Urteil des BGH vom 21.04.2010

BGH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, elterliche sorge, frist, eidesstattliche erklärung, anweisung, wiedereinsetzung, beschwerde, stand, eintragung, begründung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 64/09
vom
21. April 2010
in der Sache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 233 B
Ein Rechtsanwalt ist in der Regel nicht verpflichtet, die Befolgung einer konkreten
schriftlichen Einzelanweisung, die er seiner bisher zuverlässigen Büroangestellten
erteilt hat, zu überprüfen (Fortführung Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2009
- XII ZB 154/09 MDR 2010, 400 m.w.N.).
- 2 -
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. April 2010 durch die Vor-
sitzende Richterin Dr. Hahne, die Richterin Dr. Vézina und die Richter Dose,
Schilling und Dr. Günter
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin wird der Be-
schluss des 9. Zivilsenats und Senats für Familiensachen des
Oberlandesgerichts Nürnberg vom 21. Januar 2009 aufgehoben.
Der Beschwerdeführerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand wegen Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist ge-
währt.
Die Sache wird zur weiteren Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Oberlandesgericht zu-
rückverwiesen.
Der Beschwerdewert wird auf 3.000 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich mit der Rechtsbeschwerde gegen
die Verwerfung ihrer befristeten Beschwerde wegen Versäumung der Begrün-
dungsfrist.
1
- 3 -
Mit Beschluss vom 8. Oktober 2008 hat das Amtsgericht der Beschwer-
deführerin die elterliche Sorge für ihre 2007 geborene Tochter entzogen. Gegen
den am 16. Oktober 2008 zugestellten Beschluss hat sie mit Schriftsatz ihrer
Verfahrensbevollmächtigten vom 14. November 2008, der am gleichen Tag bei
dem Beschwerdegericht eingegangenen ist, "Berufung" eingelegt. Nachdem
das Oberlandesgericht mit Verfügung vom 18. Dezember 2008, die am
29. Dezember 2008 bei der Verfahrensbevollmächtigten eingegangen ist, auf
die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist hingewiesen hatte, hat die
Verfahrensbevollmächtigte mit am 31. Dezember 2008 bei dem Oberlandesge-
richt eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tag die "Berufung" begründet
und Wiedereinsetzung in die versäumte "Berufungsbegründungsfrist" beantragt.
2
Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrages hat die Beschwerde-
führerin vorgetragen: Nach der in der Kanzlei ihrer Verfahrensbevollmächtigten
üblichen Vorgehensweise würden die Berufungs- und Berufungsbegründungs-
frist auf der angegriffenen Entscheidung notiert und in den Fristenkalender ein-
getragen. Im vorliegenden Fall habe die sonst zuverlässige Büroangestellte ih-
rer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K., versehentlich lediglich die Frist zur
Berufungseinlegung, nicht jedoch die Frist zur Berufungsbegründung notiert
und in den Fristenkalender eingetragen. Bei der Fertigung der Berufungsschrift
am 14. November 2008 habe ihre Verfahrensbevollmächtigte diese Fehler be-
merkt und Frau K. in einer Aktennotiz, die sie ihr mit der Akte überreicht habe,
angewiesen, die fehlende Frist zur Begründung der Berufung auf den Be-
schluss und in den Fristenkalender mit der dazu gehörenden Vorfrist einzutra-
gen. Die bisher zuverlässig arbeitende Frau K. habe diese Weisung nicht be-
folgt.
3
- 4 -
Diesen Vortrag hat die Beschwerdeführerin durch anwaltliche Versiche-
rung ihrer Verfahrensbevollmächtigten und eidesstattliche Erklärung der Büro-
angestellten, Frau K., glaubhaft gemacht.
4
5
Das Oberlandesgericht hat den Antrag der Beschwerdeführerin auf Wie-
dereinsetzung zurückgewiesen und ihre Beschwerde als unzulässig verworfen.
Hiergegen wendet sie sich mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
6
1. Die gemäß §§ 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1, 621 e Abs. 3 Satz 2 ZPO i.V.m. Art. 111 Abs. 1 Satz 1 FGG-RG statthafte
Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil zur Sicherung einer einheitlichen Recht-
sprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erforderlich ist
(§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Dadurch, dass das Beschwerdegericht die befristete
Beschwerde der Beschwerdeführerin verworfen und ihr zu Unrecht Wiederein-
setzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdebegrün-
dungsfrist verweigert hat, hat es das Verfahrensgrundrecht der Beschwerdefüh-
rerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m.
dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Es hat ihr den Zugang zur Beschwerdein-
stanz ungerechtfertigt versagt.
7
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
8
a) Das Oberlandesgericht hat der Beschwerdeführerin die beantragte
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert, weil ihre Verfahrensbevoll-
mächtigte ein Verschulden an der Versäumung der Beschwerdebegründungs-
9
- 5 -
frist treffe. Zwar sei ein Rechtsanwalt, der wie hier die Verfahrensbevollmächtig-
te der Beschwerdeführerin, seiner Büroangestellten eine klare, schriftliche Ein-
zelanweisung erteile, grundsätzlich nicht verpflichtet, die Erledigung dieser An-
weisung nachzuprüfen. Dies gelte aber nicht für so wichtige Vorgänge, wie die
Eintragung der Rechtsmittelbegründungsfrist mit dazu gehöriger Vorfrist. Diese
sei vielmehr vom Rechtsanwalt nachzuprüfen, wenn Anlass hierzu bestehe.
Das sei hier der Fall gewesen. Die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerde-
führerin habe bemerkt, dass ihre Büroangestellte K. vergessen habe, die
Rechtsmittelbegründungsfrist in den Fristenkalender einzutragen. Wegen die-
ses Versäumnisses der Büroangestellten habe deshalb ein konkreter Anlass
bestanden, die Eintragung der Frist nachzuprüfen. Darüber hinaus gehöre zu
einer ordnungsgemäßen Büroorganisation auch die stichprobenartige Überwa-
chung der Fristennotierung. Hierzu sei im Wiedereinsetzungsgesuch jedoch
weder etwas ausgeführt noch glaubhaft gemacht. Angesichts des festgestellten
Fehlers bei der Fristennotierung der Büroangestellten K. habe sich jedoch eine
Nachprüfung der Erledigung der erteilten Anweisung geradezu aufgedrängt.
b) Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
10
Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass eine Büro-
angestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzel-
anweisung befolgt. Er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich an-
schließend über die Ausführung seiner Weisung zu vergewissern (st. Rspr. Se-
natsbeschlüsse vom 9. Dezember 2009 - XII ZB 154/09 - MDR 2010, 400
Tz. 16 m.w.N. und vom 2. April 2008 - XII ZB 189/07 - NJW 2008, 2589, 2590 =
FamRZ 2008, 1338, 1339 - Tz. 12 m.w.N.). Dieser Grundsatz gilt, wie das Be-
schwerdegericht nicht verkennt, allerdings nicht ausnahmslos. Betrifft die An-
weisung einen so wichtigen Vorgang wie die Eintragung einer Rechtsmittelfrist,
so müssen, wenn sie nur mündlich erteilt wird, ausreichende Vorkehrungen da-
11
- 6 -
gegen getroffen sein, dass die mündliche Anweisung in Vergessenheit gerät
und die Eintragung der Frist unterbleibt (Senatsbeschluss vom 2. April 2008
- XII ZB 189/07 - NJW 2008, 2589 Tz. 13; BGH Beschluss vom 8. Februar 2010
- II ZB 10/09 - juris Tz. 9 m.w.N.).
12
Diese Gefahr besteht bei einer schriftlich erteilten Anweisung, wie sie
hier erfolgt ist, jedoch in der Regel nicht. Im vorliegenden Fall lagen auch keine
zusätzlichen Umstände vor, die Anlass zu der Befürchtung gegeben hätten, die
Büroangestellte K. werde die schriftlich erteilte Einzelanweisung nicht befolgen.
Nach dem glaubhaft gemachten Vortrag der Beschwerdeführerin hat ihre
Verfahrensbevollmächtigte die Büroangestellte durch einen Aktenvermerk
schriftlich angewiesen, die Frist zur Begründung der Beschwerde im Fristenka-
lender und auf dem angegriffenen Beschluss einzutragen. Da es sich bei der
Angestellten K. nach der eidesstattlichen Versicherung der Verfahrensbevoll-
mächtigten der Beschwerdeführerin um eine stets zuverlässige, seit 2003 bei
ihr beschäftigte Bürokraft handelte, musste die Verfahrensbevollmächtigte ent-
gegen der Ansicht des Beschwerdegerichts nicht befürchten, dass sie die
schriftliche Anweisung zur Eintragung der Fristen nicht ordnungsgemäß befol-
gen würde.
13
Im Hinblick auf die erteilte Einzelanweisung kommt es nicht mehr darauf
an, ob eine stichprobenartige Überwachung der Fristennotierung durch allge-
meine organisatorische Vorkehrungen bzw. Anweisungen in der Anwaltskanzlei
der Verfahrensbevollmächtigten gewährleistet war (BGH Beschluss vom
15. April 2008 - VI ZB 29/07 - juris Tz. 7).
14
3. Der Beschwerdeführerin war somit unter Aufhebung des Beschlusses
des Beschwerdegerichts vom 21. Januar 2009 Wiedereinsetzung in den vorigen
15
- 7 -
Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Beschwerde zu ge-
währen.
Hahne
Vézina
Dose
Schilling Günter
Vorinstanzen:
AG Fürth, Entscheidung vom 08.10.2008 - 204 F 934/07 -
OLG Nürnberg, Entscheidung vom 21.01.2009 - 9 UF 1531/08 -