Urteil des BGH vom 15.05.2006

BGH: unterbringung, jugendamt, kontrolle, ausländerrecht, verfügung, aufenthalt, einreise, ausreise, flughafen, jugendlicher

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Gericht:
OLG Frankfurt 20.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
20 W 124/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 15 Abs 1 AufenthG, § 15 Abs
4 S 1 AufenthG, § 62 Abs 2 S 1
Nr 5 AufenthG
(Ausländerrecht: Verhältnismäßigkeit der Anordnung von
Haft zur Sicherung der Zurückweisung im Falle eines
Minderjährigen)
Leitsatz
Zur Verhältnismäßigkeit der Anordnung von Haft zur Sicherung der Zurückweisung bei
Minderjährigen.
Tenor
[Anmerkung der Dokumentationsstelle des Bundesgerichtshofs: Der Tenor wurde
vom Gericht nicht mitgeteilt.]
Gründe
I.
Der nach eigenen Angaben am … 1989 geborene Betroffene, dessen Alter bisher
nicht in Zweifel gezogen worden ist, meldete sich am 23. Februar 2006 bei der
grenzpolizeilichen Einreisekontrolle des Flughafens ... . Er gab an,
palästinensischer Nationalität zu sein und drei Tage zuvor durch einen Schleuser,
der seinen Pass und die Flugunterlagen an sich genommen habe, mit einem Flug
aus der Türkei in den Transitbereich gelangt zu sein. Er wurde vom 23. Februar bis
2. Mai 2006 in eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen und dort
ärztlich behandelt.
Die Antragsteller beantragte sodann die Anordnung von Zurückweisungshaft und
führte zur Begründung aus, mildere Mittel stünden nicht zur Verfügung, da sich der
Transitbereich für einen längeren Aufenthalt nicht eigne und es derzeit keine
geeigneten Räumlichkeiten zur Unterbringung von Ausländern am Flughafen gebe,
denen die Einreise untersagt sei. Die Unterbringung in einem Jugendheim
scheitere daran, dass die Fiktion der Nichteinreise nach § 13 Abs. 2 S. 2 AufenthG
durch eine ständige Beaufsichtigung durch die Bundespolizei nicht gewährleistet
werden könne und das Jugendamt ... sich nicht für zuständig halte und deshalb die
Aufnahme von Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen vor der Entscheidung über
deren Einreise verweigere.
Daraufhin ordnete das Amtsgericht Frankfurt am Main Haft zur Sicherung der
Zurückweisung des Betroffenen bis zum 2. Juni 2006 an.
Die hiergegen von dem beigeordneten Verfahrenspfleger eingelegte sofortige
Beschwerde wies das Landgericht mit Beschluss vom 24. März 2006 zurück und
führte zur Begründung im wesentlichen aus, die Kammer sei nach erneuter
persönlicher Anhörung zu der Überzeugung gelangt, der Betroffene stamme nicht
aus Palästina und versuche, die Behörden über seine wahre Identität zu täuschen.
Die Haft sei auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Senates
verhältnismäßig, da der Antragsteller überzeugend dargelegt habe, dass mildere
Mittel zur Sicherung der Ausreise nicht gegeben seien. Der Aufenthalt im
Transitbereich sei für Minderjährige nicht geeignet und nicht fluchtsicher genug.
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Transitbereich sei für Minderjährige nicht geeignet und nicht fluchtsicher genug.
Eine Unterbringung in der Asylbewerberunterkunft am Flughafen sei auf die
Bedürfnisse Jugendlicher nicht zugeschnitten und ebenfalls mit einer zwangsweisen
Freiheitsbeschränkung verbunden. Eine Unterbringung in einem Jugendheim
scheitere daran, dass die Fiktion der Nichteinreise, der der Vorrang vor der Wahl
eines Jugendheimes als eigentlich milderem Mittel einzuräumen sei, nicht mit
vertretbarem Aufwand gewährleistet werden könne. Deshalb komme in
Transitfällen für Minderjährige nur die Unterbringung in einer jugendgeeigneten
Justizvollzugsanstalt in Betracht.
Mit der hiergegen gerichteten sofortigen weiteren Beschwerde führt der
Verfahrenspfleger aus, die Haft sei unverhältnismäßig, weil nicht dargelegt worden
sei, wieso das Jugendamt nicht über eine Möglichkeit zur Unterbringung verfüge.
Der Antragsteller macht geltend, er habe als Bundesbehörde keinen Einfluss
bezüglich anderer Unterbringungsmöglichkeiten.
II.
Die zulässige sofortige weitere Beschwerde führt auch in der Sache zum Erfolg, da
die angeordnete Haft nicht mehr verhältnismäßig ist.
Wie der Senat bereits mit Beschluss vom 30. August 2004 in der Sache 20 W
245/05 (dokumentiert bei Melchior) ausgeführt hat, ist er mit den
Oberlandesgerichten Köln (Beschluss vom 11. September 2002 in der Sache 16
Wx 164/02 - dokumentiert bei Melchior, Abschiebungshaft; Beschluss vom 2.
Februar 2003 in der Sache 16 Wx 247/02 = JMBl. NW 2003, 129 = NVwZ- Beil.
2003, 48 = OLGR Köln 2003, 193) und Braunschweig (Beschluss vom 18.
September 2003 in der Sache 6 W 26/03) der Auffassung, dass der Anordnung der
Sicherung der Abschiebung/Zurückschiebung/Zurückweisung durch Haft bei
minderjährigen Ausländern wegen der Schwere des Eingriffs ganz besondere
Bedeutung zukommt. Minderjährige sind besonders schutzbedürftig, werden durch
eine Inhaftierung typischerweise erheblich betroffen und können dadurch
dauerhafte psychische Schäden davontragen. An das Beschleunigungsgebot sowie
die Verhältnismäßigkeit sind in diesen Fällen besondere Anforderungen zu stellen.
Deshalb sind die Voraussetzungen für eine Haftanordnung nicht gegeben, wenn
die Ausländerbehörde in ihrem Haftantrag nicht darlegt, warum mildere Mittel als
Haft zur Sicherung der zwangsweisen Ausreise oder Zurückweisung nicht in Frage
kommen. Dieser Rechtsprechung haben sich zwischenzeitlich auch das
Kammergericht (Beschlüsse vom 18. März 2005 in der Sache 25 W 64/04 =
InfAuslR 2005, 268 und vom 14. Oktober 2005 in der Sache 25 W 66/05 dok. bei
Melchior) sowie das Oberlandesgericht München (Beschluss vom 28. April 2005 in
der Sache 34 Wx 045/05 dok. bei Melchior = OLGR München 2005, 393) und das
Pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken (Beschluss vom 9. März 2006 in der
Sache 3 W 36/06 dok. bei Melchior) angeschlossen.
Nach diesen Grundsätzen erweist sich die von den Vorinstanzen angeordnete und
nunmehr bereits seit mehr als zwei Monaten vollzogene Haft angesichts der
Minderjährigkeit des Betroffenen als unverhältnismäßig, zumal der Antragsteller
nicht hinreichend dargelegt hat, dass mildere Mittel zur Sicherung der
Zurückweisung nicht zur Verfügung stehen.
Der Senat vermag der Auffassung des Landgerichts nicht beizutreten, in Fällen
von Minderjährigen aus dem Transitbereich komme stets nur die Unterbringung in
einer für die Aufnahme von Jugendlichen geeigneten Justizvollzugsanstalt in
Betracht. Insbesondere reicht es nicht aus, wenn der Antragsteller die Möglichkeit
der Unterbringung in einem Jugendheim oder einer ähnlichen
Jugendhilfeeinrichtung mit dem Hinweis auf die nicht bestehende Möglichkeit der
ständigen Beaufsichtigung durch eigenes Personal ausschließen will. Denn die in §
13 Abs. 2 S. 2 AufenthG geregelte Fiktion der Nichteinreise und die hierzu
erforderliche mögliche Kontrolle des Aufenthaltes durch die mit der polizeilichen
Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden muss nicht
zwingend von dieser Behörde selbst ausgeübt werden. Sie kann vielmehr auch von
der tatsächlichen Kontrolle anderer Behörden wie etwa des Jugendamtes, einer
geschlossenen psychiatrischen Einrichtung oder einer Justizvollzugsanstalt
abgeleitet werden (vgl Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 13 AufenthG Vorl.
Anwendungshinweise 13.2.1.2).
Dabei ist des weiteren zu berücksichtigen, dass es für Jugendliche verschiedene
Heimeinrichtungen mit einer unterschiedlich dichten Beaufsichtigung gibt. Auch
der Hinweis auf die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft des Jugendamtes ... unter
der Hinweis auf die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft des Jugendamtes ... unter
Berufung auf Zuständigkeitsgesichtspunkte genügt insoweit nicht, zumal es sich
bei der Regelung des § 13 Abs. 2 S. 2 AufenthG lediglich um eine gesetzliche
Fiktion mit ausländerrechtlicher und strafrechtlicher Bedeutung handelt, die nicht
dem Zweck dient, das Jugendamt von seiner Fürsorgepflicht gegenüber
Minderjährigen zu entbinden. Darüber hinaus kommt auch die Unterbringung in
einem Jugendheim oder einer sonstigen Jugendhilfeeinrichtung außerhalb
Frankfurts oder Hessens im Wege der Amtshilfe in Betracht, wenn der
Antragsteller die in den dortigen Einrichtungen gegebenen Aufsichtsmöglichkeiten
oder die Kooperationsbereitschaft der dort verantwortlichen Behörden im
konkreten Fall nicht als ausreichend erachtet (vgl. Pfälzisches OLG Zweibrücken
a.a.O.).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.