Urteil des BGH vom 28.02.2001

BGH (vereinigung, stgb, hauptverhandlung, zelle, mitgliedschaft, stpo, gegenstand des verfahrens, anklage, 50 jahre, beweisaufnahme)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StE 1/01
StB 4 und 5/01 vom
30. März 2001
in dem Strafverfahren
gegen
wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung u.a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts sowie des Angeschuldigten und seiner Verteidiger am 30. März
2001 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde des Generalbundesanwalts
wird der Beschluß des Kammergerichts in Berlin vom
28. Februar 2001 aufgehoben.
2. Die Anklage des Generalbundesanwalts vom 28. Januar
2001 wird zur Hauptverhandlung zugelassen und das Haupt-
verfahren vor dem Kammergericht in Berlin eröffnet.
3. Die weitere Vollziehung des Haftbefehls des Ermittlungsrich-
ters des Bundesgerichtshofs vom 15. Dezember 1999
- 1 BGs 284/99 - wird angeordnet.
Gründe:
Der Generalbundesanwalt legt dem Angeschuldigten S. mit der An-
klage vom 28. Januar 2001 zur Last, er sei von 1985 bis 1990 Rädelsführer der
"Berliner Zelle" der "Revolutionären Zellen (RZ)" gewesen und habe an dem
Sprengstoffanschlag in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1987 auf das Ge-
bäude der Zentralen Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) in Berlin mitge-
wirkt. Wegen dieses Sachverhalts hatte der Ermittlungsrichter des Bundesge-
richtshofs mit Beschluß vom 15. Dezember 1999 - 1 BGs 284/99 - Haftbefehl
gegen den bereits in anderer Sache in Haft befindlichen Angeschuldigten erlas-
sen und die Notierung von Überhaft angeordnet. Diese wurde seit 15. Februar
2001 vollzogen.
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Das Kammergericht hat mit Beschluß vom 28. Februar 2001 die Eröffnung
des Hauptverfahrens abgelehnt, weil das Verfahrenshindernis anderweitiger
Rechtshängigkeit entgegenstehe, den Haftbefehl aufgehoben und die Freilas-
sung des Angeschuldigten angeordnet.
Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
In einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main (51 Js
118/96) war dem Angeschuldigten mit Anklage vom 16. November 1999 zur
Last gelegt worden, er habe als Mitglied der "Revolutionären Zelle" Beihilfe zu
dem Anschlag auf die Teilnehmer an der OPEC-Konferenz in Wien am 21. De-
zember 1975 geleistet. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt
am Main beantragte die Staatsanwaltschaft, das Verfahren gemäß § 270 StPO
an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zu verweisen, weil die Beweisauf-
nahme den Verdacht ergeben habe, der Angeschuldigte sei jedenfalls seit De-
zember 1975 bis zu seinem Ausstieg im Jahre 1990 ununterbrochen Mitglied
der Revolutionären Zellen gewesen. Diesen Antrag hat die Strafkammer abge-
lehnt, da ein hinreichend wahrscheinlicher Tatverdacht für eine fortlaufende
Mitgliedschaft nicht bestehe, vielmehr sei 1978 durch das Abtauchen des An-
geschuldigten ins Ausland eine Unterbrechung mit der Folge einer neuen selb-
ständigen Tat des § 129 a StGB für die Zeit nach seiner Rückkehr im Jahre
1985 erfolgt. Mit Urteil vom 15. Februar 2001 hat es ihn sodann wegen des an-
geklagten Tatvorwurfs freigesprochen; hiergegen hat die Staatsanwaltschaft
Revision eingelegt.
Das Kammergericht hält die Auffassung des Landgerichts für unzutreffend,
weil eine Mitgliedschaft nach § 129 a Abs. 1 StGB auch bei längerer Untätigkeit
fortbestehe und es im übrigen auch für die Zeit von 1978 bis 1985 konkrete
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Hinweise auf mitgliedschaftliche Betätigungsakte des Angeschuldigten gebe. Er
habe damit der "(Gesamt-) Vereinigung Revolutionäre Zellen" von 1975 bis
1990 ohne Unterbrechung angehört, weshalb nur eine einzige Straftat nach §
129 a StGB vorliege, die bereits Gegenstand des Verfahrens bei dem Landge-
richt Frankfurt am Main sei und sich auch auf den tateinheitlichen Vorwurf des
Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion erstrecke.
Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Generalbundesan-
walts ist begründet.
I. Das Verfahrenshindernis anderweitiger Rechtshängigkeit ist nicht gege-
ben, weil der Angeschuldigte nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht von
1975 bis 1990 ununterbrochen der gleichen terroristischen Vereinigung ange-
hörte und damit nicht vom Vorliegen einer einzigen Tat nach § 129 a StGB für
den gesamten Zeitraum ausgegangen werden kann.
1. Der Senat hat im Verfahren auf die Beschwerde gegen die Ablehnung
der Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 210 Abs. 2 StPO in vollem Um-
fang zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der Eröffnung nach § 203 StPO
gegeben sind und insbesondere nicht das Prozeßhindernis anderweitiger
Rechtshängigkeit entgegensteht.
Ein Strafverfahren darf grundsätzlich nur durchgeführt werden, wenn fest-
steht, daß die erforderlichen Prozeßvoraussetzungen vorliegen und Prozeßhin-
dernisse nicht entgegenstehen, die erforderlichen Feststellungen hierfür sind im
Wege des Freibeweises zu treffen (vgl. Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 24.
Aufl. § 203 Rdn. 16, § 206 a Rdn. 28 ff., 59). Bleibt nach Ausschöpfung aller
Erkenntnismöglichkeiten zweifelhaft, ob ein Prozeßhindernis vorliegt, ist nach
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der h.M. nach der Art des Prozeßhindernisses oder der Prozeßvoraussetzung
zu differenzieren (vgl. BGHSt 18, 274, 277 f.; Überblick bei Paeffgen in SK-
StPO 15. Lfg. § 206 a Rdn. 16 f.). In einigen älteren Entscheidungen ist zur
Frage des Strafklageverbrauchs noch die Auffassung vertreten worden, daß
hier der Zweifelssatz nicht anwendbar sei und nur eine nachgewiesene vorher-
gehende Verurteilung die erneute Aburteilung hindere (OGHSt 1, 207; BGH,
Urt. vom 9. Oktober 1952 - 4 StR 124/52; Urt. vom 19. Februar 1954 - 2 StR
581/53). Diese Entscheidungen sind jedoch durch BGHSt 18, 274 überholt (vgl.
BayObLG NJW 1968, 2118). Allerdings erfordert die Anwendung des Zweifels-
satzes konkrete tatsächliche Umstände; bloß theoretische, nur denkgesetzlich
mögliche Zweifel reichen nicht aus (vgl. Rieß aaO). Dabei ist es in aller Regel
ohne praktische Bedeutung, ob dogmatisch von der Funktion der Prozeß-
voraussetzung als Bedingung für die Zulässigkeit eines Sachurteils oder von
der Anwendung des Zweifelssatzes ausgegangen wird (Kleinknecht/Meyer-
Goßner, StPO 44. Aufl. § 206 a Rdn. 7).
Etwas anderes muß jedoch gelten, wenn das Vorliegen des Verfahrens-
hindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit nicht nach Aktenlage geklärt
werden kann, sondern von Tatsachen abhängt, die die angeklagte Straftat
betreffen. Deren Feststellung muß dem Strengbeweis in der Hauptverhandlung
vorbehalten bleiben (Loos, JuS 1979, 702; vgl. auch Rieß aaO § 203 Rdn. 8;
Paeffgen aaO § 203 Rdn. 13). Würden solche Fragen bereits im Eröffnungsver-
fahren mit der erforderlichen Vollständigkeit geprüft werden, müßte ein unter
Umständen wesentlicher Teil der Hauptverhandlung vorweggenommen werden,
wobei der Angeklagte im Freibeweisverfahren eine schlechtere verfahrensrecht-
liche Position besitzt. Die - im Falle einer Verneinung eines Prozeßhindernisses
- erforderliche Wiederholung dieser Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung
nach den Regeln des Strengbeweises würde nicht nur prozeßunökonomisch
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und für die Beteiligten zusätzlich belastend sein, sie würde auch die Gefahr wi-
dersprüchlicher Ergebnisse in sich bergen und letztlich dem Prinzip des Straf-
verfahrens, wonach der Schwerpunkt in der Hauptverhandlung liegen soll, zu-
widerlaufen (vgl. dazu Loos aaO: keine Hauptverhandlung vor der Hauptver-
handlung, diese solle "Premiere", nicht "Reprise" sein). Daß eine solche doppel-
te Beweisaufnahme in hohem Maße unzuträglich sein kann, zeigt gerade das
vorliegende Verfahren. Die abschließende Klärung der Frage, ob eine ander-
weitige Rechtshängigkeit gegeben sein könnte, würde auf der Grundlage der
bisherigen Rechtsprechung zum prozessualen Tatbegriff eine umfassende Be-
weisaufnahme über die Einbindung des Angeklagten in die verschiedenen Aus-
formungen der "Revolutionären Zellen" in der Zeit von 1975 bis 1990 und über
seine Tätigkeit im Zeitraum von 1978 bis 1985 voraussetzen. Dafür müßte ne-
ben zahlreichen anderen Beweiserhebungen der Zeuge M. umfangreich
vernommen werden, dessen Glaubwürdigkeit die Verteidiger mit zahlreichen
Einwänden in Frage stellen würden. Damit müßte ein wesentlicher Teil der
Hauptverhandlung vorweggenommen werden, was hier voraussichtlich mehrere
Monate in Anspruch nehmen würde.
Diese Auffassung entspricht auch der Praxis des Bundesgerichtshofs in
Revisionsverfahren, in denen die Frage des Vorliegens eines Strafklage-
verbrauchs von den bislang ungenügend aufgeklärten tatsächlichen Umständen
der abgeurteilten Tat abhängt, etwa weil in Frage steht, ob ein Handel mit Be-
täubungsmitteln Teil einer bereits anderweitig abgeurteilten Bewertungseinheit
ist. In solchen Fällen wird diese Frage nicht im Revisionsverfahren im Wege
des Freibeweises geklärt, sondern die Sache zu erneuter tatrichterlicher Fest-
stellung im Wege des Strengbeweises zurückverwiesen (BGH, Beschl. vom
16. November 2000 - 3 StR 457/00).
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Für die Frage der Eröffnung muß demnach eine hinreichende Wahrschein-
lichkeit dafür genügen, daß die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ein
solches Verfahrenshindernis nicht ergeben werde.
2. Bei der "Revolutionären Zelle", der der Angeschuldigte von 1975 bis
1978 im Bereich Frankfurt am Main angehört hat, und der "Berliner Zelle der
Revolutionären Zellen" im Tatzeitraum der Anklage zum Kammergericht von
1985 bis 1990 handelt es sich nach Aktenlage um unterschiedliche terroristi-
sche Vereinigungen. Eine den gesamten Zeitraum von 1975 bis 1990 und
gleichzeitig auch die verschiedenen regionalen Gruppierungen umfassende
einheitliche Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB ("Gesamtvereinigung") war
entgegen der Auffassung des Kammergerichts nicht gegeben. Zwar erscheint
es grundsätzlich vorstellbar, daß sich eine terroristische Gruppierung in der Art
organisiert und strukturiert, daß neben einzelnen regionalen Vereinigungen
auch eine übergeordnete Dach-Vereinigung besteht, die ihrerseits ebenfalls die
Kriterien einer terroristischen Vereinigung nach § 129 a StGB erfüllt, wobei ein-
zelne Mitglieder sowohl der regionalen, als auch der Dach-Vereinigung angehö-
ren und sich an ihnen aktiv beteiligen können. Hier ergibt sich jedoch aus den
Ermittlungen, daß nach der Umstrukturierung der "Revolutionären Zelle" im
Zeitraum von 1976 bis 1981 keine solche Dach-Vereinigung vorhanden war, die
selbst als terroristische Vereinigung nach § 129 a StGB angesehen werden
könnte. Dazu wäre Voraussetzung gewesen, daß sich mehrere Personen zu
einer Vereinigung zusammenschließen, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf
gerichtet war, bestimmte Straftaten der in § 129 a Abs. 1 StGB genannten Art
zu begehen, wobei die Unterwerfung der Mitglieder unter eine organisierte Wil-
lensbildung notwendig ist, was innerhalb der Vereinigung bestehende, von den
Mitgliedern anerkannte Entscheidungsstrukturen voraussetzt (BGHSt 10, 16 f.;
28, 147 f.; 31, 202, 205).
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Wie der Generalbundesanwalt in seiner Beschwerdebegründung vom
5. März 2001 unter Hinweis auf Fundstellen in dem publizistischen Organ "Re-
volutionärer Zorn" der "Revolutionären Zelle" im einzelnen belegt, hat sich die
"Revolutionäre Zelle" im September 1976 in "Revolutionäre Zellen" umbenannt
und mehrere einzelne selbständige, regional aufgeteilte Zellen mit eigenen Ent-
scheidungs- und Handlungsbefugnissen gebildet. Dabei wird zur Eigenständig-
keit dieser Zellen betont, daß "jeder selbst entscheiden kann" ... "ohne auf die
Bestätigung oder das Dementi eines nicht vorhandenen ZK's zu warten" (Revo-
lutionärer Zorn Nr. 5, April 1978). Dies belegt das Fehlen einer übergeordneten
Vereinigung mit eigener Entscheidungsstruktur, der sich die einzelnen Mitglie-
der der Zellen unterworfen hätten. Dem entspricht, daß es nach der Aussage
des Zeugen M. , der zu der Zusammensetzung und Struktur der "Re-
volutionären Zellen" in dem fraglichen Zeitraum ab Mitte der 80-er Jahre um-
fangreiche und umfassende Angaben gemacht hatte, an überregionalen Tätig-
keiten lediglich einmalige jährliche Treffen von Abgesandten der einzelnen Zel-
len gegeben hatte, die "Miez" oder auch "Asamblea" genannt wurden. Daß dort
verbindliche Entscheidungen für die Durchführung von Straftaten im Sinne des
§ 129 a Abs. 1 StGB getroffen worden wären, die dann auch unter der Verant-
wortung einer solchen überregionalen Vereinigung verübt worden wären, hat er
nicht berichtet; auch sonst fehlen dafür jegliche Anhaltspunkte. Daß die einzel-
nen Zellen gelegentlich zusammenarbeiteten, z.B. durch die
Überlassung von Sprengstoff aus einem Diebstahl, oder daß sie ein einheitli-
ches Symbol verwendeten, vermag daran nichts zu ändern, da dies die fehlen-
den Merkmale einer Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB für die angebliche
"Gesamt-Vereinigung" nicht ersetzen kann.
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Dabei kommt hinzu, daß mit der Umstrukturierung der "Revolutionären
Zelle" auch ein inhaltlicher und programmatischer Wandel verbunden war, der
zu Spaltungen und Trennungen führte, wie in der Beschwerdebegründung im
einzelnen dargestellt und belegt wird. Bei dieser Sachlage braucht der Senat
daher nicht zu entscheiden, ob die Frage der Fortdauer einer einheitlichen Mit-
gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegebenenfalls dann anders zu
beurteilen ist, wenn sich eine Vereinigung aus taktischen Gründen einvernehm-
lich umstrukturiert und nahtlos ihre bisherigen Zwecke weiterverfolgt, sei es,
daß sich eine bislang einheitliche Organisation in mehrere einzelne Vereinigun-
gen aufspaltet oder umgekehrt bisher selbständige Gruppierungen sich zu einer
einheitlichen Vereinigung mit gleichbleibender Zielrichtung zusammenschlie-
ßen.
3. Zudem ist durch das Abtauchen des Angeschuldigten im August 1978
nach dem bisherigen Kenntnisstand seine mitgliedschaftliche Beteiligung an der
"Revolutionären Zelle", der er bis dahin angehört hatte, beendet worden. Darin
liegt eine Zäsur, die der Annahme einer einzigen Tat nach § 129 a StGB entge-
gensteht.
Der Angeschuldigte selbst erklärte hierzu in der Hauptverhandlung vor
dem Landgericht Frankfurt am Main im Rahmen der Schilderung seines Le-
benslaufes: "In der Zeit von August 1978 bis zur Wiederaufnahme meiner politi-
schen Aktivitäten Mitte der 80er Jahre habe ich keine strafbaren Handlungen
begangen und keiner verbotenen Organisation angehört." Mag diese Erklärung
auch prozeßtaktischen Erwägungen entspringen, so stimmt sie jedenfalls inso-
weit mit den Ermittlungsergebnissen überein, als für die Zeit nach dem Abtau-
chen im August 1978 bis jedenfalls 1981 keinerlei Anhaltspunkte für eine Fort-
setzung der mitgliedschaftlichen Beteiligung des Angeklagten an der "Revo-
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lutionären Zelle" gegeben sind; solche hat auch das Kammergericht nicht fest-
gestellt.
Wenn es gleichwohl diesem Umstand für die Fortdauer der Mitgliedschaft
keine maßgebliche Bedeutung beimißt, weil nach BGHSt 29, 288, 294 die Mit-
gliedschaft auch in Zeiten fortbestehe, in denen gerade keine Tätigkeit entfaltet
werde, wird es weder dem Sinn dieser Entscheidung, noch dem Begriff der
mitgliedschaftlichen Beteiligung nach § 129 a Abs. 1 StGB gerecht. Danach ge-
nügt eben nicht eine nur passive, für das Wirken der Vereinigung bedeutungs-
lose Mitgliedschaft, vielmehr ist erforderlich, daß diese auf eine aktive Teilnah-
me am Verbandsleben gerichtet sein muß (BGHSt 29, 114, 120 f.). Gerade weil
in BGHSt 29, 288, 294 dieser Grundsatz unter Verweis auf die vorgenannte
Entscheidung wiederholt wird, kann die nachfolgende Erwägung, die Mitglied-
schaft bestehe auch in Zeiten, in denen keine Tätigkeit für die Vereinigung aus-
geübt werde, nur dahin verstanden werden, daß es bei einer solchen aktiven
Beteiligung naturgemäß zwischen den einzelnen Betätigungsakten zu Pausen
kommen kann, die ohne Einfluß auf das Andauern der Mitgliedschaft bleiben.
Daraus hat der Senat gefolgert, daß diese Tatbestandsstruktur dazu führe, daß
sich die Strafbarkeit der mitgliedschaftlichen Beteiligung auf Jahre erstrecken
könne (BGHSt 29, 288, 294). Umgekehrt durfte daraus das Kammergericht je-
doch nicht den Schluß ziehen, daß selbst eine jahrelange Unterbrechung der
aktiven Betätigung die Fortdauer der Mitgliedschaft im Sinne des § 129 a Abs. 1
StGB ohne weiteres unberührt lasse. Wenn das Kammergericht in diesem Zu-
sammenhang darauf abstellt, daß der Wechsel des Angeklagten nach Berlin
(nach mehreren Jahren) als "Wiederaufleben der zuvor ruhenden Mitglied-
schaft" (BA S. 5) anzusehen sei, beschreibt es gerade nicht eine aktive, son-
dern allenfalls eine zwischenzeitliche passive Mitgliedschaft, die für die Erfül-
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lung des Tatbestandes des § 129 a Abs. 1 StGB nach dem Wortlaut des Geset-
zes und auch nach der Rechtsprechung nicht ausreicht.
Insofern ist die Tatbestandsstruktur des Organisationsdeliktes der
mitgliedschaftlichen Beteiligung nach § 129 a Abs. 1 StGB dem Tatbestand der
geheimdienstlichen Agententätigkeit nach § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB vergleichbar.
Auch dort stellt sich das Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen Zei-
ten der Inaktivität eines Agenten noch als tatbestandsimmanentes Verhalten
anzusehen sind oder ob ein späteres erneutes Tätigwerden eine neue Tat im
Sinne des § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB darstellt (vgl. dazu Rissing–van Saan in FS
50 Jahre BGH, S. 485 f.). So hat der Senat die vorübergehende "Abschaltung"
eines Agenten für die Dauer eines Jahres nach der Enttarnung eines anderen
Agenten zur Vermeidung einer Entdeckung als für eine geheimdienstliche
Agententätigkeit typisch bewertet (BGHR StGB § 99 Ausüben 2). Ähnliches
dürfte für das Mitglied einer terroristischen Vereinigung gelten, das sich etwa
dem verstärkten Fahndungsdruck der Polizei nach einem spektakulären An-
schlag durch ein vorübergehendes Untertauchen entzieht, um danach seine
Tätigkeit wieder ungefährdet fortsetzen zu können. Dabei wird man aber eben-
so wie bei der geheimdienstlichen Agententätigkeit für die Frage einer Tatbeen-
digung nicht allein auf die Dauer der zeitlichen Zäsur abstellen dürfen, sondern
eine Gesamtbetrachtung der Umstände, insbesondere der Ausgestaltung der
weiteren Beziehungen zu der Vereinigung anzustellen haben (vgl. Rissing–van
Saan aaO, S. 486). Hier ist zu berücksichtigen, daß der Angeschuldigte im Au-
gust 1978 abtauchte, als gegen ihn wegen Mitgliedschaft in der "Revolutionären
Zelle" ermittelt worden war, was zum Erlaß eines Haftbefehls des Ermittlungs-
richters des Bundesgerichtshofs vom 15. September 1978 geführt hatte. Dies
und der Umstand, daß bis 1981 keinerlei Anhaltspunkte für eine weitere Tätig-
keit vorliegen, ferner daß der Angeklagte nach der oben dargelegten Umstruk-
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turierung der "Revolutionären Zelle" nicht in seiner alten Frankfurter Gruppe,
sondern in der "Berliner Zelle" aktiv geworden ist, belegt zur Überzeugung des
Senats, daß er seine mitgliedschaftliche Betätigung mit dem Abtauchen been-
det und danach an anderer Stelle und für eine andere Vereinigung neu aufge-
nommen hat.
4. Unabhängig von den vorgenannten Erwägungen neigt der Senat in
Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGHSt 29, 288 ff.) dazu,
auch bei einem Organisationsdelikt mehrere prozessuale Taten anzunehmen,
wenn nur einzelne Betätigungen eines Mitglieds einer solchen Organisation
(kriminelle oder terroristische Vereinigung, Verein i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Ve-
reinsG) Gegenstand der früheren Anklage und gerichtlichen Untersuchung wa-
ren und der Angeklagte nicht darauf vertrauen durfte, daß durch das frühere
Verfahren alle Betätigungsakte für die Vereinigung erfaßt wurden (Urt. des Se-
nats vom heutigen Tage - 3 StR 342/00, vgl. dazu Krauth in FS für Kleinknecht,
1985, S. 215, 229 ff.). Der 2. Strafsenat hat zu Recht darauf hingewiesen, daß
die uferlose Ausdehnung der Kognitionspflicht des Tatrichters durch den pro-
zessualen Tatbegriff bei derartigen langgestreckten Delikten (Organisationsde-
likte, Dauerdelikte, Bewertungseinheiten) dessen Leistungsfähigkeit übersteige
und eine den Grundsätzen des Strafverfahrens widersprechende Verlagerung
von Ermittlungstätigkeit in das gerichtliche Hauptverfahren zur Folge habe.
Gleichzeitig würden die auch dem Schutz des Angeklagten dienenden Verfah-
rensinstitute wie Anklage und Eröffnungsverfahren ausgehöhlt (BGHSt 43, 252,
257).
II. Da der Angeschuldigte im übrigen der angeklagten Tat hinreichend ver-
dächtig ist, war die Anklage des Generalbundesanwalts zur Hauptverhandlung
zuzulassen und das Hauptverfahren vor dem Kammergericht zu eröffnen. Im
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einzelnen wird hierzu auf die Anklage und das wesentliche Ergebnis der Ermitt-
lungen Bezug genommen. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 210 Abs. 3
Satz 2 StPO, die Hauptverhandlung vor einem anderen Senat dieses Gerichts
zu eröffnen, keinen Gebrauch gemacht.
III. Der Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 Abs. 1 StPO wird durch die
vorliegende Beschwerdeentscheidung die Grundlage entzogen. Gemäß § 207
Abs. 4 StPO ordnet der Senat die weitere Vollziehung des Haftbefehls des Er-
mittlungsrichters vom 15. Dezember 1999 an. Der dringende Tatverdacht be-
ruht auf der umfangreichen Aussage des Zeugen M. . Es besteht wei-
terhin neben dem Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO der Haftgrund der Flucht-
gefahr, nachdem der Angeschuldigte bereits im August 1978 zur Vermeidung
seiner Festnahme untergetaucht, einige Jahre später zwar wieder nach
Deutschland zurückgekehrt war, aber hier illegal bis zum vermeintlichen Verjäh-
rungseintritt gelebt hatte. Dies belegt die Gefahr, daß er sich auch jetzt dem
nunmehr drohenden Strafverfahren durch Flucht entziehen werde. Diese Ge-
fahr wird nicht dadurch ausgeräumt, daß er nach dem Nichteröffnungsbeschluß
und der Aufhebung des Haftbefehls sich verfügbar gehalten hat, da er bislang
darauf hoffen konnte, von einem weiteren Strafverfahren verschont zu bleiben.
Unter den gegebenen Umständen kann gegenwärtig der Fluchtgefahr auch
nicht durch Maßnahmen nach § 116 StPO begegnet werden. Da der Ange-
schuldigte innerhalb der "Berliner Zelle" eine führende Rolle eingenommen hat
und auch in maßgeblicher Weise an den begangenen Taten beteiligt war, hat er
trotz der zwischenzeitlichen Beendigung der Tätigkeit dieser Vereinigung und
des Zeitabstandes zwischen den Taten und ihrer Verfolgung eine nicht uner-
hebliche Freiheitsstrafe zu erwarten.
Kutzer Miebach Winkler
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Pfister von Lienen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
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StPO § 203;
StGB § 129 Abs. 1, § 129 a Abs. 1
1.
Kommt es im Eröffnungsverfahren bei der Prüfung des Verfahrens-
hindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit auf die Klärung von
Tatsachen an, die die angeklagte Straftat betreffen, so erfolgt diese
nicht im Freibeweisverfahren, sondern ist dem Strengbeweisverfah-
ren der Hauptverhandlung vorbehalten. Für die Eröffnung des
Hauptverfahrens genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, daß
die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ein solches Verfah-
renshindernis nicht ergeben werde.
2.
Die vom Senat für die Unterbrechung von geheimdienstlicher Agen-
tentätigkeit entwickelten Grundsätze gelten auch für die mitglied-
schaftliche Betätigung in einer kriminellen oder terroristischen Verei-
nigung.
BGH, Beschl. vom 30. März 2001 - StB 4 und 5/01 - Kammergericht Berlin