Urteil des BGH vom 13.12.2012

BGH: strafrechtliche verantwortlichkeit, dolus eventualis, freispruch, anstiftung, bauschutt, kauf, überprüfung, sicherheit, beihilfe, garantenstellung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 271/12
vom
13. Dezember 2012
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen zu Ziff. 1 Verdachts des versuchten Mordes u.a.
zu Ziff. 2 Verdachts der Anstiftung zum versuchten Mord u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 13. Dezember
2012, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Mutzbauer
als Vorsitzender,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Cierniak,
Dr. Quentin,
Reiter
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt in der Verhandlung,
Staatsanwalt bei der Verkündung
als Vertreter des Generalbundesanwalts,
Rechtsanwalt für den Angeklagten J. ,
Rechtsanwalt für den Angeklagten H.
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Nebenklägervertreter,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Neben-
klägers wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom
27. Februar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere
Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den zur Tatzeit ca. 16 Jahre und 10 Monate alten
Angeklagten J. vom Vorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit ge-
fährlicher Körperverletzung und mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr
freigesprochen, weil es bei ihm die erforderliche strafrechtliche Verantwortlich-
keit gemäß § 3 Satz 1 JGG nicht festzustellen vermochte und eine Unterbrin-
gung nach § 63 StGB nicht in Betracht kam. Dem zur Tatzeit ca. 17 Jahre und
8 Monate alten Angeklagten H. lag Anstiftung zu den von dem Angeklag-
ten J. begangenen Delikten zur Last. Er wurde freigesprochen, weil eine
Tatbeteiligung nicht erweislich war. Gegen beide Freisprüche haben die Staats-
anwaltschaft und der Nebenkläger Revision eingelegt. Die Rechtsmittel haben
Erfolg.
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I.
1. In der unverändert zugelassenen Anklageschrift vom 11. Juli 2011
wird dem Angeklagten J. vorgeworfen, am 21. April 2010 gegen 18.40 Uhr
mit bedingtem Tötungsvorsatz einen mit Bauschutt gefüllten 10-Liter-Eimer von
einer Brücke auf die Bundesautobahn A 1 geworfen und dadurch den in seinem
Pkw auf der mittleren Fahrspur fahrenden Nebenkläger verletzt zu haben. Dem
Angeklagten H. wird zur Last gelegt, den Angeklagten J. zu dem
Eimerwurf aufgefordert zu haben.
2. Nach den Feststellungen befanden sich die miteinander befreundeten
Angeklagten gemeinsam auf dem Heimweg, der sie über eine Autobahnbrücke
führte. Kurz vor Beginn der Brücke standen mehrere mit Bauschutt gefüllte
Eimer. Der Angeklagte J. nahm einen dieser Eimer an sich und ging zu-
sammen mit dem Angeklagten H. bis zur Mitte der Brücke. Dort ließ sich
der Angeklagte H. den Eimer von dem Angeklagten J. geben. An-
schließend gab er den Eimer dem Angeklagten J. zurück oder stellte ihn
vor dem Angeklagten J. ab, der den Eimer sodann wieder an sich nahm.
Dann sagte der Angeklagte H. etwas zu dem Angeklagten J. ; der
Inhalt konnte nicht festgestellt werden. Direkt nach dieser Äußerung warf der
Angeklagte J. den Eimer über das Brückengeländer auf die zu diesem
Zeitpunkt „nicht übermäßig“ befahrene Autobahn. Der noch weitgehend gefüllte
Eimer durchschlug die Frontscheibe des Pkw des Nebenklägers, der mit
100 - 120 km/h auf dem mittleren Fahrstreifen fuhr. Bauschutt und Teile des
Eimers wurden in das Wageninnere geschleudert. Ein keilförmiges, etwa 20 cm
langes Teil des Eimers blieb wie ein Wurfgeschoss in der Abdichtung des Fens-
ters der Fahrertür stecken. Der von dem Eimerwurf überraschte Nebenkläger
wurde von den eindringenden Teilen lediglich gestreift und erlitt multiple ober-
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flächliche Schürfwunden. Er vermochte sein Fahrzeug kontrolliert auf dem
Standstreifen zum Stehen zu bringen; an seinem Pkw entstand ein Sachscha-
den in Höhe von 5.500 Euro. Beide Angeklagte liefen auf getrennten Wegen
davon.
Der Angeklagte J. wusste, dass durch den Eimerwurf ein Mensch
verletzt werden konnte. Ebenso erkannte er, dass das Werfen des Eimers auf
die Autobahn generell geeignet war, das Leben eines Menschen zu gefährden.
All dies nahm er auch billigend in Kauf. Dass er auch den Tod eines anderen
Menschen billigend in Kauf nahm, konnte das Landgericht dagegen nicht mit
der erforderlichen Sicherheit feststellen. Der Angeklagte J. erkannte wei-
terhin, dass der Wurf des Eimers auf die Autobahn die Verkehrsgefahr so ge-
steigert hat, „dass konkrete Gefahren deutlich wahrscheinlicher“ und Leib oder
Leben eines anderen Menschen bzw. fremde Sachen von bedeutendem Wert
gefährdet wurden. Auch dies nahm er zumindest billigend in Kauf.
II.
Der Freispruch des Angeklagten J. ist aufzuheben, weil die Erwä-
gungen, mit denen das Landgericht eine strafrechtliche Verantwortlichkeit (§ 3
Satz 1 JGG) verneint hat, rechtlicher Überprüfung nicht standhalten.
1. Das sachverständig beratene Landgericht hat bei dem Angeklagten
J. die nach § 3 Satz 1 JGG erforderliche Einsichtsfähigkeit bejaht. Es ist
jedoch
– auch insoweit den angehörten Sachverständigen folgend – zu dem
Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte nicht über das bei Jugendlichen mit
durchschnittlichem Entwicklungsstand zu fordernde Hemmungsvermögen ver-
fügt habe und seine „Handlungsfähigkeit“ deshalb „eingeschränkt“ gewesen sei;
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Grund hierfür sei im Wesentlichen eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung,
welche sich vermutlich auf dem Boden einer sozialen Bindungsstörung im Kin-
desalter entwickelt habe und sich unter anderem in erheblichen Schwächen im
auditiven Verständnis und im Bereich der sprachlichen Verarbeitungsgeschwin-
digkeit sowie in einer Neigung zur Unterordnung zeige (UA 39 f., 40 f.). § 3
Satz
1 JGG setze eine positive Feststellung der „Handlungsfähigkeit“ voraus.
Diese sei nicht mehr sicher möglich, wenn die „Handlungsfähigkeit“, wie hier,
beschränkt sei
. Für diesen Fall müsse zu Gunsten des Angeklagten die „Hand-
lungsfähigkeit“ und damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit verneint werden
(UA 42).
Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht allein in der
Feststellung von entwicklungsbedingten Einschränkungen der Handlungsreife
ein Hindernis für die Annahme einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach § 3
Satz 1 JGG gesehen hat. Dies trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu.
Nach § 3 Satz 1 JGG ist ein Jugendlicher strafrechtlich verantwortlich,
wenn positiv feststeht, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geisti-
gen Entwicklung reif genug gewesen ist, das Unrecht der Tat einzusehen und
nach dieser Einsicht zu handeln. Ob die erforderliche Verantwortungsreife ge-
geben ist, hat der Tatrichter auf der Grundlage seiner Feststellungen zur per-
sönlichen Entwicklung des Jugendlichen, zu dessen Persönlichkeit zur Tatzeit
und den Umständen der konkreten Tat
– gegebenenfalls mit sachverständiger
Hilfe (vgl. § 43 Abs. 2 JGG)
– wertend zu beurteilen. Kann die nach § 3 Satz 1
JGG erforderliche Einsichts- und Handlungsreife nicht sicher festgestellt wer-
den, scheidet ein Schuldspruch aus (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 2005
– 4 StR 492/04, ZJJ 2005, 205; Eisenberg, 16. Aufl., § 3 Rn. 4; Münch-
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KommStGB/Altenhain, § 3 JGG Rn. 5; Streng, Jugendstrafrecht, 3. Aufl.,
Rn. 47; Bohnert, NStZ 1988, 249).
Das sich aus § 3 Satz 1 JGG ergebende Erfordernis, die entwicklungs-
bedingte Handlungsreife in Bezug auf die konkrete Rechtsgutsverletzung positiv
feststellen zu müssen, stellt an den Tatrichter zwar besondere Erkenntnis- und
Begründungsanforderungen (vgl. Bohnert, NStZ 1988, 249; Streng, DVJJ-
Journal 1997, 379, 380), doch folgt aus ihm nicht, dass eine entsprechende An-
nahme nur noch dann getroffen werden kann, wenn keine reifebedingten Ein-
schränkungen vorliegen. Auch eine aufgrund von Reifedefiziten eingeschränkte
Fähigkeit, nach der vorhandenen Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln,
begründet die Annahme strafrechtlicher Verantwortlichkeit gemäß § 3 Satz 1
JGG
, wenn der Jugendliche „reif genug“ ist (so der Wortlaut von § 3 Satz 1
JGG). Feststellungen bzw. Wertungen hierzu hat das Landgericht nicht getrof-
fen. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
2. Das Urteil war trotz des auf die Bewertung der Verantwortungsreife
beschränkten Rechtsfehlers im Ganzen aufzuheben. Eine Aufrechterhaltung
von belastenden Feststellungen kam nicht in Betracht, weil der Angeklagte
J. aufgrund des Freispruchs an einer Anfechtung des Urteils gehindert
war (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2000
– 3 StR 595/99, insoweit in
NStZ-RR 2000, 300 nicht abgedruckt; Beschluss vom 15. Dezember 1999
– 5 StR 537/99; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 353 Rn. 15a).
III.
Der Freispruch des Angeklagten H. hat keinen Bestand, weil die
Urteilsgründe den Anforderungen des § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO nicht genügen.
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1. Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen müssen die Urteils-
gründe dem Revisionsgericht eine umfassende rechtliche Nachprüfung der
freisprechenden Entscheidung ermöglichen (BGH, Urteil vom 26. April 1990
– 4 StR 24/90, BGHSt 37, 21, 22; Urteil vom 26. September 1989
– 1 StR 299/89, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 2). Dazu ist es in der Re-
gel erforderlich, dass die für erwiesen und die nicht für erwiesen erachteten
Tatsachen eindeutig bezeichnet werden (BGH, Urteil vom 17. Mai 1990
– 4 StR 208/90, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 4; KK-StPO/Engelhardt,
6. Aufl., § 267 Rn. 41). Hieran fehlt es.
In den unter II.1a) der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen zum
Sachverhalt findet sich keine Aussage darüber, was die Angeklagten vor dem
Erreichen der Brückenmitte miteinander gesprochen haben (UA 5). In der sich
anschließenden Beweiswürdigung gibt das Landgericht die Tatschilderung des
Angeklagten H. wieder. Danach hat der Angeklagte H. angegeben,
noch vor dem Erreichen der Brückenmitte von dem Angeklagten J. gefragt
worden zu sein, ob er den Eimer werfen solle. Hierauf habe er unüberlegt ge-
antwortet: „Mach doch“. Nachdem er etwa in Höhe der Mitte der Autobahn den
Eimer selbst in die Hand genommen und anschließend an J. zurückgege-
ben habe, sei er einige Schritte weiter gegangen. Dabei habe er zu J. ge-
sagt, dass er den Eimer nicht werfen solle (UA 10). Das Landgericht geht davon
aus, dass dem Angeklagten H. diese Einlassung nicht mit der für eine
Verurteilung erforderlichen Sicherheit widerlegt werden kann. Eine „Überfüh-
rung“ allein aufgrund seiner eigenen Angaben sei jedoch nicht möglich, weil der
unüberlegten oder aus Spaß getätigten Äußerung
„Mach doch“ weder eine Auf-
forderung zum Wurf des Eimers, noch das Bestärken eines bereits vorhande-
nen Tatentschlusses hinreichend sicher entnommen werden könne (UA 11). In
der rechtlichen Würdigun
g heißt es dazu, dass „unabhängig vom Inhalt der
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Äußerung“ nicht davon auszugehen sei, dass der Angeklagte H. durch
die Äußerung bei dem Angeklagten J. den Entschluss zum Werfen des
Eimers hervorgerufen oder einen etwaigen vorhandenen Entschluss bestärkt
hat (UA 24 f.). Bei der Erörterung der Frage, ob eine Garantenpflicht aus Inge-
renz bestanden hat, bezeichnet es das Landgericht als „nicht ausschließbar“,
dass der Angeklagte H. auf die Frage des Angeklagten J. , ob er den
Eimer werfen solle, mit den Worten
„Mach doch“ geantwortet hat (UA 25).
Diese Ausführungen lassen
, ungeachtet der „durchgehenden“ Schilde-
rung des Angeklagten J. , dass er den Angeklagten H. vor dem Wurf
dahin verstanden habe, dass er den Eimer werfen solle (UA 23), nicht mit der
gebotenen Klarheit erkennen, ob die für die Beurteilung der Strafbarkeit des
Angeklagten H.
bedeutsame Äußerung „Mach doch“ und die vorange-
hende Frage des Angeklagten J. , ob er den Eimer werfen solle, objektiv
festgestellt sind. Das Urteil bietet daher in tatsächlicher Hinsicht keine geeigne-
te Grundlage für eine revisionsrechtliche Überprüfung, zumal für eine Anstiftung
dolus eventualis ausreicht und nicht erforderlich ist, dass der Anstiftende die
Anstiftung ernst meint oder die Kausalität ernstlich gewollt haben muss (BGH,
Urteil vom 10. Juni 1998
– 3 StR 113/98, BGHSt 44, 99, 102).
2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:
Sollte der neue Tatrichter zu der Feststellung gelangen, dass der Ange-
klagte H. den Angeklagten J. durch eine entsprechende Äußerung
zu dem Eimerwurf aufgefordert oder in seinem Entschluss den Eimer zu werfen
bestärkt hat, wird
– falls ein dolus eventualis nicht festgestellt werden kann –
die Annahme einer Beihilfe durch Unterlassen auf der Grundlage einer Garan-
tenstellung wegen der tatsächlichen Herbeiführung einer Gefahrenlage (Inge-
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renz) zu erörtern sein. Äußerungen, die objektiv den Tatbestand der Anstiftung
(§ 26 StGB) oder der (psychischen) Beihilfe (§ 27 StGB) erfüllen, sind pflicht-
widrig und daher grundsätzlich geeignet eine Garantenstellung zu begründen.
Von einem sozialüblichen Verhalten kann in diesem Fall allein aufgrund des
objektiven Pflichtverstoßes nicht mehr gesprochen werden (vgl. BGH, Urteil
vom 6. Mai 1986
– 4 StR 150/86, BGHSt 34, 82, 84).
Mutzbauer
Roggenbuck
Cierniak
Quentin
Reiter