Urteil des BGH vom 14.11.2013

Unangemessene Verfahrensdauer Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 376/12
Verkündet am:
14. November 2013
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
Unangemessene Verfahrensdauer
GVG § 198 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 6 Nr. 1, § 201 Abs. 4
a) Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1
Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles.
b) Unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verfahrensdauer
dann, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG
ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensfüh-
rung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des
Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19
Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichts-
verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.
c) Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungsrechtliche
Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht unberücksichtigt
bleiben. Dem Gericht muss in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und
Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Es benötigt einen Gestaltungsspielraum,
der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssa-
chen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es wel-
ches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Ver-
fahrenshandlungen dazu erforderlich sind.
BGH, Urteil vom 14. November 2013 - III ZR 376/12 - Oberlandesgericht Celle
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 14. November 2013 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter
Wöstmann, Seiters, Dr. Remmert und Reiter
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 23. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Celle vom 24. Oktober 2012 wird zurückge-
wiesen.
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil im Kostenpunkt
und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Beklagten erkannt
worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechts-
zugs, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger macht gegen das beklagte Land einen Anspruch auf Ent-
schädigung für immaterielle Nachteile wegen überlanger Dauer eines gegen ihn
gerichteten Strafverfahrens geltend.
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In einem gegen andere Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahren der
Staatsanwaltschaft H. wurde der Kläger am 4. Juli 2007 als Zeuge
staatsanwaltschaftlich zu der Frage vernommen, wann er ein bestimmtes Gut-
achten über altersgerechtes Wohnen erstellt habe. Der ermittelnde Staatsan-
walt äußerte in einem Vermerk vom 24. Oktober 2007 den "dringenden Ver-
dacht", dass der Kläger die Unwahrheit gesagt habe, und forderte für diesen
einen Bundeszentralregisterauszug an. Darüber hinaus veranlasste er, dass der
Kläger am 28. November 2007 richterlich als Zeuge vernommen und vereidigt
wurde. Ob ihm bei dieser Gelegenheit von Seiten des ermittelnden Staatsan-
walts mitgeteilt worden ist, dass gegen ihn wegen Meineides ermittelt werde, ist
zwischen den Parteien streitig.
Am 4. November 2009 wurde der Kläger als Beschuldigter eines Ermitt-
lungsverfahrens wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung und des
Meineids förmlich eingetragen und zu den Tatvorwürfen angehört. Am 5. Feb-
ruar 2010 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Amtsgericht H. .
Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 9. April 2010 eine umfassende Einlas-
sung abgegeben und die Staatsanwaltschaft hierzu am 29. April 2010 Stellung
genommen hatte, beantragte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 12. Mai 2010
die Gewährung einer (weiteren) Einlassungsfrist bis Ende Juni 2010. Die ange-
kündigte Erklärung des Verteidigers erfolgte nicht. Mit Beschluss vom 23. Juni
2011, rechtskräftig seit 1. Juli 2011, lehnte das Amtsgericht die Eröffnung des
Hauptverfahrens ab. In einem dem Kläger am 1. September 2011 zugegange-
nen gerichtlichen Schreiben wurde er über den Eintritt der Rechtskraft des
Nichteröffnungsbeschlusses informiert.
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- 4 -
Das Oberlandesgericht hat das beklagte Land unter Klageabweisung im
Übrigen verurteilt, an den Kläger eine immaterielle Entschädigung wegen über-
langer Verfahrensdauer in Höhe von 3.000
€ nebst Zinsen zu zahlen. Gleichzei-
tig hat es die Revision zugelassen "wegen der grundsätzlichen Bedeutung im
Hinblick auf die Anforderungen an die Darlegungslast des Klägers in Strafver-
fahren und die Frage, ob und inwieweit sich Fehler der Strafverfolgungsbehör-
den auf die Höhe der Entschädigung auswirken können".
Gegen dieses Urteil richten sich die Rechtsmittel beider Parteien. Der
Kläger verfolgt mit der Revision seinen auf Zahlung einer angemessenen Ent-
schädigung von mindestens 4.000
€ gerichteten Klageantrag weiter. Der Be-
klagte erstrebt mit Revision und (inhaltlich identischer) Anschlussrevision die
vollständige Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Revision des Beklagten
führt dagegen zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zu-
rückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
I.
Die Revisionen sind zulässig.
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Im Tenor des angefochtenen Urteils wurde die Revisionszulassung un-
eingeschränkt ausgesprochen. Den Entscheidungsgründen lässt sich nicht mit
der notwendigen Klarheit und Eindeutigkeit entnehmen, dass das Oberlandes-
gericht die Revision nur eingeschränkt zulassen, insbesondere nur dem Kläger
Gelegenheit zur Überprüfung des Urteils geben wollte (vgl. BGH, Urteile vom
8. Mai 2012 - XI ZR 261/10, NJW 2012, 2446 Rn. 6; vom 26. September 2012
- IV ZR 108/12, VersR 2013, 120 Rn. 7 und vom 19. April 2013 - V ZR 113/12,
NJW 2013, 1948 Rn. 10). Im Übrigen wäre angesichts der (zusätzlich) eingeleg-
ten Anschlussrevision das angefochtene Urteil auch dann auf Rechtsfehler zum
Nachteil des Beklagten zu überprüfen, wenn man den Gründen eine Beschrän-
kung der Revisionszulassung für eine einzelne Prozesspartei entnehmen wollte.
II.
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im We-
sentlichen ausgeführt:
Der maßgebliche Zeitraum für die Beurteilung, ob das gegen den Kläger
geführte Strafverfahren übermäßig lang gewesen sei, erstrecke sich von No-
vember 2007 bis zum 1. September 2011 (Mitteilung über den Eintritt der
Rechtskraft des Beschlusses vom 23. Juni 2011). Die Einschätzung des ermit-
telnden Staatsanwalts in dem Vermerk vom 24. Oktober 2007, es liege der
"dringende Verdacht" einer unwahren Aussage vor, und der Umstand, dass die
Strafverfolgungsbehörde einen Auszug aus dem Bundeszentralregister ange-
fordert habe, hätten dazu geführt, dass der Kläger von da an der Sache nach
als Beschuldigter behandelt worden sei. Spätestens seit der richterlichen Zeu-
genvernehmung vom 28. November 2007, in der ihm vermeintliche Unwahrhei-
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ten in seiner Aussage vorgehalten worden seien und nach der er auf Antrag des
anwesenden Staatsanwalts vereidigt worden sei, habe er davon ausgehen
müssen, dass er als Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren behandelt
werde. Ermittlungshandlungen seien von November 2007 bis zur förmlichen
Eintragung als Beschuldigter im November 2009 nicht erfolgt. Das Verfahren
sei mehr als zwei Jahre überhaupt nicht betrieben worden, so dass dem Kläger
für mindestens 24 Monate eine Entschädigung gemäß § 198 Abs. 1 i.V.m.
§ 199 GVG zustehe. Nach Anklageerhebung habe ab Juni 2010 keine nen-
nenswerte Verfahrensförderung mehr stattgefunden. Es sei weder dargelegt
noch erkennbar, warum das - allerdings recht umfangreiche - Verfahren nahezu
ein Jahr lang nicht mit dem Ziel einer Entscheidung über die Eröffnung des
Hauptverfahrens bearbeitet worden sei. Davon sei ein Zeitraum von sechs Mo-
naten als unangemessen verzögerte Verfahrensdauer anzusehen. Nach allem
ergebe sich im Rahmen der abschließend vorzunehmenden Gesamtwürdigung
eine von den Behörden des beklagten Landes zu verantwortende Verzögerung
von zwei Jahren und sechs Monaten. Bei Zugrundelegung des Regelsatzes der
Entschädigung für immaterielle Nachteile von 1.200
€ pro Jahr der Verzögerung
(§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) stehe dem Kläger ein Entschädigungsanspruch in
Höhe von 3.000
€ zu. Dieser Betrag sei nach den Umständen des Einzelfalls
nicht als unbillig anzusehen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG). Schuldhafte Verstöße
der Strafverfolgungsbehörden gegen die Vorgaben der Strafprozessordnung
- der Kläger sei trotz bestehenden Anfangsverdachts und entgegen § 62 StPO
zur Erlangung einer wahrheitsgemäßen Aussage vereidigt worden - rechtfertig-
ten jedenfalls im Regelfall keine Abweichung von der in § 198 Abs. 2 Satz 3
GVG vorgesehenen Pauschale.
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III. Die Revision des Beklagten
Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Erst-
urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht, soweit
zum Nachteil des beklagten Landes entschieden worden ist.
1.
Zutreffend und von der Revision nicht beanstandet geht das Oberlan-
desgericht davon aus, dass die verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen
Regelungen der §§ 198-201 GVG nach der Übergangsvorschrift des Art. 23
Satz 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren
und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24. November 2011
(BGBl. I S. 2302) auf den Streitfall Anwendung finden. Danach gilt dieses Ge-
setz auch für Verfahren, die bei seinem Inkrafttreten am 3. Dezember 2011
(gemäß Art. 24 ÜGRG) bereits anhängig waren, sowie für abgeschlossene Ver-
fahren, deren Dauer bei seinem Inkrafttreten Gegenstand von anhängigen Be-
schwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden:
EGMR) ist oder noch werden kann. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Das
vom Kläger als unangemessen lang angesehene Strafverfahren wurde durch
den Beschluss des Amtsgerichts vom 23. Juni 2011, rechtskräftig seit 1. Juli
2011, beendet und war damit bei Inkrafttreten des ÜGRG abgeschlossen. Die
sechsmonatige, mit der Bekanntmachung der endgültigen innerstaatlichen Ent-
scheidung beginnende Frist für eine Individualbeschwerde zum EGMR nach
Art. 35 Abs. 1 EMRK war zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Entschä-
digungsgesetzes noch nicht abgelaufen. Die Dauer des Verfahrens hätte somit
noch Gegenstand einer Beschwerde beim EGMR werden können. Einer Anru-
fung des EGMR bedurfte es nicht (Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl., § 198 Rn. 57).
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Durch die am 17. Februar 2012 eingereichte und am 3. April 2012 zuge-
stellte Klageschrift wurde die Ausschlussfrist des Art. 23 Satz 6 ÜGRG (3. Juni
2012) gewahrt.
2.
Die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass in die Beurteilung der Un-
angemessenheit der Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m.
§ 199 GVG auch der Zeitraum von November 2007 bis November 2009 einzu-
beziehen sei, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Mit rechtsfehlerhafter Begründung hat das Gericht angenommen, dass
der Kläger bereits seit dem 24. Oktober 2007, dem Tag der Anfertigung des
Vermerks des zuständigen Staatsanwalts, "als Beschuldigter behandelt wor-
den" sei.
aa) Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer
infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbetei-
ligter einen Nachteil erleidet. In zeitlicher Hinsicht erfasst der Begriff des Ge-
richtsverfahrens nach der Legaldefinition in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG alle Verfah-
rensstadien von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. Der Begriff
"Einleitung" meint alle Formen, mit denen ein Verfahren in Gang gesetzt wird,
unabhängig davon, ob dies durch Antrag oder Klageerhebung oder, wie im
Strafverfahren, von Amts wegen geschieht (BT-Drucks. 17/3802 S. 22; Ott in
Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren,
§ 198 GVG Rn. 51, 53 und § 199 GVG Rn. 6; Kissel/Mayer aaO § 198 Rn. 7).
§ 199 Abs. 1 GVG erstreckt den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer
auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren. Dieses ist eingeleitet, sobald die
Staatsanwaltschaft (§ 160 Abs. 1 StPO) oder eine Behörde oder ein Beamter
des Polizeidienstes (§ 163 StPO) eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf
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abzielt, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen (Meyer-Goßner, StPO,
56. Aufl., Einl. Rn. 60). Dabei ist Beschuldigter derjenige, gegen den polizeiliche
oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen des Verdachts einer strafba-
ren Handlung geführt werden. Die Beschuldigteneigenschaft kann nur durch
einen Willensakt der zuständigen Strafverfolgungsbehörde begründet werden,
der regelmäßig in der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens liegt.
Ausreichend ist es aber auch, wenn gegen den Betroffenen faktische Maßnah-
men ergriffen werden, die erkennbar zum Ziel haben, ihn als Täter einer Straftat
zu überführen (HK-StPO-Zöller, 5. Aufl., § 157 Rn. 1 und § 160 Rn. 6; KK-
Griesbaum, StPO, 7. Aufl., § 160 Rn. 14; Meyer-Goßner aaO Rn. 76).
bb) Nach diesem Maßstab ist nach Aktenlage gegen den Kläger erstmals
mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 4. November 2009 ein Ermittlungs-
verfahren wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung und des Mein-
eids eingeleitet worden. Zu diesem Zeitpunkt wurde er als Beschuldigter förm-
lich eingetragen und anschließend zu den Tatvorwürfen angehört. Demgegen-
über kann der (bloße) Vermerk des den Kläger als Zeugen vernehmenden
Staatsanwalts vom 24. Oktober 2007, es bestehe der "dringende Verdacht" un-
wahrer Angaben, noch nicht als förmliche Einleitung eines Ermittlungsverfahren
angesehen werden, zumal in der Folgezeit keine Maßnahmen ergriffen wurden,
die erkennbar darauf abzielten, den Kläger einer Straftat zu überführen. Die
bloße Anforderung eines Bundeszentralregisterauszugs kann ebenso wenig als
eine solche Maßnahme angesehen werden wie der Antrag, den Kläger ermitt-
lungsrichterlich als Zeugen zu vernehmen.
b) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts erweist sich aber auch un-
ter einem weiteren Gesichtspunkt als rechtsfehlerhaft.
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aa) In Strafsachen beginnt der nach § 198 Abs. 1 GVG zu beurteilende
Zeitraum für den Beschuldigten nicht bereits mit der Einleitung eines Ermitt-
lungsverfahrens, sondern - der förmlichen Einleitung regelmäßig nachfolgend -
erst mit der Eröffnung der Beschuldigung oder mit einer die Person ernsthaft
beeinträchtigenden Ermittlungsmaßnahme (BT-Drucks. 17/3802 S. 24; Kissel/
Mayer aaO § 198 Rn. 13; Ott aaO § 199 GVG Rn. 6; vgl. auch BVerfG, NJW
1993, 3254, 3256; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 196 jeweils zu
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK).
bb) Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts musste der Kläger
deshalb, weil ihm im Rahmen seiner Zeugenvernehmung vermeintliche Un-
wahrheiten seiner Aussage vorgehalten wurden und er auf Antrag der Staats-
anwaltschaft vereidigt wurde, nicht davon ausgehen, dass er nunmehr als Be-
schuldigter in einem Ermittlungsverfahren behandelt werde; erst recht kann
hierin nicht die "offizielle Mitteilung" der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens
gesehen werden.
Bei Vorhalten handelt es sich um übliche Vernehmungsbehelfe, die allein
für die Prüfung der Glaubwürdigkeit und die Auffrischung des Gedächtnisses
des Zeugen von Bedeutung sind (Meyer-Goßner aaO § 69 Rn. 7). Nach § 59
Abs. 1 StPO kann die Vereidigung erfolgen, wenn dies vom Gericht nach des-
sen Ermessen auf Grund der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder
zur Herbeiführung einer wahren Aussage für erforderlich gehalten wird. Dem-
gemäß enthalten weder der Antrag auf Vereidigung noch die Vereidigung selbst
die (konkludente) Mitteilung oder auch nur einen Hinweis darauf, dass gegen
den Zeugen wegen des konkreten Verdachts einer strafbaren Handlung ermit-
telt wird. Dies ist nicht deshalb anders zu beurteilen, weil außerhalb der Haupt-
verhandlung im vorbereitenden Verfahren die Vereidigung eines Zeugen nur bei
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Vorliegen weiterer - vorliegend nicht gegebener - Voraussetzungen (Gefahr im
Verzug; voraussichtliche Verhinderung am Erscheinen in der Hauptverhand-
lung, vgl. § 62 StPO) zulässig ist. Der Umstand, dass die Vernehmung eines
Zeugen unter Verletzung strafprozessualer Vorschriften erfolgt, kann nicht zu
einer Änderung der Zielrichtung dieses Vorgangs dergestalt führen, dass die
Vernehmung nunmehr als Maßnahme gegen einen Beschuldigten zu bewerten
ist.
Dass der Kläger durch eine sonstige konkrete Maßnahme der Strafver-
folgung, die wegen eines Verdachts gegen ihn getroffen wurden, ernsthaft be-
einträchtigt wurde (z.B. Haftbefehl, Festnahme, Durchsuchungs- oder Be-
schlagnahmeanordnung), hat das Oberlandesgericht nicht festgestellt.
c) Der Beklagte hat den Vortrag des Klägers, im Zusammenhang mit der
richterlichen Vernehmung vom 28. November 2007 sei ihm durch den ermit-
telnden Staatsanwalt mitgeteilt worden, gegen ihn werde ein Ermittlungsverfah-
ren wegen des Verdachts des Meineids geführt, bestritten. Da das Oberlandes-
gericht die Richtigkeit dieses Vorbringens - das sowohl für die Einleitung eines
Ermittlungsverfahrens als auch für die Kundgabe der Verfahrenseinleitung von
Bedeutung sein könnte - ausdrücklich offen gelassen hat, ist bei der revisions-
gerichtlichen Nachprüfung zugunsten der Revision des Beklagten zu unterstel-
len, dass der Staatsanwalt eine derartige Äußerung nicht getan hat.
3.
Soweit das Oberlandesgericht angenommen hat, dass die Entscheidung
des Amtsgerichts über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 ff StPO) um
sechs Monate verzögert ergangen sei, hält dies rechtlicher Überprüfung eben-
falls nicht stand, da für die diesbezügliche Beurteilung wesentliche Umstände
unberücksichtigt geblieben sind.
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a) Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von
§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles,
insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach
dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG
benennt die Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders
bedeutsam sind, nur beispielhaft ("insbesondere") und ohne abschließenden
Charakter (BT-Drucks. 17/3702 S. 18). Ein weiteres bedeutsames Kriterium zur
Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer ist die Verfahrensführung
durch das Gericht, die unter Berücksichtigung des den Gerichten zukommen-
den Gestaltungsspielraums zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten
Kriterien in Bezug zu setzen ist (vgl. BVerwG, Urteile jeweils vom 11. Juli 2013
- 5 C 23.12 D, BeckRS 2013, 55758 Rn. 40 f und 5 C 27.12 D, BeckRS 2013,
56027 Rn. 32 f; Ott aaO § 198 GVG Rn. 128).
Eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange
dauert, ist nicht möglich und würde im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit
bereits an der Vielgestaltigkeit der Verfahren und prozessualen Situationen
scheitern. Mit der Entscheidung des Gesetzgebers, dass sich die Angemessen-
heit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 198
Abs. 1 Satz 2 GVG), wurde bewusst von der Einführung bestimmter Grenzwerte
für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen. Die Ausrichtung
auf den Einzelfall ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut des Gesetzes, wird
durch dessen Entstehungsgeschichte bestätigt (dazu Steinbeiß-Winkelmann
aaO Einführung Rn. 236 ff) und entspricht dem in den Gesetzesmaterialien klar
zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers (BT-Drucks. 17/3802
S. 18). Der Verzicht auf allgemeingültige Zeitvorgaben schließt es regelmäßig
aus, die Angemessenheit der Verfahrensdauer allein anhand statistischer
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Durchschnittswerte zu ermitteln (vgl. BVerwG aaO 5 C 23.12 D Rn. 28 ff und
5 C 27/12 D Rn. 20 ff; siehe auch BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 - B 10 ÜG
1/12 KL, juris Rn. 25 ff zu dem Sonderfall des Verfahrens der Nichtzulassungs-
beschwerde nach dem SGG: statistische Zahlen als "hilfreicher Maßstab").
Ebenso wenig kommt ein Evidenzkriterium in dem Sinne in Betracht, dass eine
bestimmte Verfahrensdauer schon für sich genommen ohne Einzelfallprüfung
als unangemessen eingestuft werden müsste (vgl. Ott aaO § 198 GVG Rn. 88).
Feste Zeitvorgaben können auch der Rechtsprechung des EGMR zu
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht entnommen werden (siehe dazu die Übersicht
bei Meyer-Ladewig aaO Art. 6 Rn. 199 ff, insbesondere Rn. 207 f). Auch das
Bundesverfassungsgericht hat keine festen Zeitgrenzen aufgestellt und beurteilt
die Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, stets nach
den besonderen Umständen des einzelnen Falles (vgl. BVerfG, NJW 1997,
2811, 2812; Beschluss vom 22. August 2013 - 1 BvR 1067/12, juris Rn. 30, 32
mwN).
b) Unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verfah-
rensdauer dann, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1
Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der
Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen
Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20
Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflich-
tung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu
bringen, verletzt ist (vgl. BVerwG aaO 5 C 23.12 D Rn. 37 und 5 C 27.12 D
Rn. 29).
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Der unbestimmte Rechtsbegriff der "unangemessenen Dauer eines Ge-
richtsverfahrens" (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG) und die ihn ausfüllenden Merkmale
im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG müssen unter Rückgriff auf die Grund-
sätze näher bestimmt werden, die der EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und
das Bundesverfassungsgericht zum Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19
Abs. 4 GG) und zum Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 20 Abs. 3 GG) entwickelt haben, zumal diese gefestigte Rechtsprechung
dem Gesetzgeber bei der Textfassung des § 198 Abs. 1 GVG zum Vorbild dien-
te (vgl. BT-Drucks. 17/3802 S. 18; BVerwG aaO 5 C 23.12 D Rn. 38 und 5 C
27.12 D Rn. 30).
Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist als maßgebli-
cher Zeitraum die Gesamtverfahrensdauer, wie sie § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG de-
finiert (vgl. Ott aaO § 198 GVG Rn. 78). Dies hat zur Konsequenz, dass Verzö-
gerungen, die in einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrens-
abschnitten eingetreten sind, nicht zwingend die Unangemessenheit der Ver-
fahrensdauer bewirken. Es ist vielmehr im Rahmen einer abschließenden Ge-
samtabwägung zu überprüfen, ob Verzögerungen innerhalb einer späteren
Phase des Verfahrens kompensiert wurden (vgl. BVerwG aaO 5 C 23.12 D
Rn. 44; Ott aaO § 198 GVG Rn. 79, 100 f). Hierbei muss auch in den Blick ge-
nommen werden, dass die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förde-
rung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, mit zunehmender Verfah-
rensdauer sich verdichtet (vgl. nur Senatsurteil vom 4. November 2010 - III ZR
32/10, BGHZ 187, 286 Rn. 11 mwN).
Durch die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs ge-
mäß § 198 GVG an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtlicher
Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19
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Abs. 4 GG) wird deutlich gemacht, dass die durch die lange Verfahrensdauer
verursachte Belastung einen gewissen Schweregrad erreichen muss. Es reicht
nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus. Vielmehr
muss die Verfahrensdauer eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Be-
rücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als
sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt (vgl. BVerfG,
NVwZ 2013, 789, 791 f; BVerwG aaO 5 C 23.12 D Rn. 39 und 5 C 27.12 D
Rn. 31; siehe auch BSG aaO Rn. 26: "deutliche Überschreitung der äußersten
Grenze des Angemessenen").
c) Wie bereits dargelegt, ist ein bedeutsames Kriterium zur Beurteilung
der Angemessenheit der Dauer eines Gerichtsverfahrens auch die Verfahrens-
führung durch das Gericht. Zu prüfen ist, ob Verzögerungen, die mit der Verfah-
rensführung im Zusammenhang stehen, bei Berücksichtigung des dem Gericht
zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind. Dabei kann
die Verfahrensführung nicht isoliert für sich betrachtet werden. Sie muss viel-
mehr zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien in Bezug gesetzt
werden. Maßgebend ist, ob das Gericht gerade in Relation zu jenen Gesichts-
punkten den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer in jeden-
falls vertretbarer Weise gerecht geworden ist, wobei das Ausgangsgericht die
Sach- und Rechtslage aus seiner Sicht ex ante einschätzen durfte (vgl. BVerwG
aaO 5 C 23.12 D Rn. 41 und 5 C 27.12 D Rn. 33).
Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungs-
rechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht un-
berücksichtigt bleiben. Da die zügige Erledigung eines Rechtsstreits kein
Selbstzweck ist und das Rechtsstaatsprinzip die grundsätzlich umfassende tat-
sächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu beru-
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fene Gericht verlangt (Senatsurteil vom 4. November 2010 aaO Rn. 14), muss
dem Gericht in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbei-
tungszeit zur Verfügung stehen. Es benötigt einen Gestaltungsspielraum, der es
ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssa-
chen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es
welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und
welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind. Erst wenn die Verfah-
renslaufzeit in Abwägung mit den weiteren Kriterien im Sinne von § 198 Abs. 1
Satz 2 GVG auch bei Berücksichtigung dieses Gestaltungsspielraums sachlich
nicht mehr zu rechtfertigen ist, liegt eine unangemessene Verfahrensdauer vor
(vgl. Senatsurteil vom 4. November 2010 aaO Rn. 14; BSG aaO Rn. 27;
BVerwG aaO 5 C 23.12 D Rn. 42 und 5 C 27.12 D Rn. 34; Ott aaO § 198 GVG
Rn. 81, 127 f; Stahnecker, Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren,
Rn. 97).
d) Die Überprüfung der Verfahrensführung im Ausgangsprozess obliegt
grundsätzlich dem Tatrichter, der über die Entschädigungsklage entscheidet.
Bei der Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter den unbestimmten
Rechtsbegriff der Angemessenheit der Verfahrensdauer hat das Revisionsge-
richt den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum zu respektieren und ist in seiner
Prüfung darauf beschränkt, ob der rechtliche Rahmen verkannt, Denkgesetze
oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob alle für die Beurteilung we-
sentlichen Umstände berücksichtigt und angemessen abgewogen worden sind
(vgl. Senatsurteil vom 4. November 2010 aaO Rn. 18; Musielak/Ball, ZPO, 10.
Aufl., § 546 Rn. 12).
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Unter Berücksichtigung dieses Prüfungsmaßstabs und der zuvor erörter-
ten Grundsätze erweist sich die Auffassung des Oberlandesgerichts, das ge-
richtliche Verfahren sei seit Juni 2010 um sechs Monate unangemessen verzö-
gert worden, als rechtsfehlerhaft, da das Gericht, wie die Revision zu Recht be-
anstandet, nicht alle für die Abwägungsentscheidung nach § 198 Abs. 1 GVG
maßgeblichen Umstände gewürdigt hat.
Das Oberlandesgericht beschränkt sich auf die Feststellung, dass seit
Juni 2010 eine nennenswerte Verfahrensförderung nicht mehr stattgefunden
habe und der Verfahrensinhalt im Wesentlichen aus zwei Anfragen des Klägers
vom 27. September und 31. Oktober 2010 sowie einem (richterlichen) Vermerk
aus dem Februar 2011 bestehe, der nahelege, dass eine Einlassung des Klä-
gers nicht mehr erfolgen werde. In die an den Merkmalen des § 198 Abs. 1
Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Um-
stände des Einzelfalls hätte das Oberlandesgericht jedoch - unter Berücksichti-
gung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums - noch weitere Gesichtspunkte
einbeziehen müssen.
aa) Es fehlt eine nähere Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit des
Verfahrens, die sich insbesondere daraus ergab, dass es für ein amtsgerichtli-
ches Verfahren einen überdurchschnittlichen Umfang hatte (fünf Aktenbände
und vier zum Teil sehr umfangreiche Sonderhefte), ein ebenso umfangreiches
Parallelverfahren gegen Dritte (Az.: 5524 Js 46572/07) auszuwerten war und
die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens eine komplexe Be-
weiswürdigung zahlreicher Indizien erforderlich machte.
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bb) Was das Verhalten des Klägers betrifft, hätte das Gericht in seine
Abwägung einbeziehen müssen, dass dieser mit Schreiben vom 2. Februar
2011 den (unzutreffenden) Eindruck erweckte, sein Verteidiger verfüge über
zusätzliche Informationen, die in einer (weiteren) schriftlichen Stellungnahme
aufbereitet würden. Dass das Strafverfahren den Kläger insbesondere in per-
sönlicher und beruflicher Hinsicht unverhältnismäßig belastet hat, ist nicht er-
sichtlich. Wie das Amtsgericht in dem die Eröffnung ablehnenden Beschluss
ausgeführt hat, bestand der Anfangsverdacht einer strafbaren Handlung zu
Recht; das Gericht hatte lediglich Zweifel hinsichtlich der Verurteilungswahr-
scheinlichkeit im Sinne von § 203 StPO. Soweit der Kläger unter Hinweis auf
die Berufsordnung für Ärzte den drohenden Verlust der ärztlichen Approbation
geltend machte, beschränkten sich seine Ausführungen auf formelhafte und
nichtssagende Wendungen.
cc) Schließlich bleibt unerörtert, dass das Amtsgericht ausweislich des
vom Oberlandesgericht zitierten Vermerks den Ausgang des vorerwähnten Pa-
rallelverfahrens 5524 Js 46572/07 in nicht zu beanstandender Weise abgewar-
tet hat, um die schriftlichen Gründe des Urteils des Landgerichts Hi.
vom 15. Februar 2011, aus denen sich wesentliche Gesichtspunkte zu Gunsten
des Kläger ergaben, in die eigene Beweiswürdigung einbeziehen zu können.
4.
Die Revision des Beklagten führt demnach zur Aufhebung des angefoch-
tenen Urteils, soweit zum Nachteil des Beklagten entschieden worden ist. Im
Umfang der Aufhebung ist die Sache an das Oberlandesgericht zur neuen Ver-
handlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Mangels Entscheidungsreife
ist eine eigene Entscheidung des Senats nicht möglich (§ 563 Abs. 1 Satz 1,
Abs. 3, § 562 Abs. 1 ZPO).
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Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: Im Ent-
schädigungsprozess gilt - wie auch sonst im Zivilprozess - der Beibringungs-
grundsatz. Der Entschädigungskläger muss die Tatsachen vortragen und gege-
benenfalls beweisen, die nach seiner Auffassung eine unangemessene Dauer
des Ausgangsverfahrens begründen. Unerheblich ist, ob es sich bei dem Aus-
gangsverfahren um einen Zivilprozess oder ein Strafverfahren handelt. Nicht
anders als im Amtshaftungsprozess hat der Kläger die konkreten gerichtlichen
Maßnahmen beziehungsweise Unterlassungen zu benennen, die aus seiner
Sicht eine vermeidbare Verzögerung des Rechtsstreits zur Folge hatten. Eine
bloße Bezugnahme auf die Akten des Ausgangsverfahrens reicht für einen
schlüssigen Klagevortrag nicht aus. Bei gerichtsorganisatorischen Mängeln und
Defiziten sowie sonstigen Umständen, die im Bereich der Justiz liegen und dem
Einblick des Klägers entzogen sind, wird demgegenüber seitens der Gerichts-
verwaltung Erklärungsbedarf bestehen (vgl. BT- Drucks. 17/3802 S. 25; Kissel/
Mayer aaO § 198 Rn. 39; Ott aaO § 198 GVG Rn. 244; siehe auch Senatsurteil
vom 11. Januar 2007 - III ZR 302/05, BGHZ 170, 260 Rn. 22).
IV. Die Revision des Klägers
Das Rechtsmittel ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil hält den
Angriffen der Revision stand.
1.
Soweit der Kläger rügt, das Oberlandesgericht hätte bei der Bewertung
der unangemessenen Verfahrensdauer den Zeitraum von Ende April 2010 bis
zum 1. September 2011 zugrunde legen müssen, zeigt die Revision keine Um-
stände auf, die zum Nachteil des beklagten Landes in die abschließende Ge-
samtabwägung zusätzlich einzustellen gewesen wären mit der Folge, dass das
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Oberlandesgericht über die bereits festgestellten sechs Monate hinaus zu einer
Verfahrensverzögerung von weiteren zehn Monaten hätte gelangen müssen.
Unabhängig davon, wie die Dauer des Ermittlungsverfahrens einzuschätzen ist,
enthält die Würdigung des Oberlandesgerichts nach Maßgabe der unter III. 3 d
dargestellten Gesichtspunkte keine Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers.
Da der Beschluss des Amtsgerichts vom 23. Juni 2011 am 1. Juli 2011
formell rechtskräftig wurde, war der nachfolgende Zeitraum bis zum 1. Septem-
ber 2011 (Benachrichtigung des Klägers über den Eintritt der Rechtskraft) für
die Entschädigungsfrage ohnehin bedeutungslos (§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG).
2.
Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand des Klägers, das Oberlandesgericht
hätte den Regelsatz für die Bemessung der Entschädigung für immaterielle
Nachteile (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG um
50 % erhöhen müssen.
§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG sieht zur Bemessung der Höhe der Entschädi-
gung für immaterielle Nachteile einen Pauschalsatz in Höhe von 1.200 € für
jedes Jahr der Verzögerung vor. Ist dieser Betrag nach den Umständen des
Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag
festsetzen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG). Mit der Pauschalierung unter Verzicht
auf einen einzelfallbezogenen Nachweis sollen Streitigkeiten über die Höhe der
Entschädigung, die eine zusätzliche Belastung der Gerichte bedeuten würden,
vermieden werden. Zugleich ermöglicht dies eine zügige Erledigung der Ent-
schädigungsansprüche im Interesse der Betroffenen (Stahnecker aaO Rn. 146;
vgl. auch BT-Drucks. 17/3802 S. 20). Im Hinblick auf den eine Verfahrensver-
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einfachung anstrebenden Gesetzeszweck ist der Tatrichter nur bei Vorliegen
besonderer Umstände gehalten, von dem normierten Pauschalsatz aus Billig-
keitserwägungen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) abzuweichen. Dabei ist insbeson-
dere an Fälle zu denken, in denen die Verzögerung zur Fortdauer einer Frei-
heitsentziehung oder einer schwerwiegenden Persönlichkeitsverletzung geführt
hat (vgl. Schenke, NVwZ 2012, 257, 262; Stahnecker aaO Rn. 148; siehe auch
Ott aaO § 198 GVG Rn. 227 aE). Derartige Umstände macht die Revision nicht
geltend. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Der drohende Verlust der ärztli-
chen Approbation wird vom Kläger ohne hinreichenden tatsächlichen Hinter-
grund in den Raum gestellt.
Soweit der Kläger meint, schuldhafte Verfahrensverstöße der Strafverfol-
gungsbehörden (hier: im Zusammenhang mit seiner Vereidigung) würden eine
Erhöhung des Regelbetrages rechtfertigen, vermag er einen Rechtsfehler nicht
aufzuzeigen. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass § 198 GVG einen
"staatshaftungsrechtlichen Anspruch sui generis" normiert, der einen Ausgleich
für die Nachteile gewährt, die "durch die Verfahrensdauer" im Verantwortungs-
bereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers verursacht werden (BT-
Drucks. 17/3802 S. 19). Haftungsgrund für den Entschädigungsanspruch we-
gen unangemessener Verfahrensdauer ist allein die Verletzung des Rechts ei-
nes Verfahrensbeteiligten auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in
angemessener Zeit (vgl. BSG aaO Rn. 25). Auf die Frage, ob der Richter oder
ein sonstiger Angehöriger der Justizverwaltung pflichtwidrig oder schuldhaft
gehandelt hat, kommt es - anders als bei der Amtshaftung - nicht an (vgl. BT-
Drucks. 17/3802 S. 19; Ott aaO § 198 GVG Rn. 3, 95, 126). Dementsprechend
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ist im Rahmen der Billigkeitsentscheidung nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG nicht
schon deshalb ein Abweichen vom Regelsatz zugunsten des Betroffenen gebo-
ten, weil den zuständigen Behörden und Gerichten neben der Verfahrensverzö-
gerung weitere Verfahrensfehler unterlaufen sind.
Nach alledem ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts, von dem
Regelbetrag des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG nicht abzuweichen, rechtsfehlerfrei
ergangen.
3.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist es von Rechts wegen nicht zu
beanstanden, dass das Oberlandesgericht dem Kläger einen Teil der Kosten
entsprechend seiner Unterliegensquote nach § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO auferlegt
hat.
Die Kostenentscheidung ergeht im Entschädigungsprozess grundsätzlich
nach § 201 Abs. 2 Satz 1 GVG i.V.m. §§ 91 ff ZPO. Wenn ein Entschädigungs-
anspruch allerdings nicht oder nicht in der geltend gemachten Höhe besteht,
gleichwohl aber nach § 198 Abs. 4 GVG im Tenor des Urteils eine unangemes-
sene Verfahrensdauer festgestellt wird, entscheidet das Entschädigungsgericht
nach billigem Ermessen über die Kosten (vgl. Althammer/Schäuble, NJW 2012,
1, 6; Ott aaO § 201 GVG Rn. 26 f; Stahnecker aaO Rn. 180). Eine derartige
Sonderkonstellation liegt hier nicht vor, da das Oberlandesgericht dem Kläger
zwar eine geringere Entschädigung als beantragt zugesprochen, jedoch keine
Feststellung nach § 198 Abs. 4 GVG ausgesprochen hat. Billigkeitserwägungen
gemäß § 201 Abs. 4 GVG, wie sie die Revision anstellt, waren somit nicht ver-
anlasst.
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Die Revision des Klägers ist nach allem zurückzuweisen.
Schlick
Wöstmann
Seiters
Remmert
Reiter
Vorinstanz:
OLG Celle, Entscheidung vom 24.10.2012 - 23 SchH 3/12 -
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