Urteil des BGH vom 07.11.2006

BGH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, stand, wiedereinsetzung, berufungsschrift, 1995, antrag, berufungsfrist, zpo, auslegung, bewilligung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZB 70/05
vom
7. November 2006
in dem Rechtsstreit
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. November 2006 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen
und die Richter Pauge und Zoll
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des
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Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom
26. September 2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zu-
rückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt
367.062,36 €.
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eines behaupteten ärztlichen Be-
handlungsfehlers auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in An-
spruch. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. Januar 2005 abgewie-
sen. Dieses Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 18. Januar
2005 zugestellt worden. Am 14. Februar 2005 ist beim Oberlandesgericht ein
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Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangen, der mit
"Prozesskostenhilfegesuch und Berufung" überschrieben ist. Mit Beschluss vom
11. Juli 2005 hat das Oberlandesgericht dem Kläger hinsichtlich der geltend
gemachten Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens Prozesskostenhilfe
bewilligt und den Antrag im Übrigen zurückgewiesen. Dieser Beschluss ist den
Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15. Juli 2005 zugestellt worden. Sei-
ne vom Oberlandesgericht als Gegenvorstellung gewertete Beschwerde hatte
keinen Erfolg. Mit Schriftsatz vom 11. August 2005, beim Oberlandesgericht
eingegangen am 16. August 2005, hat der Kläger beantragt, "ihm hinsichtlich
der versäumten Berufungsbegründungsfrist ... Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu gewähren". Beigefügt war ein mit "Berufung" überschriebener Schrift-
satz vom selben Tag. Mit Schriftsatz vom 26. August 2005 hat der Kläger hilfs-
weise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der
Wiedereinsetzungsfrist hinsichtlich des Wiedereinsetzungsantrags begehrt.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht beide
Wiedereinsetzungsanträge zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als
unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Berufung sei nicht
innerhalb der am 18. Februar 2005 abgelaufenen Berufungsfrist eingelegt wor-
den. Aus dem mit "Prozesskostenhilfegesuch und Berufung" überschriebenen
Schriftsatz vom 11. Februar 2005 gehe deutlich hervor, dass der Kläger seiner-
zeit noch keine Berufung einlegen, sondern diese Entscheidung von der Bewil-
ligung von Prozesskostenhilfe abhängig machen wollte. Dafür sprächen auch
die Begleitumstände, insbesondere der mit "Berufung" überschriebene Schrift-
satz vom 11. August 2005 und der Inhalt seines Schriftsatzes vom 26. August
2005, in dem es heiße, der Kläger sei aufgrund unverschuldeter Fristversäu-
mung, nämlich der Mittellosigkeit, daran gehindert gewesen, noch vor Bewilli-
gung der Prozesskostenhilfe Berufung einzulegen. Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist könne dem Kläger
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nicht gewährt werden, weil er innerhalb der zweiwöchigen Frist nach Zustellung
der Prozesskostenhilfeentscheidung die versäumte Prozesshandlung (Einle-
gung der Berufung) nicht nachgeholt habe. Gründe für eine Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist seien
nicht dargetan.
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Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit der Rechtsbe-
schwerde.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 238 Abs. 2
Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil
nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfGE 79,
372, 376 f. = NJW 1989, 1147; BVerfG NJW-RR 2002, 1004).
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2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht durf-
te die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, die Beru-
fung sei verspätet eingegangen.
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Der Schriftsatz des Klägers vom 11. Februar 2005 erfüllt die Anforderun-
gen, die das Gesetz in § 519 ZPO an eine Berufungsschrift stellt. In diesem Fall
kommt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Deutung,
dass der Schriftsatz nicht als unbedingte Berufung bestimmt war, nur dann in
Betracht, wenn sich dies aus den Begleitumständen mit einer jeden vernünfti-
gen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit ergibt (BGH, Beschlüsse vom
2. Oktober 1985 - IVb ZB 62/85 - VersR 1986, 40, 41; vom 16. Dezember 1987
- IVb ZB 161/87 - NJW 1988, 2046, 2047 f.; vom 10. Januar 1990
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- XII ZB 134/89 - FamRZ 1990, 995; BGH, Urteil vom 31.
Mai 1995
- VIII ZR 267/94 - NJW 1995, 2563, 2564; Senatsbeschluss vom 22. Januar
2002 - VI ZB 51/01 - VersR 2002, 1256, 1257). Diese Voraussetzungen sind
hier nicht gegeben.
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Ob eine Berufung eingelegt ist, ist im Wege der Auslegung der Beru-
fungsschrift und der sonst vorliegenden Unterlagen zu entscheiden. Dabei sind
- wie auch sonst bei der Auslegung von Prozesserklärungen - alle Umstände
des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Die Auslegung von Prozesserklä-
rungen, die auch der Senat als Revisionsgericht selbst vornehmen kann (st.
Rspr., vgl. Senatsurteil vom 18. Juni 1996 - VI ZR 325/95 - NJW-RR 1996,
1210, 1211; BGH BGHZ 4, 328, 334), hat den Willen des Erklärenden zu be-
achten, wie er den äußerlich in Erscheinung getretenen Umständen üblicher-
weise zu entnehmen ist (vgl. Senatsurteil vom 15.
Dezember 1998
- VI ZR 316/97 - VersR 1999, 900, 901 und Senatsbeschluss vom 22. Januar
2002 - VI ZB 51/01 - aaO, jeweils m. w. N.). Bei Beachtung dieser Grundsätze
hat der Kläger wirksam Berufung eingelegt.
Für die Auslegung des Schriftsatzes vom 11. Februar 2005 sind dessen
Inhalt und die Begleitumstände heranzuziehen. Maßgebend ist der objektiv zum
Ausdruck gekommene Wille des Erklärenden. Entgegen der Auffassung des
Berufungsgerichts kommt es dabei allerdings nicht darauf an, ob der Schriftsatz
vom Gericht als Berufungsschrift gewertet und behandelt worden ist. Nicht zu
berücksichtigen sind auch die Begleitumstände, von denen das Gericht und der
Rechtsmittelgegner erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist Kenntnis erlangt ha-
ben (vgl. BGH, Urteile vom 27. Juni 1984 - VIII ZR 213/83 - VersR 1984, 870
und vom 31. Mai 1995 - VIII ZR 267/94 - aaO).
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Der Inhalt des Schriftsatzes spricht nicht mit der erforderlichen Deutlich-
keit dafür, dass der Kläger zunächst lediglich einen Prozesskostenhilfeantrag
stellen und noch keine Berufung einlegen wollte. Für eine unbedingte Beru-
fungseinlegung sprechen hier schon die Verwendung des Begriffs "Berufung" in
der Überschrift und die Bezeichnung der Parteien als "Berufungskläger" und
"Berufungsbeklagte" im Rubrum. Gegenteiliges lässt sich entgegen der Auffas-
sung des Berufungsgerichts auch nicht der Formulierung entnehmen, nach Bei-
ordnung des Prozessbevollmächtigten werde der Antrag verlesen, dem Kläger
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungs-
frist zu gewähren. Diese Erklärung besagt nicht zweifelsfrei, dass der Prozess-
bevollmächtigte seinerzeit selbst davon ausging, mit diesem innerhalb der Beru-
fungsfrist eingereichten Schriftsatz nicht wirksam Berufung einzulegen. Zwar
wäre, wenn er das Rechtsmittel schon mit diesem Schriftsatz einlegen wollte,
ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung
der Berufungsfrist nicht erforderlich gewesen. Es kann aber nicht völlig ausge-
schlossen werden, dass er diesen Antrag nur rein vorsorglich für den Fall einer
etwaigen Fristversäumung angekündigt hat. Diese Zweifel werden entgegen der
Annahme des Berufungsgerichts auch nicht durch die am Ende des Schriftsat-
zes befindliche Bezugnahme auf den vorgenannten Antrag und die in diesem
Zusammenhang erfolgte Erläuterung ausgeräumt, der Kläger müsse, sollte das
Gericht zur Bejahung der Prozesskostenhilfe kommen, wegen des Zeitablaufs
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen.
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Soweit sich der vorliegende Fall von dem Sachverhalt unterscheidet, der
dem Senatsbeschluss vom 22. Januar 2002 (VI ZB 51/01 - aaO) zugrunde lag,
rechtfertigt dies im Ergebnis keine anderweitige Beurteilung. In jenem Fall hatte
der Beklagte zunächst einen mit "Berufung" überschriebenen und unterzeichne-
ten Schriftsatz eingereicht und am selben Tag unter Hinweis auf einen angeb-
lich beigefügten, in Wirklichkeit aber fehlenden Entwurf einer Berufungsbegrün-
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dung Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Berufung beantragt. Bei dieser
Sachlage ergab sich aus dem zweiten Schriftsatz nicht hinreichend deutlich,
dass mit dem früheren Schriftsatz entgegen dessen Bezeichnung keine Beru-
fung eingelegt werden sollte. Es blieb vielmehr die Möglichkeit offen, dass der
spätere Schriftsatz einen zusätzlich zur Berufung eingereichten Antrag auf Pro-
zesskostenhilfe enthielt und lediglich ohne die in Bezug genommenen Anlagen
geblieben war. Derartige Zweifel sind angesichts der Überschrift und der Be-
zeichnungen im Rubrum auch im vorliegenden Fall gegeben.
Mit Rücksicht auf die schwerwiegenden Folgen einer bedingten und da-
mit unzulässigen Berufungseinlegung ist für die Annahme einer derartigen Be-
dingung eine ausdrückliche zweifelsfreie Erklärung erforderlich, die beispiels-
weise darin gesehen werden kann, dass der Schriftsatz als "Entwurf einer Beru-
fungsschrift" bezeichnet wird, oder von einer "beabsichtigten Berufung" die Re-
de ist oder angekündigt wird, dass "nach Gewährung der Prozesskostenhilfe"
Berufung eingelegt werde (vgl. BGH, Urteil vom 31. Mai 1995 - VIII ZR 267/94 -
BGHR ZPO §
518 Abs.
1 Einlegung 5; Beschluss vom 19.
Mai 2004
- XII ZB 25/04 - FamRZ 2004, 1553, 1554). Daran fehlt es hier. Demgegenüber
ist die Rechtsprechung von einer bestimmt eingelegten und unbedingten Beru-
fung selbst dann ausgegangen, wenn dem Prozesskostenhilfeantrag eine Beru-
fungsschrift mit der Bitte beigelegt war, sie "zunächst zu den Akten zu nehmen
und erst über das Prozesskostenhilfegesuch zu entscheiden" (BGH, Beschluss
vom 16. Dezember 1987 - IVb ZB 161/87 - aaO), oder wenn die Bitte ausge-
sprochen wurde, die Berufung erst nach Bewilligung des Armenrechts "in den
Geschäftsgang zu nehmen" (BGH, Beschluss vom 29.
Mai 1952
- IV ZR 224/51 - NJW 1952, 880). Auch die einen Schriftsatz, der den gesetzli-
chen Anforderungen an eine Berufungsschrift entspricht, abschließende Wen-
dung, "im übrigen gestatte ich mir den Hinweis, dass die Berufung nur dann als
eingelegt gelten soll, wenn dem Kläger das Armenrecht für die Anfechtung des
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erstinstanzlichen Urteils bewilligt wird", ist angesichts einer vorhergehenden
einschränkungslosen Erklärung, dass Berufung eingelegt und um Bewilligung
des Armenrechts gebeten werde, aus dem Gesamtzusammenhang heraus
nicht als Bedingung bewertet worden (BGH, Beschluss vom 22. September
1977 - IV ZB 50/77 - VersR 1978, 181). Eine derartige Beurteilung ist auch im
vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt.
3. Da die Berufung hiernach fristgerecht eingelegt worden ist, ist der an-
gefochtene Beschluss des Berufungsgerichts insgesamt aufzuheben. Das Wie-
dereinsetzungsverfahren ist gegenstandslos (vgl. BGH, Beschluss vom
15. Februar 1995 - XII ZB 7/95 - NJW 1995, 2112, 2113).
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Müller Greiner Diederichsen
Pauge Zoll
Vorinstanzen:
LG München I, Entscheidung vom 12.01.2005 - 9 O 7210/02 -
OLG München, Entscheidung vom 26.09.2005 - 1 U 1946/05 -