Urteil des BGH vom 12.01.2010

BGH (berufungsschrift, zpo, zweifel, rechtsmittel, auslegung, person, abschrift, sache, angabe, umstand)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VIII ZB 64/09
vom
12. Januar 2010
in dem Rechtsstreit
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Januar 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Ball, den Richter Dr. Frellesen, die Richterinnen Dr. Milger
und Dr. Fetzer sowie den Richter Dr. Bünger
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss der
2. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom 13. August 2009
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zu-
rückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird
auf 1.385 € festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Kläger begehren von dem Beklagten nach Beendigung des Mietver-
trages die Rückzahlung der von ihnen geleisteten Mietkaution. Das Amtsgericht
hat die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil haben die erstinstanzlichen Pro-
zessbevollmächtigten der Kläger Berufung eingelegt. Die mit dem Briefkopf der
Rechtsanwaltssozietät des Klägervertreters versehene Berufungsschrift, der
eine Ablichtung des erstinstanzlichen Urteils anlag, hat folgenden Wortlaut:
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"Geschäftszeichen: 9 C 669/08
In Sachen
S. R. und Herrn K.
Bevollmächtigte RAe: K. und Kollegen
gegen
J. P.
Bevollmächtigte RAe: B. & H.
legen wir hiermit gegen das Urteil vom 10.02.2009
Berufung
ein.
Eine Ablichtung des erstinstanzlichen Urteils haben wir in der Anlage mit
beigefügt."
Das Landgericht hat die Berufung der Kläger als unzulässig verworfen,
weil die Berufungsschrift nicht erkennen lasse, für wen - für die Klägerin zu 1,
den Kläger zu 2 oder beide - das Rechtsmittel eingelegt werde. Dagegen richtet
sich die Rechtsbeschwerde der Kläger.
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II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist kraft Gesetzes statthaft (§ 522 Abs. 1
Satz 4, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) und im Übrigen auch form- und fristgerecht
eingelegt und begründet worden (§ 575 ZPO). Sie ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2
Alt. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
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Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der angefochtene Be-
schluss verletzt das Verfahrensgrundrecht der Kläger auf Gewährung wirkungs-
vollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaats-
prinzip). Dieses verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer
in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sach-
gründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. dazu
BVerfGE 77, 275, 284; 74, 228, 234; BVerfG, NJW 2005, 814, 815; BVerfG,
NJW 2003, 281; BVerfG NJW 1991, 3140; Senatsbeschluss vom 27. Septem-
ber 2005 - VIII ZB 105/04, NJW 2005, 3775, unter II 1; BGHZ 151, 221, 227;
BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, unter II 1
bb; BGH, Beschluss vom 5. November 2002 - VI ZB 40/02, NJW 2003, 437,
unter II 3 b). Indem das Berufungsgericht zu Unrecht (dazu unter 2) davon aus-
gegangen ist, dass die Berufungsschrift auch durch Auslegung nicht erkennen
lasse, für wen das Rechtsmittel eingelegt werde, hat es den Klägern den Zu-
gang zur Berufungsinstanz ungerechtfertigt verwehrt.
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat
die Berufung zu Unrecht nach § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen.
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a) Das Berufungsgericht ist allerdings in Übereinstimmung mit der stän-
digen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zutreffend davon ausgegangen,
dass zum notwendigen Inhalt der Berufungsschrift gemäß § 519 Abs. 2 ZPO
auch die Angabe gehört, für und gegen welche Partei das Rechtsmittel einge-
legt wird. Aus der Berufungsschrift muss entweder für sich allein oder mit Hilfe
weiterer Unterlagen bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist eindeutig zu erkennen
sein, wer Berufungskläger und wer Berufungsbeklagter sein soll. Dabei sind vor
allem an die eindeutige Bezeichnung des Rechtsmittelführers strenge Anforde-
rungen zu stellen; bei verständiger Würdigung des gesamten Vorgangs der
Rechtsmitteleinlegung muss jeder Zweifel an der Person des Rechtsmittelklä-
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gers ausgeschlossen sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die erforderliche
Klarheit über die Person des Berufungsklägers ausschließlich durch dessen
ausdrückliche Bezeichnung zu erzielen wäre; sie kann auch im Wege der Aus-
legung der Berufungsschrift und der etwa sonst vorliegenden Unterlagen ge-
wonnen werden. Dabei sind, wie auch sonst bei der Ausdeutung von Prozess-
erklärungen, alle Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Die
Anforderungen an die zur Kennzeichnung der Rechtsmittelparteien nötigen An-
gaben richten sich nach dem prozessualen Zweck dieses Erfordernisses, also
danach, dass im Falle einer Berufung, die einen neuen Verfahrensabschnitt vor
einem anderen als dem bis dahin mit der Sache befassten Gericht eröffnet, zur
Erzielung eines auch weiterhin geordneten Verfahrensablaufs aus Gründen der
Rechtssicherheit die Parteien des Rechtsmittelverfahrens, insbesondere die
Person des Rechtsmittelführers, zweifelsfrei erkennbar sein müssen (Senats-
beschlüsse vom 9. April 2008 - VIII ZB 58/06, NJW-RR 2008, 1161, Tz. 5, und
vom 6. Dezember 2005 - VIII ZB 30/05, juris, Tz. 4; BGH, Beschluss vom
10. Oktober 2006 - XI ZB 14/06, NJW-RR 2007, 413, Tz. 8; BGH, Beschluss
vom 13. März 2007 - XI ZB 13/06, FamRZ 2007, 903, Tz. 7; jeweils m.w.N.).
b) Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht zu Un-
recht angenommen, es sei innerhalb der Berufungsfrist nicht erkennbar gewe-
sen, für wen mit dem Schriftsatz vom 19. März 2009 Berufung eingelegt worden
sei.
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aa) Die Auslegung von Prozesshandlungen und damit auch der Beru-
fungsschrift unterliegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs der freien revisionsrechtlichen Nachprüfung (Senatsbeschluss vom
24. Juni 1992 - VIII ZR 203/91, NJW 1992, 2413, unter I 2 a; BGH, Beschluss
vom 20. Januar 2004 - VI ZB 68/03, NJW-RR 2004, 862, unter II 3 a; jeweils
m.w.N.). Sie orientiert sich an dem Grundsatz, dass im Zweifel dasjenige ge-
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wollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und dem
recht verstandenen Interesse entspricht. Lediglich theoretisch mögliche Zweifel,
für die tatsächliche Anhaltspunkte nicht festgestellt sind, können bei der Ausle-
gung der Berufungsschrift nicht ausschlaggebend sein (BGH, Beschluss vom
20. Januar 2004, aaO).
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bb) In der hier zu beurteilenden Berufungsschrift werden zwar die Partei-
rollen nicht genannt. Der Berufungsschrift war jedoch eine Abschrift der ange-
fochtenen Entscheidung beigefügt. Diesem vom Berufungsgericht nicht berück-
sichtigten Umstand kommt entscheidende Bedeutung zu. Denn die in der Soll-
vorschrift des § 519 Abs. 3 ZPO vorgesehene Vorlage einer Ausfertigung oder
beglaubigten Abschrift des angefochtenen Urteils ist zwar nicht der einzige Um-
stand, aufgrund dessen sich eine fehlende Angabe in der Berufungsschrift als
unschädlich erweisen kann; sie stellt indessen ein geeignetes Mittel und letzt-
lich den sichersten Weg dar, um Zweifelsfälle zu vermeiden (vgl. BGHZ 165,
371, 373; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2006 - IV ZB 20/06, NJW-RR
2007, 935, Tz. 8). Im vorliegenden Fall lässt sich durch einen Abgleich der Be-
rufungsschrift mit der beigefügten Abschrift des erstinstanzlichen Urteils jeder
vernünftige Zweifel hinsichtlich der Frage, ob für beide oder nur für einen Kläger
Berufung eingelegt werden soll, ausräumen.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts besteht kein Zweifel,
dass mit der Berufungsschrift das Rechtsmittel für beide Kläger eingelegt wor-
den ist. Im Eingang des angefochtenen Urteils des Amtsgerichts wird als Pro-
zessbevollmächtigter beider Kläger die Rechtsanwaltssozietät genannt, zu der
der Klägervertreter gehört und unter deren - auch seinen Namen aufweisen-
den - Briefkopf er die Berufungsschrift gefertigt hat. Hinzu kommt, dass die ge-
nannte Rechtsanwaltssozietät auch im Rubrum der Berufungsschrift als Pro-
zessbevollmächtigte der Kläger aufgeführt wird. Ferner ergibt sich aus der Ur-
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teilsformel des Amtsgerichts, dass die Klage in vollem Umfang abgewiesen
worden ist. Vernünftige Zweifel, dass das Rechtsmittel für beide Kläger einge-
legt worden ist, können bei dieser Sachlage - zumal beide Kläger in der Beru-
fungsschrift aufgeführt sind und sich der Berufungsschrift auch ansonsten keine
Anhaltspunkte für eine Beschränkung der Rechtsmitteleinlegung auf einen der
Kläger entnehmen lassen - nicht aufkommen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März
2005 - V ZB 42/04, BGHReport 2005, 1216, unter III 2 b).
3. Nach alledem kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand ha-
ben. Er ist daher aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an
das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
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Ball
Dr. Frellesen
Dr. Milger
Dr. Fetzer
Dr. Bünger
Vorinstanzen:
AG Syke, Entscheidung vom 10.02.2009 - 9 C 669/08 -
LG Verden, Entscheidung vom 13.08.2009 - 2 S 101/09 -