 Rn. 6). Danach ist der Anwendungs-
bereich des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO hier eröffnet.
IV.
Als zuständiges Gericht kommen das Landgericht München I und das
Landgericht Stuttgart in Betracht.
Das dem Gericht bei der Bestimmung des zuständigen Gerichtes nach
§ 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO eingeräumte Auswahlermessen ist jedoch insoweit einge-
schränkt, als der in Art. 16 Abs. 1 Brüssel-I-Verordnung statuierte Gerichtsstand am
Wohnsitz des Verbrauchers Vorrang genießt (Staudinger in Rauscher, Europäisches
Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Einl. Rn. 27; Leible, ebd., Art. 16 Rn. 1; Wagner,
WM 2003, 116; s. auch KG VersR 2007, 1007, 1008 zu Art. 9 Brüssel-I-VO). Die sich
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aus dem europäischen Zivilverfahrensrecht ergebende abschließende Zuständig-
keitsregel kann im Rahmen des Bestimmungsverfahrens nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO
- anders als die im nationalen Prozessrecht geregelten ausschließlichen Zuständig-
keiten - nicht überwunden werden, weil ansonsten der durch den europäischen Ge-
setzgeber im internationalen Zuständigkeitsrecht getroffene Interessenausgleich be-
einträchtigt würde. Als zuständiges Gericht ist daher das Landgericht Stuttgart zu
bestimmen.
Meier-Beck
Mühlens
Gröning
Hoffmann
Deichfuß
Vorinstanz:
OLG München, Entscheidung vom 07.02.2013 - 34 AR 373/12 -