Urteil des BGH vom 29.04.2013

BGH: rechtliches gehör, wiedereinsetzung in den vorigen stand, die post, zustellung, vorweggenommene beweiswürdigung, einspruch, original, offenkundig, bestätigung, beweiskraft

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VII ZR 37/12
vom
29. April 2013
in dem Rechtsstreit
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Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. April 2013 durch den
Richter Dr. Eick, die Richterin Safari Chabestari und die Richter Halfmeier,
Kosziol und Dr. Kartzke
beschlossen:
Der Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revi-
sion wird stattgegeben.
Das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom
26. Januar 2012 wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an
das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 48.570
Gründe:
I.
Der Kläger begehrt von der Beklagten Zahlung von Werklohn.
Er hat gegen die Beklagte am 6. September 1996 einen Vollstreckungs-
bescheid des Amtsgerichts M. über eine Werklohnforderung in Höhe von
94.992,90 DM nebst Zinsen erwirkt. Ob dieser Vollstreckungsbescheid der Be-
klagten wirksam zugestellt worden ist, ist zwischen den Parteien streitig.
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Am 22. Januar 1997 hat das Amtsgericht B. einen weiteren Vollstre-
ckungsbescheid bezüglich der Forderung, die Gegenstand des Vollstreckungs-
bescheids vom 6. September 1996 ist, erlassen. Gegen diesen Vollstreckungs-
bescheid hat die Beklagte Einspruch eingelegt. Mit Versäumnisurteil des Land-
gerichts D. vom 15. Februar 2002 ist der Vollstreckungsbescheid vom
22. Januar 1997 aufgehoben und die Klage abgewiesen worden.
Mit Schriftsatz vom 9. Oktober 2009 hat die Beklagte gegen den Voll-
streckungsbescheid des Amtsgerichts M. vom 6. September 1996 Einspruch
eingelegt und hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die
Versäumung der Einspruchsfrist beantragt. Mit Versäumnisurteil vom
26. Februar 2010 hat das Landgericht M. den Vollstreckungsbescheid vom
6. September 1996 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Mit Urteil vom
17. Dezember 2010 hat das Landgericht M. das Versäumnisurteil vom
26. Februar 2010 aufrechterhalten und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die
Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht mit der Klarstellung zurückge-
wiesen,
dass
unter
Aufrechterhaltung
des
Versäumnisurteils
vom
26. Februar 2010 der Vollstreckungsbescheid vom 6. September 1996 aufge-
hoben und die Klage als unzulässig abgewiesen wird. Die Revision hat das Be-
rufungsgericht nicht zugelassen.
Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers, der
seine Klageansprüche nach Zulassung der Revision weiterverfolgen möchte.
II.
1. Das Berufungsgericht führt aus, die Berufung des Klägers bleibe er-
folglos; das angefochtene Urteil sei lediglich dahingehend klarzustellen, dass
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die Klage als unzulässig abgewiesen werde. Der Einspruch der Beklagten ge-
gen den Vollstreckungsbescheid sei zulässig, er sei insbesondere nicht verfris-
tet, weil die zweiwöchige Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt worden sei.
Grundsätzlich beginne die Einspruchsfrist mit der Zustellung des Vollstre-
ckungsbescheids. Der Kläger habe den ihm obliegenden Nachweis der Zustel-
lung des Vollstreckungsbescheids im Parteibetrieb nicht erbracht. Zum Nach-
weis der Zustellung könne er sich nicht auf den auf dem Vollstreckungsbe-
scheid angebrachten Vermerk berufen. Nach § 169 Abs. 1 ZPO entfalte dieser
Vermerk des Urkundsbeamten nur Beweiskraft hinsichtlich des Zustellungszeit-
punktes; er sei nicht geeignet, den Nachweis der Zustellung an die Beklagte zu
erbringen. Der Nachweis der Zustellung könne regelmäßig durch eine Postzu-
stellungsurkunde geführt werden. Der Kläger habe diesen Urkundenbeweis
nicht durch Vorlage der Urkunde, sei es im Original oder in beglaubigter Ab-
schrift, angetreten. Die Faxkopie einer Postzustellungsurkunde erbringe vorlie-
gend keinen Beweis für die Zustellung an die Beklagte. Trotz der gerichtlichen
Hinweise, zur Zustellung im Parteibetrieb vorzutragen, habe der Kläger keinen
Zustellvorgang in nachvollziehbarer Weise dargelegt. Es fehle an einem zu-
reichenden Vortrag, der die Behauptung des Klägers zu belegen geeignet wäre,
der Vollstreckungsbescheid sei durch einen Gerichtsvollzieher, der seinerseits
die Post mit der Ausführung der Zustellung beauftragt habe, an die Beklagte
zugestellt worden. Die vorgelegte Kopie einer Postzustellungsurkunde lasse
sich nicht mit einem Zustellungsauftrag eines Gerichtsvollziehers an die Post
zum Zwecke der Zustellung an die Beklagte in Verbindung bringen.
Die von dem Kläger erhobene Leistungsklage gegen die Beklagte auf
Zahlung des Werklohns sei unzulässig, weil über den Streitgegenstand bereits
rechtskräftig entschieden worden sei.
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2. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision
führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der
Sache an das Berufungsgericht, § 544 Abs. 7 ZPO. Das Berufungsurteil verletzt
den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher
Weise, Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt
gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet
(BVerfG, NJW 2009, 1585; BGH, Beschluss vom 8. November 2012
- VII ZR 199/11, juris Rn. 8 m.w.N.). Das ist unter anderem dann der Fall, wenn
ein Gericht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs missachtet, wonach
die Ablehnung eines Beweisantrags für eine erhebliche Tatsache nur zulässig
ist, wenn diese so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt
werden kann oder wenn sie ins Blaue hinein aufgestellt worden ist (vgl. BVerfG,
ZIP 1996, 1761, 1762). Die der Beweiserhebung vorgeschaltete Handhabung
der Substantiierungsanforderungen verletzt Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie offen-
kundig unrichtig ist (BGH, Beschlüsse vom 8. November 2012 - VII ZR 199/11,
juris Rn. 8; vom 22. August 2012 - VII ZR 2/11, BauR 2012, 1822 Rn. 14; vom
16. November 2010 - VIII ZR 228/08, juris Rn. 14).
b) Eine derartige Verletzung des Rechts des Klägers auf rechtliches Ge-
hör liegt hier vor.
Das Berufungsgericht hat die Behauptung des Klägers (Schriftsatz vom
24. Oktober 2011, Seite 1 f., GA III 524 f.), die ehemalige Justizangestellte R.
habe den Vermerk auf dem Vollstreckungsbescheid vom 6. September 1996
"Der Vollstreckungsbescheid wurde dem Antragsgegner am 24.04.97 zuge-
stellt" aufgrund einer ihr vorliegenden Originalzustellungsurkunde, die densel-
ben Inhalt wie die vorgelegte Faxkopie der Zustellungsurkunde gehabt habe,
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angefertigt, für unzureichend erachtet und die für diese Behauptung angebote-
ne Zeugin R. (Schriftsatz vom 24. Oktober 2011, Seite 2, GA III 525) nicht ver-
nommen.
Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Ge-
hör außerdem verletzt, indem es dessen Behauptung (Schriftsatz vom
8. Dezember 2011, Seite 4-6, GA III 540-542), die Zustellung sei von seinen
damaligen anwaltlichen Vertretern veranlasst worden, die nach der am 24. April
1997 erfolgten Zustellung das Original der Postzustellungsurkunde dem Amts-
gericht M. zur Bestätigung der Zustellung übersandt hätten, für unzureichend
erachtet und die von ihm für diese Behauptung angebotenen Zeugen (Schrift-
satz vom 8. Dezember 2011, Seite 5 unten/6 oben, GA III 541 f.) nicht vernom-
men hat.
Die vorstehend genannten Behauptungen betreffen erhebliche Tatsa-
chen, aus denen sich die behauptete Wirksamkeit der Zustellung des Vollstre-
ckungsbescheids vom 6. September 1996 ergeben kann. Soweit das Beru-
fungsgericht den klägerischen Vortrag als unzureichend eingestuft und von ei-
ner Vernehmung der genannten Zeugen abgesehen hat, stellt dies eine unzu-
lässige, gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßende vorweggenommene Beweis-
würdigung dar (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2008 - II ZR 202/07, NJW
2008, 3361 Rn. 7).
c) Auf dem Verfahrensverstoß kann das Urteil des Berufungsgerichts
auch beruhen; denn es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei
Erhebung des genannten Zeugenbeweises eine wirksame Zustellung des Voll-
streckungsbescheids angenommen und zu Gunsten des Klägers entschieden
hätte.
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3. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, sich
gegebenenfalls mit den weiteren Rügen des Klägers in der Nichtzulassungsbe-
schwerde auseinanderzusetzen. Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht zu
berücksichtigen haben, dass bei einander widersprechenden rechtskräftigen
Entscheidungen die Rechtskraft der älteren vorgeht (vgl. BGH, Urteil vom
13. März 1981 - V ZR 115/80, NJW 1981, 1517, 1518; BAG, NJW 1986, 1831,
1832). Das Berufungsgericht wird auch zu berücksichtigen haben, dass die Zu-
stellungsvorschriften in der damals gültigen Fassung anzuwenden sind.
Eick
Safari Chabestari
Halfmeier
Kosziol
Kartzke
Vorinstanzen:
LG Mainz, Urteil vom 17.12.2010 - 9 O 343/09 -
OLG Koblenz, Urteil vom 26.01.2012 - 1 U 56/11 -
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