Urteil des BGH vom 22.05.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I Z R 7 0 / 1 4
vom
22. Mai 2014
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 233 Satz 1 B
Ein Schriftstück, mit dem eine bei einem Gericht zu wahrende Frist eingehalten
werden sollte, gelangt nicht schon zu dem Zeitpunkt fristwahrend tatsächlich in
die Verfügungsgewalt des Gerichts, zu dem der mit der Annahme von Schrift-
stücken beauftragte Mitarbeiter des Gerichts die ihm von einem Rechtsanwalt
oder einem Mitarbeiter einer Rechtsanwaltskanzlei übergebene Postmappe
zum Zwecke der Anbringung des Eingangsstempels auf den Schriftstücken und
Einbehaltung der für das Gericht bestimmten Exemplare annimmt.
BGH, Beschluss vom 22. Mai 2014 - I ZR 70/14 - OLG Frankfurt am Main
LG Frankfurt am Main
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Mai 2014 durch die
Richter Prof. Dr. Büscher, Prof. Dr. Schaffert, Dr. Koch, Dr. Löffler und die
Richterin Dr. Schwonke
beschlossen:
Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen
die Versäumung der Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbe-
schwerde gewährt.
Gründe:
I. Das Berufungsgericht hat mit Urteil vom 27. Januar 2014 auf die Beru-
fung der Beklagten das der Klage stattgebende Urteil erster Instanz abgeän-
dert, die Klage abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Die Klägerin,
der dieses Urteil am 3. Februar 2014 zugestellt worden ist, hat mit Schriftsatz
vom 4. März 2014, der am selben Tag beim Bundesgerichtshof eingegangen
ist, Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und vorsorglich Antrag auf Wieder-
einsetzung in die etwa versäumte Frist zur Einlegung der Nichtzulassungs-
beschwerde beantragt. Dazu hat sie vorgetragen:
Ihr beim Bundesgerichtshof zugelassener Prozessbevollmächtigter
Rechtsanwalt X habe am 3. März 2014, an dem die Frist zur Einlegung der
Nichtzulassungsbeschwerde abgelaufen sei, sein Personal angewiesen, die
von ihm zuvor gefertigte, durchgesehene und unterzeichnete Rechtsmittelschrift
nebst einer beglaubigten Abschrift und zwei weiteren Abschriften sowie dem mit
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der Revision anzufechtenden Urteil noch am Abend dieses Tages zusammen
mit einigen weiteren Fristsachen zur Poststelle des Bundesgerichtshofs zu brin-
gen. Die seit Sommer 2011 bei Rechtsanwalt X tätige, bislang beanstandungs-
frei und zuverlässig arbeitende und sorgfältig stichprobenartig überwachte
Rechtsanwaltsfachangestellte D. habe diese Aufgabe übernommen. Sie sei
gegen 18.30 Uhr zur Poststelle des Bundesgerichtshofs gelangt und habe die
Postmappe mit den verschiedenen Fristsachen und darunter auch den Schrift-
stücken in der vorliegenden Sache an die dort tätige Mitarbeiterin des Gerichts
übergeben. Diese habe die eingehenden Schriftstücke sowie das jeweils zu-
oberst liegende Exemplar für die Handakten von Rechtsanwalt X mit dem Da-
tumsstempel des Gerichts versehen, die für den Bundesgerichtshof vorgesehe-
nen Schriftstücke entnommen und die Postmappe mit den gestempelten
Exemplaren für die Handakten sodann an Frau D. zurückgereicht. Die Mitarbei-
terin des Gerichts habe dabei offenbar das Fach in der Postmappe, in dem sich
die Schriftstücke für das vorliegende Verfahren befunden hätten, überblättert
und die dort einliegenden Schriftstücke daher wieder an Frau D. zurückgereicht.
Diese habe die Postmappe entgegen der allgemeinen Kanzleianweisung, die
zurückgereichte Mappe sofort daraufhin zu kontrollieren, ob sie alle gestempel-
ten Aktenexemplare enthalte, nicht nochmals durchgesehen, sondern in ihrem
Fahrzeug mit in den Feierabend genommen. Erst am Morgen des 4. März 2014
sei bei der Leerung der Postmappe in der Kanzlei festgestellt worden, dass sich
dort neben den gestempelten Aktenexemplaren in den anderen Fristsachen die
noch ungestempelten Schriftstücke in der vorliegenden Sache befunden hätten.
II. Nach dieser Darstellung ist davon auszugehen, dass die Frist zur Ein-
legung der Nichtzulassungsbeschwerde, die in der vorliegenden Sache am
3. März 2014 geendet hat, versäumt worden ist.
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1. Für die Frage, ob ein Schriftstück, mit dem eine bei einem Gericht zu
wahrende Frist eingehalten werden sollte, dort rechtzeitig eingegangen ist, ist
entscheidend, ob das Schriftstück innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfü-
gungsgewalt dieses Gerichts gelangt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai
1985 - 1 BvR 370/84, BVerfGE 69, 381, 385 f.; Kammerbeschluss vom 9. Okto-
ber 2007 - 1 BvR 1784/05, NJW-RR 2008, 446, 447; BGH, Beschluss vom
12. Februar 1981 - VII ZB 27/80, BGHZ 80, 62, 63; Beschluss vom 8. Oktober
2013 - VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 20) und damit dem Zugriff des
Absenders nicht mehr zugänglich gewesen ist (BVerfG, NJW-RR 2008, 446,
447; BGH, Beschluss vom 23. April 2013 - VI ZB 27/12, NJW-RR 2013, 830
Rn. 12).
2. Diese Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall nicht schon
dadurch erfüllt, dass die Mitarbeiterin des Gerichts die ihr von Frau D. überge-
bene Postmappe zum Zwecke der Anbringung des Eingangsstempels auf den
Schriftstücken und Einbehaltung der für das Gericht bestimmten Exemplare
angenommen hat. Der Annahme, dass damit bereits ein - vollständiger - Über-
gang der Verfügungsgewalt an den in der Mappe einliegenden Schriftstücken
stattgefunden hat, steht schon entgegen, dass die für die Handakten des
Rechtsanwalts bestimmten Exemplare der Schriftstücke nicht in die Verfü-
gungsgewalt des Gerichts gelangen sollten. Ein Wechsel der Verfügungsgewalt
im Sinne ihres vollständigen Übergangs auf das Gericht hat daher nur insoweit
und auch erst in dem Zeitpunkt stattgefunden, als die Mitarbeiterin des Gerichts
die für das Gericht bestimmten Exemplare der Schriftstücke nach deren Ab-
stempelung nicht wieder in die Postmappe eingelegt, sondern an der für beim
Gericht eingegangene Schriftstücke vorgesehenen Stelle abgelegt hat. Bei den
für das vorliegende Verfahren vorgesehenen Schriftstücken, die in der Post-
mappe des Rechtsanwalts verblieben sind, hat daher am 3. März 2014 kein
Übergang der Verfügungsgewalt auf das Gericht stattgefunden.
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III. Der Klägerin ist jedoch gegen die danach eingetretene Versäumung
der Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision
im Berufungsurteil die von der Klägerin hilfsweise beantragte Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 Satz 1 ZPO).
Nach dem durch Vorlage der entsprechenden eidesstattlichen Versiche-
rung der Kanzleimitarbeiterin D. glaubhaft gemachten Vortrag beruht die Frist-
versäumung weder auf einem eigenen schuldhaften Verhalten der Klägerin
noch auf einem ihr gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden ihres
Prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt X. Vielmehr ist nach dem glaubhaft ge-
machten Vortrag davon auszugehen, dass die Fristversäumung ihre Ursache
insbesondere darin hat, dass die Kanzleimitarbeiterin D. es nach der Einliefe-
rung der von ihr am Abend des 3. März 2014 beim Bundesgerichtshof abzuge-
benden Schriftstücke weisungswidrig unterlassen hat zu prüfen, ob diese
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Schriftstücke auch tatsächlich sämtlich in die Verfügungsgewalt des Bundesge-
richtshofs gelangt waren. Ein eigenes (Organisations-)Verschulden des Rechts-
anwalts X liegt nicht vor; dieser hatte eine zweckdienliche allgemeine Weisung
erteilt, bei deren Befolgung die am 3. März 2014 ablaufende Frist zur Einlegung
der Nichtzulassungsbeschwerde nicht versäumt worden wäre.
Büscher
Schaffert
Koch
Löffler
Schwonke
Vorinstanzen:
LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 21.12.2012 - 2-25 O 373/12 -
OLG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 27.01.2014 - 19 U 81/13 -