Urteil des BGH vom 28.04.2010

BGH (stgb, stpo, auseinandersetzung, gruppe, schwachsinn, zeuge, blutalkoholkonzentration, höhe, strafkammer, wirkung)

5 StR 135/10
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 28. April 2010
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u. a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. April 2010
beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-
gerichts Itzehoe vom 25. November 2009 nach § 349 Abs. 4
StPO im Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als
unbegründet verworfen.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten durch sein
Rechtsmittel entstandene Kosten und Auslagen aufzuerle-
gen. Er hat jedoch die hierdurch den Nebenklägern entstan-
denen notwendigen Auslagen zu tragen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Kör-
perverletzung in drei rechtlich zusammentreffenden Fällen und wegen ge-
fährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von fünf
Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat den
aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbe-
gründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
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1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
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a) Am 22. Juni 2008 gegen 1.20 Uhr verließen der Angeklagte, der ein
Klappmesser bei sich führte, und die gesondert verfolgten B. , K.
U. , N. U. und S. am Bahnhof Barmstedt die Bahn. Im Ver-
laufe des Abends hatte der Angeklagte über einen nicht mehr feststellbaren
Zeitraum zusammen mit N. U. und B. eine Flasche Wodka
gemischt mit einem Energy-Drink getrunken. Er fühlte sich dadurch ange-
trunken, wies aber keinerlei Ausfallerscheinungen auf. Bereits in der Bahn
hatte der Angeklagte mit einem anderen Fahrgast Streit gesucht. Ein Zeuge,
der schlichten wollte, geriet selbst mit dem Angeklagten in Streit, den wie-
derum S. schlichtete. Dieser hatte das Gefühl, dass der Angeklagte an
dem Abend „auf Streitigkeiten aus war“.
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Auf dem Weg vom Bahnhof aus durch Barmstedt traf die Gruppe um
den Angeklagten den ebenfalls alkoholisierten Zeugen J. T. ,
der von einer Party im „Spanischen Zentrum“ kam. Der gesondert verfolgte
B. hegte aus vergangenen Schulzeiten einen Groll gegen J. T.
und beschimpfte ihn. Es kam zu einer Auseinandersetzung, in deren
Verlauf der Zeuge T. von B. und dem Angeklagten jeweils
einen Schlag ins Gesicht erhielt. Daraufhin rannte T. aufgebracht
zurück zu seinen Freunden zum „Spanischen Zentrum“.
Gemeinsam mit den Zeugen Ne. , M. T. , W. und
Wu. , die ebenfalls alkoholisiert waren, wurde beschlossen, die Gruppe um
den Angeklagten zur Rede zu stellen. Es kam zu einer verbalen Auseinan-
dersetzung zwischen beiden Gruppen, die binnen kürzester Zeit in eine kör-
perliche überging. In deren Verlauf gelang es dem Zeugen Ne. , der dem
mit dem Angeklagten rangelnden J. T. zu Hilfe gekommen
war, den Angeklagten zu Boden zu bringen und ihn dort kurzzeitig festzuhal-
ten. Dieser zog nun sein Klappmesser und stach es dem Zeugen in den lin-
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ken Oberarm und zweimal in den Bereich des linken Schulterblattes; schließ-
lich versetzte er ihm noch einen Stich in das Gesäß.
Nachdem der Zeuge Ne. von ihm abgelassen hatte, geriet der An-
geklagte in eine erneute körperliche Auseinandersetzung mit dem Zeugen
J. T. . Dessen Zwillingsbruder M. T. und der
Zeuge W. mischten sich in die körperliche Auseinandersetzung ein. Im
weiteren Verlauf stach der Angeklagte dem M. T. mit seinem
Messer dreimal in den Rücken und dem J. T. zweimal in den
Brustkorb sowie einmal in dessen rechten Unterarm. Dabei erkannte er die
Gefahr eines tödlichen Ausgangs für beide und fand sich damit ab. Schließ-
lich versetzte der Angeklagte dem Zeugen W. einen Stich ins Gesäß.
M. T. erlitt einen linksseitigen Pneumothorax. Dass sich bei
ihm kein akut lebensbedrohlicher Zustand entwickelte, war nur dem Eingrei-
fen der später hinzugezogenen Notärztin geschuldet. J. T.
kam aufgrund seiner Brustkorbverletzung zwar nicht in konkrete Lebensge-
fahr; jedoch war seine Verletzung aufgrund ihrer Lokalisation potentiell le-
bensgefährlich.
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Nachdem sich das Geschehen etwas beruhigt und die Gruppen sich
zunächst voneinander entfernt hatten, wurde aus der Gruppe um J. T.
eine provozierende Äußerung gebrüllt. Dies veranlasste den Ange-
klagten, sich mit gezücktem Messer „schnellen Schrittes zu dieser Gruppe
hin zu bewegen“ (UA S. 12). Auf die Zurufe seiner Freunde, die ihn zurück-
halten wollten, reagierte er nicht. Dem Zeugen J. , der den Angeklagten
auf sich zukommen sah, gelang es zur Seite zu springen. Der Angeklagte
stach den Zeugen Wu. kräftig in den linken Oberschenkel und kehrte dann
zu seinen Freunden zurück.
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b) Die sachverständig beratene Strafkammer ist zu dem Ergebnis ge-
langt, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat voll schuldfähig war. Nach
den Erkenntnissen des Sachverständigen liege bei ihm ein „Schwachsinn im
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engeren Sinne“ (IQ 55 bis 75) vor, der seine gesamte Persönlichkeitsstruktur
bestimme. Indes seien die vorhandenen Kompetenzen des Angeklagten bei
der Alltagsbewältigung, insbesondere seine „sogenannte Straßenkompetenz“
(UA S. 22), zu berücksichtigen, angesichts derer sein diagnostizierter
Schwachsinn in seinem Schweregrad für sich genommen nicht ausreiche,
um eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähig-
keit zu begründen. Die außerdem festgestellte Impulskontrollschwäche erfül-
le als Ausprägung der Persönlichkeit des Angeklagten nicht das Kriterium der
schweren anderen seelischen Abartigkeit (§ 20 StGB). Auch in der Gesamt-
schau reichten die festgestellte Debilität und die Impulskontrollschwäche
nicht zur Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB aus. Nach den wei-
teren Ausführungen des Sachverständigen könne aber eine erhebliche Ein-
schränkung der Steuerungsfähigkeit vorgelegen haben, sofern zur Tatzeit
zusätzlich eine Alkoholisierung mit enthemmender Wirkung bestanden haben
sollte. Die Strafkammer geht nach eigener Würdigung davon aus, dass auch
die festgestellte Alkoholisierung des Angeklagten im Tatzeitraum nicht zu
einer erheblichen Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des
Angeklagten geführt habe.
2. Während der Schuldspruch und die Verhängung von Jugendstrafe
rechtsfehlerfrei sind, kann der Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe
nicht bestehen bleiben.
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a) Angesichts der Besonderheiten des Falles, insbesondere der Per-
sönlichkeit des Angeklagten, genügen die Ausführungen, mit denen das
Landgericht die Voraussetzungen des § 21 StGB ausgeschlossen hat, nicht
den rechtlichen Anforderungen. Sie sind unklar und enthalten Widersprüche.
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aa) Schon die Darlegungen des Sachverständigengutachtens im Urteil
sind für das Revisionsgericht nicht in allen Punkten nachvollziehbar. Sie stel-
len wesentlich auf die „Straßenkompetenz“ des Angeklagten ab, angesichts
derer keine erhebliche Verminderung seiner Einsichts- oder Steuerungsfä-
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higkeit vorliege. Der Begriff der „Straßenkompetenz“ wird indes lediglich da-
hingehend erläutert, dass der Angeklagte imstande sei, seine Interessen zu
formulieren und zu verfolgen, einfache soziale Regeln zu verstehen und ein-
zuhalten sowie zwischen Recht und Unrecht „in überschaubaren Alltagssitua-
tionen“ zu unterscheiden (UA S. 22). Indes ist zweifelhaft, ob der Angeklagte
seine Taten angesichts der Turbulenz des Gesamtgeschehens in einer für
ihn überschaubaren Alltagssituation begangen hat. Die wiedergegebene Äu-
ßerung des Sachverständigen, in der Tatsituation wirke sich der Schwach-
sinn angesichts der „Straßenkompetenz“ des Angeklagten nicht aus, steht im
Widerspruch zu seiner Äußerung, „durch die niedrige intellektuelle Leistungs-
fähigkeit und einen festgestellten Mangel an Empathie verhalte sich der An-
geklagte in Belastungssituationen impulsiv und unüberlegt und versuche sei-
nen Willen massiv durchzusetzen, vor allem unter Alkoholeinwirkung“ (UA
S. 21). Unberücksichtigt bleibt auch, dass die Tatsituation gruppendynamisch
geprägt war und – aus Sicht des Angeklagten – die von ihm zu beachtenden
strafrechtlichen Regeln durch ihnen widerstreitende aktuelle „Gruppenregeln“
überlagert wurden. Nicht zuletzt hatte auch die Geschädigtengruppe nicht die
soziale Regel eingehalten, sich nicht auf körperliche Auseinandersetzungen
einzulassen.
bb) Rechtlichen Bedenken begegnet auch die Bewertung der Alkoholi-
sierung des Angeklagten im Urteil.
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Auf der Grundlage der Angaben des Angeklagten durfte das Landge-
richt nicht ohne weiteres von einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration
absehen. Von ihr ist ein Tatgericht nicht schon dann entbunden, wenn die
Angaben des Angeklagten zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind (vgl.
BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 23). Vielmehr ist eine Berech-
nung der Blutalkoholkonzentration aufgrund von Schätzungen unter Berück-
sichtigung des Zweifelssatzes auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung
des Angeklagten sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen – in-
soweit enthält das Urteil keine Ausführungen – zwar keine sichere Berech-
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nungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßi-
ge Eingrenzung des Alkoholkonsums ermöglichen (BGHR StGB § 21 Blutal-
koholkonzentration 29; BGH StV 1993, 519). Die durch die Strafkammer mit-
geteilte Einlassung des Angeklagten war als Berechnungsgrundlage nicht
offensichtlich ungeeignet. Er hatte Art und Gesamtmenge des gemeinsam
mit N. U. und B. getrunkenen Alkohols sowie eine noch ein-
grenzbare Konsumzeit („im Verlaufe des Abends“) angegeben.
Die vom Landgericht vorgenommene Würdigung psychodiagnosti-
scher Faktoren lässt besorgen, dass es von unzutreffenden Maßstäben aus-
gegangen ist. Es war nicht erforderlich, dass der Grad der Alkoholisierung für
sich genommen bereits eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfä-
higkeit des Angeklagten begründete. Vielmehr war nach dem Ergebnis des
Sachverständigengutachtens, dem sich das Landgericht anschließt, lediglich
eine zu dem festgestellten Schwachsinn und der Impulskontrollschwäche
hinzutretende „Alkoholisierung mit enthemmender Wirkung“ (UA S. 22) erfor-
derlich, um zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zu
führen. Das Landgericht selbst geht davon aus, dass die festgestellte Alkoho-
lisierung des Angeklagten zu einer „gewissen Enthemmung“ (UA S. 23) ge-
führt habe. Die im Urteil angeführten psychodiagnostischen Merkmale bele-
gen lediglich, dass er „noch alles mitbekam“ (UA S. 23) und „die Situation, in
der er sich befand, zutreffend einschätzen konnte“ (UA S. 24), also nicht
„sinnlos“ betrunken war. Dass sich das bereits im Vorfeld der Tat provozie-
rende, Streit suchende Verhalten des Angeklagten auch mit seiner Impuls-
kontrollstörung vereinbaren lässt, bedeutet nicht, dass es nicht daneben
auch Ausdruck einer erheblichen alkoholischen Enthemmung ist. Hierzu hät-
te es weiterer Erwägungen bedurft.
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b) Darüber hinaus hat das Landgericht es versäumt, sich bei der Zu-
messung der ausgesprochenen Jugendstrafe in der gebotenen Weise mit der
Bedeutung des Urteils des Amtsgerichts Elmshorn vom 20. November 2007
auseinanderzusetzen. Darin war der Angeklagte wegen Diebstahls, Körper-
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verletzung und versuchter räuberischer Erpressung unter Einbeziehung drei-
er weiterer Entscheidungen zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und vier
Monaten verurteilt worden. Zur Vollstreckung dieses Urteils wurde die in dem
vorliegenden Verfahren angeordnete Untersuchungshaft am 27. Juni 2008
unterbrochen. Ob der Angeklagte diese Strafe vor Abschluss der Hauptver-
handlung in der vorliegenden Sache am 25. November 2009 bereits vollstän-
dig verbüßt hatte, teilt das Urteil nicht mit. Soweit dies nicht der Fall war, hät-
te sich das Landgericht mit § 31 JGG auseinandersetzen müssen. Bei voll-
ständiger Erledigung der Strafe hätte es prüfen müssen, inwieweit der Ange-
klagte hierdurch bereits eine positive erzieherische Einwirkung erfahren hat,
die seinen Erziehungsbedarf vermindert. Zwar wurde in der Hauptverhand-
lung ein Bericht der Jugendstrafanstalt über den bisherigen Vollzugsverlauf
verlesen. Aus den sich daraus ergebenden „katastrophalen Hinweisen da-
hingehend, dass er nicht in der Lage bzw. nicht Willens sei, minimalste Hy-
giene- und Ordnungsstandards einzuhalten“ (UA S. 21), lässt sich indes nicht
ohne weiteres ableiten, dass Erziehungserfolge im Hinblick auf ein künftiges
rechtstreues Verhalten des Angeklagten bislang nicht erzielt wurden. Derarti-
ge Erfolge hätten mit Blick auf den das Jugendstrafrecht beherrschenden
Erziehungsgedanken einen für den Angeklagten vorteilhaften Einfluss auf die
Dauer seiner erforderlichen weiteren Erziehung und damit die Strafhöhe
(§ 18 Abs. 2 JGG). Zudem stellt der Umstand, dass die an sich rechtlich ge-
botene Einbeziehung des amtsgerichtlichen Urteils wegen der vollständigen
Verbüßung der dort erkannten Jugendstrafe gegebenenfalls nicht mehr zu-
lässig war (§ 31 Abs. 2 Satz 1 JGG), für den Angeklagten einen Nachteil dar,
der angesichts der bei der Festsetzung der Höhe der Jugendstrafe – nament-
lich bei ihrer Verhängung wegen Schwere der Schuld – jedenfalls unbeachtli-
chen Belange des Schuldausgleichs zu Gunsten des Angeklagten hätte Be-
rücksichtigung finden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2006
– 3 StR 136/06).
c) Der Senat schließt aus, dass der Angeklagte die Taten im Zustand
der Schuldunfähigkeit begangen hat. Da wegen der Schwere der Tat hin-
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sichtlich der Gebotenheit einer Jugendstrafe kein Zweifel besteht, hebt er das
angefochtene Urteil nur im Ausspruch über deren Höhe auf.
Das neue Tatgericht wird sich – unter Hinzuziehung eines Sachver-
ständigen (§ 246a Satz 2 StPO) – auch mit der Frage auseinanderzusetzen
haben, ob angesichts des auf der Grundlage des Sachverständigengutach-
tens festgestellten schädlichen Gebrauchs von Alkohol (ICD 10: F 10.1) und
Haschisch (ICD 10: F 12.1) ein Hang im Sinne des § 64 StGB vorliegt, und
gegebenenfalls die weiteren Voraussetzungen einer Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt zu prüfen haben.
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3. In Anbetracht der Bestätigung des Schuldspruchs kann der Senat
trotz der Zurückverweisung der Hauptsache die auf § 74 JGG und § 473
Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Kostenentscheidung bereits jetzt
treffen (BGHR JGG § 74 Kosten 3). Dies hindert für den Fall eines maßgebli-
chen Revisionserfolgs nicht die Anordnung der Erstattung eines Teils der
dem Angeklagten durch das Rechtsmittel entstandenen notwendigen Ausla-
gen.
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Basdorf Raum Brause
Schneider Bellay