Urteil des BGH vom 04.12.2007

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZB 73/06
vom
4. Dezember 2007
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 4 Abs. 1
Die geltend gemachten vorprozessualen Anwaltskosten sind als Streitwert erhöhen-
der Hauptanspruch zu berücksichtigen, soweit der geltend gemachte Hauptanspruch
übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist.
BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2007 - VI ZB 73/06 - LG Chemnitz
AG Chemnitz
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. Dezember 2007 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und
Stöhr
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der
6. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz vom 6. September
2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zu-
rückverwiesen.
Beschwerdewert: bis 900 €
Gründe:
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfall in Anspruch,
an dem der Beklagte zu 1 als Fahrer eines bei der Beklagten zu 2 haftpflicht-
versicherten PKW beteiligt war. Sie hat beantragt, die Beklagten als Gesamt-
schuldner zu verurteilen, an sie 3.176,65 € nebst Zinsen sowie außergerichtli-
che Rechtsanwaltskosten in Höhe von 186,82 € zu zahlen. Die Klageschrift
wurde beiden Beklagten am 22. Dezember 2005 zugestellt. Bereits am
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2. Dezember 2005 hatte die Beklagte zu 2 der Klägerin einen Betrag von
2.700,16 € gezahlt. Die Parteien haben deshalb den Rechtsstreit übereinstim-
mend für erledigt erklärt.
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Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Rechtsstreit in Höhe von
2.700,16 € erledigt ist und die Klage im Übrigen abgewiesen. Mit ihrer Berufung
hat die Klägerin die Zahlung weiterer 476,49 € nebst Zinsen sowie der
außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 186,82 € begehrt. Das
Berufungsgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil die erforderli-
che Berufungssumme von 600 € nicht erreicht sei. Die außergerichtlichen An-
waltskosten seien Nebenforderungen im Sinne des § 4 Abs. 1 2. Halbs. ZPO
und daher nicht zu berücksichtigen. Dies gelte selbst dann, wenn sich die au-
ßergerichtlichen Kosten auf die Durchsetzung eines Forderungsteils bezögen,
der nicht mehr streitgegenständlich sei.
II.
1. Die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte
Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 2 ZPO zulässig, weil die Frage, ob
vorprozessual aufgewendete Kosten zur Durchsetzung des im laufenden Ver-
fahren geltend gemachten Hauptanspruchs werterhöhend sind, soweit die Par-
teien den Hauptanspruch im ersten Rechtszug teilweise übereinstimmend für
erledigt erklärt haben, noch nicht höchstrichterlich entschieden ist.
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2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet, da im vorliegenden Fall die
vorprozessualen Kosten entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts streit-
werterhöhend sind.
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a) Inzwischen ist höchstrichterlich geklärt, dass vorprozessual aufge-
wendete Kosten zur Durchsetzung des im laufenden Verfahren geltend ge-
machten Hauptanspruchs nicht werterhöhend wirken, wenn dieser Hauptan-
spruch noch Gegenstand des laufenden Verfahrens ist. Wird der materiell-
rechtliche Kostenerstattungsanspruch neben der Hauptforderung, aus der er
sich herleitet, geltend gemacht, ist er von dem Bestehen der Hauptforderung
abhängig und stellt deshalb eine Nebenforderung im Sinne von § 4 Abs. 1 ZPO
dar. Dieses - eine Werterhöhung ausschließende - Abhängigkeitsverhältnis be-
steht, solange die Hauptforderung Gegenstand des Rechtsstreits ist (vgl. BGH,
Beschluss vom 30. Januar 2007 - X ZB 7/06 - VersR 2007, 1102; Senatsurteil
vom 12. Juni 2007 - VI ZR 200/06 - juris Rn. 5 ff. sowie Senatsbeschlüsse vom
15. Mai 2007 - VI ZB 18/06 - BGH-Report 2007, 845, 846 und vom
25. September 2007 - VI ZB 22/07, juris Rn. 5 f.).
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b) Damit ist zwar nicht ausdrücklich entschieden, ob ein solches Abhän-
gigkeitsverhältnis auch besteht, soweit ein Teil der Hauptforderung im Rechts-
streit übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist. Indessen lässt sich aus
den bisher ergangenen Entscheidungen entnehmen, dass das die Werterhö-
hung ausschließende Abhängigkeitsverhältnis nur besteht, so lange die Haupt-
forderung Gegenstand des Rechtsstreits ist. Daraus folgt, dass entgegen der
Auffassung des Berufungsgerichts die geltend gemachten vorprozessualen
Anwaltskosten ihren Charakter als Nebenforderung verlieren und als Streitwert
erhöhender Hauptanspruch zu berücksichtigen sind, wenn und soweit der gel-
tend gemachte Hauptanspruch übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Zinsen
aus einem nicht oder nicht mehr im Streit stehenden Hauptanspruch Hauptfor-
derungen im Sinne des § 4 Abs. 1 ZPO ohne Rücksicht darauf, ob ein anderer
Teil des Hauptanspruchs noch anhängig ist (vgl. BGHZ 26, 174, 176; BGH, Ur-
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teil vom 24. März 1994 - VII ZR 146/93 - NJW 1994, 1869, 1870 m.w.N.). Dies
beruht auf der Überlegung, dass nach § 4 ZPO Zinsen, die neben der Hauptfor-
derung geltend gemacht werden, zwar grundsätzlich Nebenforderungen sind
und bei der Bemessung des Streitwerts nicht berücksichtigt werden. Sie werden
jedoch zur Hauptforderung, wenn der Hauptanspruch nicht oder nicht mehr im
Streit steht, so dass also nur noch die Zinsen Gegenstand des Rechtsstreits
sind. Wenn oder soweit der Hauptanspruch nicht mehr im Streit ist, fehlt es an
einer anhängigen Hauptforderung, die die insoweit geltend gemachten Zinsen
zu einer Nebenforderung machen könnten. Die von dem erledigten Teil verlang-
ten Zinsen stehen zur noch geltend gemachten Hauptforderung nicht im Ab-
hängigkeitsverhältnis (vgl. BGHZ 26, 174, 176; BGH, Urteil vom 24. März 1994
- aaO).
Es besteht kein Anlass, vorprozessuale Rechtsanwaltskosten anders zu
behandeln, weil diese wie Zinsen nur so lange in einem Abhängigkeitsverhältnis
zur Hauptforderung stehen, wie diese ganz oder teilweise Gegenstand des
Rechtsstreits ist. Sobald und soweit die Hauptforderung nicht mehr Prozessge-
genstand ist, etwa weil - wie hier - eine auf die Hauptforderung oder einen Teil
der Hauptforderung beschränkte Erledigung erklärt worden ist, wird die Neben-
forderung zur Hauptforderung, weil sie sich von der sie bedingenden Forderung
"emanzipiert" hat und es ohne Hauptforderung keine Nebenforderung gibt (vgl.
MünchKomm/Schwerdtfeger, ZPO, 2. Aufl., § 4 Rn. 30; Musielak/Heinrich, ZPO,
5. Aufl., § 3 Rn. 26 "Erledigung der Hauptsache"; Ruess MDR 2005, 313, 314;
Steenbuck MDR 2006, 423, 424; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 4 Rn. 38).
Insoweit besteht hier eine andere Sachlage als bei anteiligen Kosten des lau-
fenden Prozesses, die nach ständiger Rechtsprechung nach übereinstimmen-
der Teilerledigungserklärung den Streitwert und den Wert der Beschwer nicht
erhöhen, so lange noch ein Teil der Hauptsache im Streit ist. Dann folgt aus
dem Grundsatz der einheitlichen Kostenentscheidung, dass im Rahmen der
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Entscheidung über den noch streitigen Teil des Rechtsstreits von Amts wegen
auch über die für den erledigten Teil anfallenden Kosten mit entschieden wird
(vgl. BGHZ 128, 85, 92; BGH, Beschluss vom 15. März 1995 - XII ZB 29/95 -
NJW-RR 1995, 1089, 1090; OLG Bremen OLGR 2001, 461). Dies ist bei dem
Anspruch auf vorprozessuale Rechtsanwaltskosten nicht der Fall.
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3. Für das laufende Verfahren ergibt sich aus den vorstehenden Ausfüh-
rungen, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € übersteigt und mit-
hin die Berufung zulässig ist (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Dies gilt unabhängig
davon, ob man die Höhe der auf den erledigten Teil entfallenden Kosten wie die
Beschwerdeführerin so berechnet, dass die Anrechnung den Betrag der Gebühr
vermindert, die anzurechnen ist (vgl. Lutje, RVG von A - Z Stichwort "Anrech-
nung"), oder annimmt, dass sich nicht die bereits entstandene Geschäftsgebühr
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vermindert, sondern die in dem anschließenden gerichtlichen Verfahren anfal-
lende Verfahrensgebühr (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 2007 - VIII ZR 86/06 -
NJW 2007, 2049, 2050). Nach beiden Berechnungsmethoden wird die Beru-
fungssumme überschritten.
Müller Greiner Wellner
Pauge Stöhr
Vorinstanzen:
AG Chemnitz, Entscheidung vom 13.06.2006 - 21 C 4224/05 -
LG Chemnitz, Entscheidung vom 06.09.2006 - 6 S 258/06 -