Urteil des BGH vom 05.02.2003
BGH (berufsunfähigkeit, sohn, anfang, einstellung, rente, schwere, betriebsinhaber, berufsausübung, voraussetzung, prüfung)
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 238/01
Verkündet am:
26. Februar 2003
Heinekamp
Justizobersekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsit-
zenden Richter Terno, den Richter Dr. Schlichting, die Richterin
Ambrosius und die Richter Wendt und Felsch auf die mündliche Ver-
handlung vom 5. Februar 2003
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 25. Zi-
vilsenats des Oberlandesgerichts München vom 24. Juli
2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entschei-
dung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens,
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger, mitarbeitender Inhaber eines Automatenaufstellbetrie-
bes, begehrt von der beklagten Versicherungsgesellschaft über die von
dieser freiwillig gezahlte Rente für eine 40%ige Berufsunfähigkeit hinaus
die volle vereinbarte Rente (monatlich 4.453 DM) für die Zeit ab
1. Januar 1994.
Nach den Vertragsbedingungen der 1976 von den Parteien verein-
barten Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung gewährt die Beklagte bei
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teilweiser Berufsunfähigkeit die für vollständige Berufsunfähigkeit festge-
setzten Leistungen nur in der Höhe, die dem Grad der Berufsunfähigkeit
entspricht. Teilweise Berufsunfähigkeit von weniger als einem Viertel gibt
keinen Anspruch. Ab einer teilweisen Berufsunfähigkeit von mindestens
Dreiviertel werden die vollen Leistungen erbracht.
Der Kläger ist seit 1975 selbständiger Automatenaufsteller, der in
Gaststätten Geldspielgeräte, Billardtische und Musikboxen aufstellt, die
Geräte wartet und auswechselt und jeden seiner etwa 80 bis 100 Kunden
alle 14 Tage aufsucht, um die Automaten zu leeren, das Geld mit Hilfe
einer Geldzählmaschine zu zählen, dem Gastwirt seinen Anteil auszu-
kehren und den eigenen Anteil mitzunehmen. Die Abrechnungstätigkeit
übte der Kläger persönlich und allein aus, bis er zum 1. Mai 1989 zu-
sätzlich zu den bis dahin von ihm beschäftigten Mitarbeitern (zwei Mon-
teure und für die Büroarbeiten seine Ehefrau) seinen Sohn einstellte, der
ihn seitdem auf seinen Abrechnungsfahrten begleitet und ihm das Tra-
gen schwerer Gegenstände abnimmt (Laptop, das eingesammelte Hart-
geld, insbesondere aber die 20 kg schwere Geldzählmaschine).
1986 wurde bei dem Kläger wegen einer Ulcus-Erkrankung eine
2/3-Magenresektion vorgenommen. Seit 1987 zahlt die Beklagte ihm eine
Berufsunfähigkeitsrente. Vom 1. Oktober 1987 bis zum 1. Oktober 1990
betrug sie 60% der vollen Rente; vom 2. Oktober 1990 bis zum 1. Januar
1994 35%, und seit dem 1. Oktober 1990 zahlt die Beklagte 40%. Dem-
gegenüber begehrt der Kläger ab 1. Januar 1994 die volle Rente mit der
Begründung, er sei spätestens seit Anfang 1989 zu mindestens 75% be-
rufsunfähig. Nicht nur habe er nach wie vor erhebliche Magenbeschwer-
den, deretwegen er täglich fünf kleine Mahlzeiten einnehmen und an-
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schließend jeweils eine halbstündige Ruhepause einhalten müsse, son-
dern er leide auch an Erkrankungen des Bewegungsapparates, vor allem
der Wirbelsäule, der Knie- und der Hüftgelenke, die sich seit den 70er
Jahren kontinuierlich verschlimmert und ihm spätestens seit Anfang 1989
das Tragen schwerer Gegenstände, insbesondere der Geldzählmaschi-
ne, unmöglich gemacht hätten. Allein aus diesem Grund habe er zum
1. Mai 1989 seinen Sohn als Begleiter bei den Abrechnungsfahrten ein-
gestellt.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der
Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit seiner
Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen
Urteils.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat Erfolg. Die Feststellungen des Berufungsgerichts
tragen die Klageabweisung nicht.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Kläger sei nicht zu
mehr als 40% berufsunfähig. Aufgrund des vom Landgericht eingeholten
orthopädischen Sachverständigengutachtens stehe zwar zur Überzeu-
gung des Senats fest, daß der Kläger keine schweren Gegenstände tra-
gen dürfe. Auch sei bewiesen, daß der Kläger früher Geräte aufgestellt
und vor Ort oder in seiner Werkstatt repariert und daß er die Geräte ent-
leert und mit den Gastwirten den Gewinn abgerechnet habe, wozu er die
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schweren Spielgeräte bzw. die schwere Geldzählmaschine, habe heben
und tragen müssen. Durch seine krankheitsbedingte Unfähigkeit zu die-
sen für seinen Beruf prägenden, wesentlichen Einzelverrichtungen sei
der Kläger als mitarbeitender Betriebsinhaber jedoch noch nicht berufs-
unfähig. Dazu genüge nicht, daß er Einzelverrichtungen, die er sich bis-
her ausgesucht hatte, nicht mehr ausüben könne. Der Kläger übe viel-
mehr immer noch eine angemessene Tätigkeit aus, weil er weiter seine
Mitarbeiter überwache und einsetze, die Kundenwerbung weiterbetreibe
und die Spielgeräte entleere und mit seinen Kunden abrechne. Wegen
dieser fortdauernden Erledigung seiner alten Aufgaben habe er, unge-
achtet der Einstellung eines neuen Mitarbeiters, seinen Betrieb auch
nicht umorganisiert. Der Kläger falle zwar bei dem Transport und der
Reparatur der Spielgeräte völlig aus, jedoch mache dieser Teil seiner
Tätigkeit nach seinen eigenen Angaben nur 10% seiner Arbeitszeit aus,
während er 80% für das Abkassieren und die Abrechnung verwende.
Beim Abkassieren und Abrechnen sei ihm aber nur das Tragen der Geld-
zählmaschine und das Tragen des eingesammelten Hartgeldes zur Bank
unmöglich. Er habe nicht nachgewiesen, daß diese beiden Tragevorgän-
ge mehr als 30% seiner gesamten Arbeitszeit ausmachten, so daß nicht
davon ausgegangen werden könne, daß er zu mehr als 40% berufsunfä-
hig sei.
II. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht
stand. Berufsunfähigkeit liegt nach den Vertragsbedingungen vor, wenn
der Versicherte infolge Krankheit oder Körperverletzung ganz oder teil-
weise außerstande ist, seinen Beruf oder eine andere Erwerbstätigkeit
auszuüben, die seiner Lebensstellung, seinen Kenntnissen und Fähig-
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keiten angemessen ist. Bei einem mitarbeitenden Betriebsinhaber muß
zunächst, genau wie bei jedem anderen Versicherten, die Voraussetzung
erfüllt sein, daß er zu seiner konkreten beruflichen Tätigkeit, so wie sie
bis zum Eintritt der Gesundheitsbeeinträchtigung ausgestaltet war, in ei-
nem Ausmaß nicht mehr imstande ist, das nach den Versicherungsbe-
dingungen einen Rentenanspruch begründet. Darüber hinaus muß der
mitarbeitende Betriebsinhaber aber darlegen und erforderlichenfalls be-
weisen, daß ihm eine zumutbare Betriebsorganisation keine gesundheit-
lich noch zu bewältigende Betätigungsmöglichkeit eröffnen kann, die be-
dingungsgemäße Berufsunfähigkeit ausschließen würde (BGH, Urteil
vom 12. Juni 1996 - IV ZR 118/95 - VersR 1996, 1090 unter II 3 a). Bei
der Prüfung der ersten Voraussetzung ist dem Berufungsgericht ein
Rechtsfehler
unterlaufen,
der
dazu
geführt
hat,
daß
es
die
- erforderliche - Prüfung der zweiten Voraussetzung unterlassen hat.
1. Das Berufungsgericht hat übersehen, daß der gerichtliche
Sachverständige bei seiner Feststellung, daß der Kläger keine schweren
Gegenstände mehr tragen könne, dem insoweit rechtsirrtümlichen Be-
weisbeschluß des Landgerichts folgend, auf einen falschen Stichtag ab-
gestellt hat, nämlich auf den 1. Januar 1994, der den Beginn des vom
Kläger geltend gemachten Leistungszeitraums markiert. Sollte die Unfä-
higkeit des Klägers, schwer zu tragen, tatsächlich erst an diesem Tage
eingetreten sein, so hätte sie keine Berufsunfähigkeit herbeigeführt.
Denn bei dieser geht es darum, wie sich gesundheitliche Beeinträchti-
gungen bei einer konkreten Berufsausübung auswirken (BGH, Urteil vom
12. Juni 1996 - IV ZR 116/95 - VersR 1996, 959 unter II 1). Dabei ist
maßgebend die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie noch in ge-
sunden Tagen ausgestaltet war, d.h. solange die Leistungsfähigkeit des
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Versicherten
noch
nicht
beeinträchtigt
war
(BGH,
Urteil
vom
22. September 1993 - IV ZR 203/92 - VersR 1993, 1470 unter 3). Die Ab-
rechnungstätigkeit des Klägers war aber bereits lange vor dem 1. Januar
1994, nämlich schon seit dem 1. Mai 1989, dem Tage der Einstellung
seines Sohnes als Begleiter, so ausgestaltet, daß er gar nicht mehr
schwer zu tragen brauchte; denn dies nahm ihm seitdem sein Sohn ab.
Falls der Kläger seinen Sohn noch "in gesunden Tagen" eingestellt hatte,
hat eine nachträglich eingetretene Unfähigkeit zum Tragen ihn also nicht
berufsunfähig gemacht. Der Kläger hat aber substantiiert behauptet, daß
er bereits seit Anfang 1989 nicht mehr in der Lage sei, schwere Lasten
zu heben, und allein aus diesem Grund seinen Sohn als Gehilfen einge-
stellt habe. Dieser Vortrag ist indessen durch das gerichtliche Sachver-
ständigengutachten noch nicht bewiesen, weil das Landgericht dem Gut-
achter fälschlich die Frage vorgelegt hat, ob der Kläger seit dem
1. Januar 1994 nicht mehr schwer tragen könne, und der Sachverständi-
ge dementsprechend auch eine auf dieses Datum bezogene bejahende
Antwort gegeben hat.
Ist aber somit bislang offen, ob und wie sich die behaupteten ge-
sundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers Anfang 1989 auf seine
Fähigkeit zur weiteren Berufsausübung auswirkten, so fehlt es an einer
Beurteilungsgrundlage dafür, wie hoch der Grad seiner Berufsunfähigkeit
anzusetzen ist und ob der Kläger sich durch Umorganisation ein Berufs-
unfähigkeit ausschließendes Tätigkeitsfeld verschaffen konnte.
Das Berufungsurteil konnte daher keinen Bestand haben. Es war
aufzuheben und die Sache zur Nachholung der erforderlichen weiteren
Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
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2. Dabei wird das Berufungsgericht die folgenden rechtlichen Ge-
sichtspunkte berücksichtigen müssen:
a) Falls der Kläger schon vor der Einstellung seines Sohnes nicht
mehr schwer tragen konnte, darf das Berufungsgericht bei der Bemes-
sung des Grades der hierdurch hervorgerufenen Berufsunfähigkeit des
Klägers nicht nur auf den - vom Berufungsgericht nicht bezifferten - Zeit-
anteil abstellen, der auf das Tragen der Geldzählmaschine entfiel. Das
Tragen der Geldzählmaschine war keine abtrennbare und deshalb ge-
sondert zu veranschlagende berufliche Einzelverrichtung, sondern ein
untrennbarer Bestandteil des Abrechnungsvorgangs, der aus An- und
Abfahrt, der Leerung der Automaten, dem Zählen des Hartgeldes mittels
der Geldzählmaschine, der Berechnung des Anteils des jeweiligen Gast-
wirts, der Auszahlung dieses Anteils an den Gastwirt und dem Abtrans-
port des eigenen Anteils des Klägers bestand. Diese Abrechnung war ein
einheitlicher Lebensvorgang, zu dem das Tragen der Geldzählmaschine
dazugehörte; denn ohne diese konnte der Kläger nicht abrechnen.
b) Bei der etwaigen Prüfung, ob der Kläger die Tätigkeiten in sei-
nem Betrieb auch nicht auf zumutbare Weise so umschichten kann, daß
ihm eine die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ausschließende Tä-
tigkeit verbleibt (BGH, Urteil vom 12. Juni 1996, aaO unter 3), wird zu
beachten sein, daß der Kläger entgegen der Ansicht des Berufungsge-
richts, eine Umorganisation seines Betriebes bereits vorgenommen hat,
indem er seinen Sohn einstellte (zur Umorganisation durch Einstellung
weiterer Mitarbeiter vgl. BGH, Urteil vom 25. September 1991 - IV ZR
145/90 - VersR 1998, 1358 unter 2 b). Es kommt deshalb darauf an, ob
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diese Umorganisation für ihn unzumutbar war. Eine Umorganisation ist
für den Versicherten nur dann zumutbar, wenn sie nicht mit auf Dauer ins
Gewicht fallenden Einkommenseinbußen verbunden ist (BGH, Urteile
vom 5. April 1989 - IV ZR 35/88 - VersR 1989, 579 und vom
25. September 1991 - IV ZR 145/90 - VersR 1991, 1358).
c) Schließlich darf das Berufungsgericht das Magenleiden des Klä-
gers nicht unberücksichtigt lassen. Sollte der Kläger aus orthopädischer
Sicht Anfang 1989 zu weniger als 75% berufsunfähig oder sollte ihm die
Umorganisation zumutbar gewesen sein, so müßte das Berufungsgericht
die Frage klären, ob, seit wann und inwieweit ihn sein Magenleiden an
der Fortsetzung seiner früheren Tätigkeit hindert.
Terno Dr. Schlichting Ambrosius
Wendt Felsch