Urteil des BGH vom 26.06.2001

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 111/00
Verkündet am:
26. Juni 2001
Holmes,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGB § 823 Be; StGB § 266 a
Eine Tilgungsbestimmung des Arbeitgebers dahin, an die sozialversicherungsrecht-
liche Einzugsstelle geleistete Zahlungen sollten vorrangig auf fällige Arbeitnehme-
ranteile zu den Sozialversicherungsbeiträgen angerechnet werden, kann zwar kon-
kludent erfolgen, muß dann aber greifbar in Erscheinung treten.
BGH, Urteil vom 26. Juni 2001 - VI ZR 111/00 -OLG Dresden
LG Zwickau
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 26. Juni 2001 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, die Richter
Dr. von Gerlach, Dr. Dressler und Wellner sowie die Richterin Diederichsen
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 17. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Dresden vom 21. Februar 2000 aufgeho-
ben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagte, die ab 21. April 1994 Geschäftsführerin
der M. GmbH war, auf Ausgleich des Schadens in Anspruch, der ihr als ein-
zugsberechtigter Innungskrankenkasse aus der Vorenthaltung von Arbeitneh-
merbeiträgen zur Sozialversicherung für die Monate Januar bis Mai und Juli
1995 entstanden sei.
Die M. GmbH war bereits seit Juni 1992 mit der Abführung geschuldeter
Sozialversicherungsbeiträge in Rückstand geraten; seither geleistete Zahlun-
gen reichten nicht aus, um ein Anwachsen dieser Rückstände zu verhindern.
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Nachdem sich die finanzielle Situation der M. GmbH verschlechtert hatte,
zahlte diese ab Mai 1995 keine Löhne mehr an ihre Beschäftigten aus. Am
23. August 1995 wurde Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über das
Vermögen der Gesellschaft gestellt; die Eröffnung wurde mangels Masse ab-
gelehnt.
Die Klägerin errechnete die für die Monate Januar bis Mai und Juli 1995
(jeweils zum 15. des Folgemonats fälligen) von der M. GmbH zu erbringenden
Sozialversicherungsbeiträge auf den Gesamtbetrag von 132.284,37 DM. Die
Klägerin erhielt im Jahre 1995 zugunsten der Beitragsschuld der Gesellschaft
unter anderem folgende Zahlungen: 44.991 DM am 28. Februar 1995,
34.500 DM am 31. März 1995 und 10.000 DM am 10. Juli 1995. Diese einge-
gangenen Beträge verrechnete die Klägerin (ebenso wie in früheren Zeiträu-
men erbrachte Zahlungen) jeweils auf die im Hinblick auf die bestehenden
Rückstände älteste offene Beitragsforderung. Auf dieser Grundlage beziffert
die Klägerin die für die Monate Januar bis Mai und Juli 1995 zusammenge-
nommen zu Lasten der M. GmbH noch offenstehenden Arbeitnehmerbeiträge
auf 60.433,78 DM. Hierfür habe die Beklagte, die diese Arbeitnehmerbeiträge
pflichtwidrig vorenthalten habe, gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 a StGB
persönlich einzustehen.
Das Landgericht hat der Klage antragsgemäß stattgegeben. Auf die Be-
rufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Hier-
gegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie die Wiederherstellung
des landgerichtlichen Urteils begehrt.
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Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht ist der Ansicht, die Beklagte habe keine Arbeit-
nehmeranteile zur Sozialversicherung i.S.d. § 266 a Abs. 1 StGB vorenthalten.
Für Arbeitnehmerbeiträge betreffend die Monate Mai und Juli 1995 ent-
falle eine Haftung der Beklagten bereits deshalb, weil für diesen Zeitraum kei-
ne Löhne mehr an die Beschäftigten der Gesellschaft ausgezahlt worden seien
und daher in der Nichtentrichtung der Beiträge kein strafbares Verhalten zu
sehen sei. Der Tatbestand des § 266 a Abs. 1 StGB verlange mehr als die
Nichterfüllung einer reinen Zahlungsverpflichtung. Erforderlich sei ein beson-
deres strafauslösendes Moment, das entsprechend dem untreueähnlichen
Charakter der Strafbestimmung dem "Vorenthalten" dann anhafte, wenn der
Täter vom ausgezahlten Lohn einbehaltene Beträge pflichtwidrig nicht abführe;
hieran fehle es, wenn mangels einer Lohnzahlung auch die Möglichkeit eines
Lohnabzugs nicht bestehe.
Was die Arbeitnehmeranteile für die Monate Januar bis April 1995 an-
gehe, könnten diese deswegen nicht als im Sinne des § 266 a Abs. 1 StGB
"vorenthalten" angesehen werden, da im maßgeblichen Zeitraum zur Deckung
dieser Beträge ausreichende Zahlungen an die Klägerin erfolgt seien. Letztere
habe die eingegangenen Gelder nicht wie geschehen auf die jeweils ältesten
Forderungen der Gesamtschuld, also sowohl auf rückständige Arbeitgeber-
und Arbeitnehmeranteile verrechnen dürfen. Vielmehr sei - auch ohne eine
entsprechende Tilgungsbestimmung seitens des Arbeitgebers - bei Teilzahlun-
gen auf die Beitragsschuld, die zur Begleichung der Gesamtsozialversiche-
rungsbeiträge nicht ausreichten, vorbehaltlich einer eindeutig anders lautenden
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Zweckbestimmung durch den Schuldner zunächst eine Verrechnung auf die
Arbeitnehmeranteile vorzunehmen; dies sei im Hinblick auf eine "täterfreundli-
che" Lösung geboten, da ein zu vermutender vernünftiger Schuldnerwillen nur
auf eine Verrechnung gerichtet sein könne, die eine Strafbarkeit ausschließe
oder jedenfalls soweit wie möglich mindere. Dem stünden auch die Regelungen
in § 2 der Beitragszahlungsverordnung nicht entgegen. Zur Tilgung der Arbeit-
nehmeranteile für die Monate Januar bis April 1995 hätten aber die am
28. Februar 1995, 31. März 1995 und 10. Juli 1995 eingegangenen Zahlungen
der Gesellschaft ausgereicht.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die
Überlegungen, aufgrund derer das Berufungsgericht für den hier streitigen Zeit-
raum ein "Vorenthalten" von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung
verneint hat, sind nicht frei von Rechtsfehlern.
1. Die Revision wendet sich zu Recht gegen die Auffassung des Beru-
fungsgerichts, eine Haftung der Beklagten für die Arbeitnehmerbeiträge be-
treffend die Monate Mai und Juli 1995 scheitere bereits daran, daß für diesen
Zeitraum keine Lohnzahlungen an die Beschäftigten der M. GmbH mehr erfolgt
seien.
Der erkennende Senat hat in seinem - nach Erlaß des Berufungsurteils
ergangenen - Urteil vom 16. Mai 2000 (VI ZR 90/99 - VersR 2000, 981 ff., auch
zur Veröffentlichung in BGHZ 144, 311 ff. bestimmt) ausdrücklich und grund-
sätzlich entschieden, daß Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung auch
dann im Sinne des § 266 a Abs. 1 StGB vorenthalten sein können, wenn für
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den betreffenden Zeitraum kein Lohn an die Arbeitnehmer ausgezahlt worden
ist. Der Senat hat dies insbesondere damit begründet, daß die Neufassung des
Straftatbestandes des § 266 a Abs. 1 StGB das Merkmal des "Einbehaltens"
nicht mehr enthält und daher nunmehr zur Erfüllung der Voraussetzungen die-
ser Strafvorschrift nur noch die Nichtabführung der Arbeitnehmerbeiträge bei
Fälligkeit erforderlich ist. An dieser rechtlichen Beurteilung, die in den Senats-
urteilen vom 14. November 2000 (VI ZR 149/99 - VersR 2001, 343, 344) und
vom 9. Januar 2001 (VI ZR 407/99 - ZIP 2001, 422, 423) bestätigt worden ist,
ist auch nach erneuter Überprüfung festzuhalten. Der Senat hat in den ge-
nannten Entscheidungen zu dieser bis dahin in Rechtsprechung und Schrifttum
streitigen Rechtsfrage, den hierzu vertretenen Ansichten und den jeweils an-
geführten Argumenten im einzelnen Stellung genommen. Im Hinblick darauf
erscheint - auch unter Berücksichtigung der Ausführungen im Berufungsurteil
und in der Revisionserwiderung - eine nochmalige Darlegung der Problematik
nicht als geboten.
2. Des weiteren greift die Revision mit Erfolg die Ansicht des Berufungs-
gerichts an, die Arbeitnehmerbeiträge betreffend die Monate Januar bis April
1995 seien deshalb als entrichtet (und somit nicht als "vorenthalten") zu er-
achten, weil - entgegen der seitens der Klägerin vorgenommenen Verrech-
nung - die im Jahre 1995 eingegangenen Zahlungen auch ohne entsprechende
Tilgungsbestimmung seitens des Arbeitgebers vorrangig auf die Arbeitnehme-
ranteile anzurechnen seien.
a) Die Überlegung des Berufungsgerichts, wonach stets im Sinne einer
"täterfreundlichen" Lösung - auch ohne entsprechende Willensäußerung des
Beitragsschuldners - die Verrechnung so vorzunehmen sei, daß dessen Straf-
barkeit soweit wie möglich ausgeschlossen oder begrenzt werde, steht mit der
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Vorschrift des § 2 der Beitragszahlungsverordnung (vgl. zu dessen Regelungs-
gehalt insbesondere Senatsurteil vom 13. Januar 1998 - VI ZR 58/97 -
VersR 1998, 469, 470) nicht in Einklang. Diese Bestimmung will grundsätzlich
eine gleichmäßige Tilgung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge im
Rahmen der Gesamtsozialversicherungsbeiträge sicherstellen. Zwar war es
auch bereits vor der auf den Überlegungen des Bundessozialgerichts
(BSGE 78, 20, 23) beruhenden Neufassung des § 2 der Beitragszahlungsver-
ordnung dem Arbeitgeber gestattet, eine abweichende Tilgungsbestimmung
dahin zu treffen, daß vorrangig auf die Arbeitnehmerbeiträge geleistet werde.
Ohne entsprechende (mindestens konkludente) Tilgungsbestimmung kann je-
doch eine derartige Verrechnung nicht in Betracht kommen. Nach ständiger
Rechtsprechung des erkennenden Senats kann eine in dieser Richtung wirk-
same (stillschweigende) Zahlungsbestimmung des Schuldners nur angenom-
men werden, wenn sie greifbar in Erscheinung getreten ist (vgl. Senatsurteil
vom 4. Juli 1989 - VI ZR 23/89 - BGHR BGB § 823 Abs. 2, StGB § 266 a Nr. 2
sowie insbesondere die Senatsurteile vom 14. November 2000 - VI ZR 149/99 -
VersR 2001, 343, 344 und vom 9. Januar 2001 - VI ZR 119/00 - ZIP 2001, 419,
420 m.w.N.). Ohne Erfüllung dieser Voraussetzungen kann nicht schon des-
halb in jeder Teilzahlung des Beitragsschuldners eine stillschweigende Til-
gungsbestimmung hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gesehen werden, weil
deren Nichtzahlung straf- und haftungsrechtliche Folgen für den Geschäftsfüh-
rer haben könnte (vgl. Senatsurteil vom 9. Januar 2001 - VI ZR 119/00 aaO).
Soweit sich das Berufungsgericht für seine abweichende Auffassung auf frühe-
re strafgerichtliche Erkenntnisse (etwa BGH, Beschluß vom 22. Mai 1991
- 2 StR 453/90 - NJW 1991, 2917, 2918) stützen will, sind diese zur Rechtslage
vor Inkrafttreten der Beitragszahlungsverordnung ergangen, als noch die Til-
gungsbestimmung des § 366 Abs. 2 BGB heranzuziehen war. Entgegen der
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Ansicht des Berufungsgerichts würde die nunmehr maßgebliche Vorschrift des
§ 2 der Beitragszahlungsverordnung, die grundsätzlich eine gleichmäßige Til-
gung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge sicherstellen will, weitgehend
leerlaufen, wollte man ohne eine entsprechende Willensäußerung des Arbeit-
gebers gleichsam automatisch von einer vorrangigen Tilgungsbestimmung zu-
gunsten der Arbeitnehmerbeiträge ausgehen.
b) Die Auffassung des Berufungsgerichts rechtfertigt sich auch nicht aus
der im Berufungsurteil angeführten Überlegung, die von der Klägerin vorge-
nommene Verrechnung der eingegangenen Beträge auf Rückstände von Ar-
beitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen könne letztlich dazu führen, daß ein
neuer Geschäftsführer anstelle des vorherigen, in dessen Amtszeit Rückstände
aufgelaufen seien, bestraft werde; diese Strafbarkeit erfasse im praktischen
Ergebnis auch das Nichtabführen von Arbeitgeberanteilen. Der Senat hat be-
reits in anderem Zusammenhang ausgeführt, daß es in derartigen Fällen gera-
de nicht um eine Ausdehnung der zivilrechtlichen Haftung des Geschäftsfüh-
rers auf vor seiner Zeit entstandene Rückstände geht (vgl. Senatsurteil vom
9. Januar 2001 - VI ZR 119/00 aaO). Die Strafbarkeit und die Haftung des Ge-
schäftsführers greifen vielmehr nur ein, wenn ihm - bei Erfüllung aller Tatbe-
standsmerkmale des § 266 a Abs. 1 StGB - vorgeworfen werden kann, daß er
nicht für die Zahlung weiterer Beträge gesorgt hat, die - nach einer der Rege-
lung in § 2 Beitragszahlungsverordnung entsprechenden Verrechnung der tat-
sächlich bei der Einzugsstelle eingegangenen Leistungen - noch nötig gewe-
sen wären, um die fälligen Arbeitnehmerbeiträge abzudecken. Im übrigen steht
es dem Arbeitgeber frei, durch eine ausdrückliche oder nach außen greifbar in
Erscheinung tretende konkludente Tilgungsbestimmung eine Verrechnung vor-
rangig mit den aktuell fälligen Arbeitnehmerbeiträgen zu erreichen und so sei-
ner Strafbarkeit entgegenzuwirken. Daß die Erfordernisse einer derartigen
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wirksamen Tilgungsbestimmung im vorliegenden Fall durch die Beklagte erfüllt
worden wären, hat das Berufungsgericht bisher aber gerade nicht festgestellt.
3. Die bisherigen Überlegungen des Berufungsgerichts sind daher aus
Rechtsgründen nicht geeignet, die Klageabweisung hinsichtlich der hier als
Schaden geltend gemachten Arbeitnehmerbeiträge für die Monate Januar bis
Mai und Juli 1995 zu tragen. Das Berufungsurteil kann auf der Grundlage der
bis jetzt getroffenen Feststellungen auch nicht mit anderer Begründung auf-
rechterhalten werden. Denn das Berufungsgericht hat - von seinem Rechts-
standpunkt aus konsequent - zu den weiteren Voraussetzungen einer Haftung
aus § 266 a Abs. 1 StGB, die in der Revisionserwiderung angesprochen wer-
den, nicht Stellung genommen und keine Klärung des Sachverhalts herbeige-
führt. Dies gilt insbesondere für die Frage, inwieweit es der Beklagten über-
haupt möglich gewesen wäre, weitere Leistungen der Gesellschaft auf die Ar-
beitnehmeranteile zu veranlassen, und für das Problem eines vorsätzlichen
Verhaltens der Beklagten. Auch die Frage, in welcher Höhe die geltend ge-
machten Beitragsrückstände tatsächlich bestehen, ist im Berufungsurteil offen-
gelassen.
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III.
Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur weiteren
Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Dr. Müller
Dr. v. Gerlach
Dr. Dressler
Wellner Diederichsen