Urteil des BGH vom 18.05.2001

BGH (störung, zweifel, gutachten, zpo, person, zustand, geschäftsfähigkeit, bezug, beweisaufnahme, finanzen)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
V ZR 126/00
Verkündet am:
18. Mai 2001
R i e g e l ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung
vom 18. Mai 2001 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Wenzel und die Richter
Tropf, Schneider, Dr. Klein und Dr. Lemke
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats
des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 9. März 2000
aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Mit notariellem Vertrag vom 10. September 1993 schenkte die am
11. Januar 1994 im Alter von 83 Jahren verstorbene Erblasserin der Beklagten
ein Grundstück in der Nähe von P. und ließ es an sie auf. Die Beklagte ist seit
dem 17. Dezember 1994 als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen.
Die Klägerin hat als Nachlaßpflegerin geltend gemacht, die Erblasserin
habe sich ab etwa 1987, spätestens jedoch seit einem stationären Kranken-
hausaufenthalt Ende 1992, in einem dauernden, die freie Willensbildung aus-
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schließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden und
sei deshalb zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages geschäftsunfähig
gewesen. Die Klägerin hat von der Beklagten die Zustimmung zur Grundbuch-
berichtigung zugunsten der Erben sowie die Räumung und Herausgabe des
Grundstücks verlangt. Das Landgericht hat die Klage nach Beweiserhebung
abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht nach weite-
rer Beweiserhebung zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision der
Klägerin. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht stellt fest, auch nach der Beweisaufnahme ver-
blieben nicht zu überwindende Zweifel daran, daß sich die Erblasserin bei Ab-
schluß des Vertrages am 10. September 1993 in einem die freie Willensbildung
ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden
habe, der nicht nur vorübergehender Art gewesen sei. Soweit der Sachver-
ständige die erheblichen Schwierigkeiten der Erblasserin in der Vermögens-
verwaltung als Betreuungsgrund angesehen und abschließend ausgeführt ha-
be, daß eine generelle Geschäftsunfähigkeit nicht sicher sei, in bezug auf die
Finanzen jedoch keine vernünftigen Zweifel bestünden, könne dieser rechtli-
chen Einordnung nicht gefolgt werden.
Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht
stand.
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II.
1. Mit Recht rügt die Revision, das Berufungsgericht setze sich mit sei-
nen Ausführungen in Widerspruch zu den Bewertungen des Sachverständigen,
ohne diesen Widerspruch zu erklären und ohne darzulegen, worauf seine ei-
gene, eine sachgerechte Beurteilung ermöglichende besondere Sachkunde
beruhe.
a) Allerdings ist davon auszugehen, daß auch die Gutachten von Sach-
verständigen der freien Beweiswürdigung durch das Gericht (§ 286 ZPO) un-
terliegen. Das Gericht hat ein Gutachten des gerichtlich bestellten Sachver-
ständigen sorgfältig und kritisch zu würdigen. Will es von dem Gutachten ab-
weichen, muß es seine abweichende Überzeugung begründen und erkennen
lassen, daß die abweichende Beurteilung nicht durch einen Mangel an Sach-
kunde beeinflußt ist (BGH, Urt. v. 27. Mai 1982, III ZR 201/80, NJW 1982, 2874
m.w.N.). Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen, wie die
Revision zutreffend rügt.
b) Geschäftsunfähig ist, wer sich in einem die freie Willensbildung aus-
schließenden, nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der
Geistestätigkeit befindet (§ 104 Nr. 2 BGB). Dabei ist neben den Fähigkeiten
des Verstandes vor allem auch die Freiheit des Willensentschlusses von Be-
deutung. Es kommt darauf an, ob eine freie Entscheidung aufgrund einer Ab-
wägung des Für und Wider, eine sachliche Prüfung der in Betracht kommen-
den Gesichtspunkte möglich ist, oder ob umgekehrt von einer freien Willensbil-
dung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil die Person fremden Wil-
lenseinflüssen unterliegt oder ihre Willensbildung durch unkontrollierte Triebe
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und Vorstellungen ähnlich mechanischen Verknüpfungen von Ursache und
Wirkung bestimmt wird (vgl. BGH, Urt. v. 5. Dezember 1995, XI ZR 70/95, NJW
1996, 918, 919 m.w.N.).
c) Das Berufungsgericht geht zwar zutreffend davon aus, daß eine sonst
bestehende Geschäftsfähigkeit für einen gegenständlich beschränkten Kreis
von Angelegenheiten ausgeschlossen sein kann (sogenannte partielle Ge-
schäftsunfähigkeit). Das ist der Fall, wenn es der betreffenden Person infolge
einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit nicht möglich ist, in diesem Le-
bensbereich ihren Willen frei und unbeeinflußt von der vorliegenden Störung
zu bilden oder nach einer zutreffend gewonnenen Einsicht zu handeln, wäh-
rend das für andere Lebensbereiche nicht zutrifft (BGH, Urt. v. 19. Juni 1970,
IV ZR 83/69, NJW 1970, 1680, 1681 m.w.N.).
Dagegen gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kei-
ne auf besonders schwierige Geschäfte - z.B. im Grundstücksverkehr - be-
schränkte sogenannte relative Geschäftsunfähigkeit (vgl. Hagen/Brambring,
Der Grundstückskauf, 7. Aufl. Rdn. 30 m.w.N.). Die Geschäftsunfähigkeit nach
§ 104 Nr. 2 BGB ist kein medizinischer Befund, sondern eine Rechtsfolge de-
ren Voraussetzungen das Gericht unter kritischer Würdigung des Sachver-
ständigengutachtens festzustellen hat. Deshalb ist auch die Frage, ob eine
Person allgemein für alle schwierigen Geschäfte geschäftsunfähig, für alle
einfacheren Geschäfte dagegen geschäftsfähig sein kann, eine rechtliche. Sie
geht aber nur dahin, ob es nach dem Gesetz auch eine partielle Geschäftsun-
fähigkeit gibt, die nicht nach bestimmten gegenständlichen Bereichen, sondern
nach dem Schwierigkeitsgrad der in Frage stehenden Rechtsgeschäfte abge-
grenzt wird (BGH, Urt. v. 19. Juni 1970, IV ZR 83/69 aaO). Darum handelt es
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sich hier aber entgegen der Meinung des Berufungsgerichts nicht. Der Sach-
verständige hat nach Abschluß der Anhörung der Zeugen vor dem Berufungs-
gericht abschließend festgestellt, daß er wegen der erheblichen Schwierigkei-
ten der Erblasserin in der Vermögensverwaltung einen Betreuungsgrund sieht
und ausgeführt, daß eine generelle Geschäftsunfähigkeit nicht sicher sei, in
bezug auf die Finanzen jedoch keine vernünftigen Zweifel bestünden. Das Be-
rufungsgericht hat dagegen auf der Grundlage der durchgeführten Beweisauf-
nahme dargelegt, warum ihm Zweifel auch an einer gegenständlich be-
schränkten Geschäftsunfähigkeit geblieben sind. Es hat damit bei seiner vom
Sachverständigen abweichenden Auffassung die tatsächlichen Umstände an-
ders gewürdigt, ohne die dazu notwendige eigene Sach- und Fachkunde dar-
zulegen (vgl. BGH, Urt. v. 10. Januar 1984, VI ZR 122/82, NJW 1984, 1408; v.
9. Mai 1989, VI ZR 268/88, NJW 1989, 2948, 2949; v. 21. Januar 1997, VI ZR
86/96, NJW 1997, 1446).
2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich auch aus anderen
Gründen nicht als richtig dar (§ 563 ZPO). Ob die von der Beklagten im Wege
der Gegenrüge aus § 286 ZPO vorgetragenen Indizien für eine Geschäftsfä-
higkeit sprechen, kann nur nach Beratung durch einen Sachverständigen be-
urteilt werden.
3. Die Frage der Geschäftsfähigkeit der Erblasserin muß hiernach er-
neut geprüft werden. Da der Sachverständige zwar eine allgemeine Geschäfts-
unfähigkeit verneint hat, wegen der hirnorganischen Schädigung aber meint,
die Erblasserin sei nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Vermögensangele-
gen-
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heiten selbst zu besorgen, bedarf es entweder weiterer sachverständiger Be-
ratung oder der Ausweisung entsprechender Sachkunde, wenn das Gericht
den fachlichen Schlußfolgerungen nicht folgen will.
Wenzel
Tropf
Schneider
Klein
Lemke