Urteil des BGH vom 14.10.2004

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 114/04
vom
14. Oktober 2004
in dem Insolvenzverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
§ 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO
Nicht nachrangige Insolvenzgläubiger sind grundsätzlich auch dann berechtigt, ei-
nen Antrag auf Einberufung einer Gläubigerversammlung zu stellen, wenn ihre an-
gemeldeten Forderungen noch nicht geprüft oder vom Insolvenzverwalter oder ei-
nem Gläubiger bestritten worden sind.
BGH, Beschluß vom 14. Oktober 2004 - IX ZB 114/04 - LG Bremen
AG Bremen
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Fischer, die Richter Kayser, Vill, Cierniak und die Richterin Lohmann
am 14. Oktober 2004
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Gläubiger werden der Beschluß
der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 22. April 2004
und der Beschluß des Amtsgerichts Bremen vom 12. März 2004
aufgehoben.
Das Amtsgericht Bremen - Insolvenzgericht - hat eine Gläubiger-
versammlung einzuberufen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und des Rechtsbeschwer-
deverfahrens hat der Insolvenzverwalter zu tragen.
Gründe:
I.
Die Rechtsbeschwerdeführer, die 22,9 % der angemeldeten und 11,3 %
der zur Tabelle festgestellten nicht nachrangigen Forderungen innehaben, ver-
langen die Einberufung einer Gläubigerversammlung. Der Verwalter ist dem
Antrag entgegengetreten. Das Insolvenzgericht hat den Antrag abgewiesen.
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Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit
der Rechtsbeschwerde verfolgen die 163 antragstellenden Gläubiger ihr Be-
gehren weiter.
II.
Die statthafte und auch im übrigen zulässige Rechtsbeschwerde (§§ 6,
7, 75 Abs. 3 InsO, § 574 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO) ist begründet.
Nach § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist eine Gläubigerversammlung einzuberu-
fen, wenn dies von mindestens fünf nicht nachrangigen Insolvenzgläubigern
beantragt wird, deren Forderungen nach der Schätzung des Insolvenzgerichts
ein Fünftel der Summe erreichen, die sich aus dem Wert aller Absonderungs-
rechte und den Forderungsbeträgen aller nicht nachrangigen Insolvenzgläubi-
ger ergibt. Dies war hier der Fall. Das Beschwerdegericht hat festgestellt, daß
die Rechtsbeschwerdeführer keine nachrangigen (§ 39 InsO) Insolvenzgläubi-
ger sind und die Quote ihrer angemeldeten nicht nachrangigen Forderungen
22,9 % beträgt. Dies ist ausreichend, weil entgegen der Ansicht des Beschwer-
degerichts bestrittene Forderungen, die angemeldet sind, grundsätzlich ein
Antragsrecht im Sinne des § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO verleihen.
1. Insolvenzgläubiger ist gemäß § 38 InsO jeder persönliche Gläubiger,
der einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermö-
gensanspruch gegen den Schuldner hat. Für die Stellung als Insolvenzgläubi-
ger kommt es nicht darauf an, ob dieser Anspruch angemeldet (§§ 174 ff InsO),
anerkannt oder bestritten (§§ 178, 179, 201 Abs. 2 InsO) ist.
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2. Die Insolvenzgläubiger stützen ihren Antrag ausschließlich auf ange-
meldete Forderungen. Die Frage, ob auch einem Insolvenzgläubiger, der seine
Forderung nach Ablauf der Anmeldefrist (§ 28 Abs. 1 Satz 1, 2 InsO) nicht an-
gemeldet hat, ein Antragsrecht im Sinne des § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO zusteht,
kann hier deshalb offenbleiben.
3. Die Beschwerdeführer haben im einzelnen dargelegt, daß sie bereits
mit den vom Insolvenzverwalter lediglich vorläufig bestrittenen Forderungen
das Quorum von 20 % erfüllen. Das Beschwerdegericht hat entsprechende
Feststellungen nicht getroffen, weil nach seiner Auffassung das Antragsquorum
in jedem Fall vom Insolvenzgericht durch Schätzung ermittelt werden muß. Al-
lerdings habe das Ergebnis eines bereits durchgeführten Prüfungstermins er-
hebliche Bedeutung, weil es die Grundlagen der Schätzung wesentlich beein-
flusse.
Das ist rechtsfehlerhaft.
Nach einer im Schrifttum häufig vertretenen Meinung ist nicht zwischen
bestrittenen und unbestrittenen Forderungen zu unterscheiden; vielmehr sollen
alle Gläubiger, die ihre Forderungen ordnungsgemäß angemeldet haben, an-
tragsberechtigt im Sinne des § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO sein (HK-InsO/Eickmann,
3. Aufl. § 75 Rn. 5; MünchKomm-InsO/Ehricke, § 75 Rn. 10; FK-InsO/Kindl,
3. Aufl. § 75 Rn. 7; Uhlenbruck, InsO 12. Aufl. § 75 Rn. 3). Nach anderer Auf-
fassung muß das Insolvenzgericht die Beträge schätzen, soweit eine Feststel-
lung noch nicht erfolgt ist (vgl. Kübler in Kübler/Prütting, InsO § 75 Rn. 5;
Jaeger/Weber, KO 8. Aufl. § 93 Rn. 6).
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Der Senat folgt der zuerst genannten Meinung.
a) Ist eine Insolvenzforderung zur Tabelle festgestellt, hat der Gläubiger
ohne weiteres ein Antragsrecht im Sinne des § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO. Für eine
Schätzung durch das Insolvenzgericht besteht dann keine Veranlassung. Eine
Feststellung zur Tabelle erfolgt, wenn die Forderung vom Insolvenzverwalter
und von den Gläubigern nicht bestritten wird. Sie hat diesen gegenüber die
Wirkung eines rechtskräftigen Urteils, § 178 Abs. 3 InsO, und ist bei der Vertei-
lung zugrunde zu legen. Dementsprechend haben Gläubiger von Forderungen,
die angemeldet sind und weder vom Insolvenzverwalter noch von einem
stimmberechtigten Gläubiger bestritten worden sind, von Gesetzes wegen
Stimmrecht in der Gläubigerversammlung, § 77 Abs. 1 InsO.
b) Ist die Forderung angemeldet, aber über die Feststellung noch nicht
entschieden, obwohl die Forderung nicht oder lediglich vorläufig bestritten ist,
kann nichts anderes gelten. Eine nicht bestrittene Forderung ist gemäß § 178
Abs. 1 InsO festzustellen. Sie muß deshalb einer zur Tabelle festgestellten
Forderung gleichgestellt werden. Das vorläufige Bestreiten durch den Insol-
venzverwalter bringt zum Ausdruck, daß er - etwa aus Zeitgründen - zur end-
gültigen Prüfung außerstande war (vgl. etwa Uhlenbruck, aaO § 77 Rn. 15).
Aus diesem vorläufigen Bestreiten darf dem Gläubiger kein Nachteil erwachsen
(Uhlenbruck, aaO § 77 Rn. 15; Kübler in Kübler/Prütting, aaO § 77 Rn. 19;
Pape, ZIP 1991, 837, 844). Bei der Frage, wer gemäß § 77 Abs. 1 InsO Stimm-
recht hat, kann ein vorläufiges Bestreiten hinsichtlich der Feststellung der For-
derung zur Tabelle deshalb keine Bedeutung haben. Wird die Forderung vom
Insolvenzverwalter oder einem Gläubiger auch in der Gläubigerversammlung
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nicht bestritten, hat der Gläubiger Stimmrecht (Uhlenbruck, aaO § 77 Rn. 15;
HK-InsO/Eickmann, aaO § 77 Rn. 3; Pape, ZIP 1991, 837, 844). Ein vorläufiges
Bestreiten hat daher auf das Antragsrecht nach § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO keinen
Einfluß.
c) Das Insolvenzgericht hat auch diejenigen Gläubiger als antragsbe-
rechtigt zu behandeln, deren angemeldete Forderungen endgültig bestritten
worden sind. Dies folgt aus dem Regelungszusammenhang der §§ 75 bis 77
InsO.
Kommt ein Stimmrecht des Gläubigers in der Gläubigerversammlung in
Betracht, wäre es systemwidrig, ihm das Antragsrecht auf Einberufung der
Gläubigerversammlung zu verwehren. Dem kann nicht entgegengehalten wer-
den, daß die Stimmrechtsregelung unabhängig von dem Antragsrecht auf Ein-
berufung Bedeutung hat. Denn dann müßte das Insolvenzgericht vorweg sämt-
liche bestrittenen Forderungen prüfen.
Das Insolvenzgericht ist aber schon grundsätzlich nicht dazu berufen,
die Insolvenzgläubigereigenschaft festzustellen. Dies ist Aufgabe des Insol-
venzverwalters und der übrigen Gläubiger. Davon abgesehen ist das Insol-
venzgericht zeitlich und personell nicht in der Lage, die Berechtigung der In-
solvenzforderungen zu beurteilen.
Gemäß § 75 Abs. 2 InsO sollen zwischen dem Eingang des Antrags und
der Gläubigerversammlung höchstens drei Wochen liegen. Da eine öffentliche
Bekanntmachung der Gläubigerversammlung gemäß § 74 Abs. 2 InsO erfolgen
muß und danach mindestens zwei Tage vergehen müssen, § 9 Abs. 1 Satz 3
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InsO, verbleiben dem Insolvenzgericht nach Eingang des Antrags allenfalls
17 Tage zur Prüfung. In dieser Zeit kann eine ausreichende Überprüfung in
aller Regel nicht vorgenommen werden, weil dazu der Insolvenzverwalter und
die übrigen zum Bestreiten berechtigten Personen angehört und anschließend
den Gläubigern Gelegenheit zur Erwiderung und zur Glaubhaftmachung oder
zum Beweisantritt gegeben werden müßte.
Zu berücksichtigen ist ferner, daß der Rechtspfleger zur Entscheidung
zuständig ist (§ 3 Nr. 2e, § 18 RpflG). Von diesem kann eine solche Prüfung
schon aus funktionalen Gründen nicht verlangt werden. Der Richter kann sich
zwar gemäß § 18 Abs. 2 RpflG die Entscheidung nach § 75 InsO vorbehalten
oder an sich ziehen. Er muß von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch ma-
chen. Außerdem wäre auch er nicht in der Lage, in der zur Verfügung stehen-
den Zeit die erforderlichen auch nur pauschalen Prüfungen vorzunehmen.
Dem Insolvenzgericht diese Prüfung zu übertragen, stünde auch in Wi-
derspruch zu Sinn und Zweck des § 75 InsO, den Einfluß der Gläubiger auf
den Ablauf des Insolvenzverfahrens zu stärken (BT-Drucks. 12/2443 S. 133 zu
§ 86 des Regierungsentwurfs der Insolvenzordnung). Dem Gesetzgeber ging
es darum, durch das weitgehende Initiativrecht den Einfluß der Gläubiger auf
den Gang des Verfahrens und die Art und Weise der Gläubigerbefriedigung zu
stärken (vgl. Uhlenbruck, aaO § 75 Rn. 1; MünchKomm-InsO/Ehricke, § 75
Rn. 1; Kübler in Kübler/Prütting aaO § 75 Rn. 5). Zwar ist es auch Ziel der In-
solvenzordnung, Außenstehende vom Insolvenzverfahren fernzuhalten (BT-
Drucks. 12/2443 S. 80). Ist jedoch gerade die Gläubigereigenschaft zweifelhaft,
muß die Entscheidung hierüber in erster Linie den hierzu Berufenen, nämlich
dem Insolvenzverwalter und den Gläubigern, überlassen bleiben.
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Wird in der Gläubigerversammlung die Forderung eines Gläubigers dem
Grund oder der Höhe nach bestritten, muß allerdings gemäß § 77 Abs. 2 InsO
für das Stimmrecht eine Regelung getroffen werden. Auch diese obliegt in er-
ster Linie dem Insolvenzverwalter und den stimmberechtigten Gläubigern. Nur
wenn diese sich nicht über das Stimmrecht einigen, hat das Insolvenzgericht
auf der Grundlage einer vorläufigen Bewertung des Vorbringens des Gläubi-
gers und des Bestreitens des Insolvenzverwalters oder eines Gläubigers sowie
der vorgelegten Beweismittel eine Regelung zu treffen. Diese - lediglich hilfs-
weise - bestehende Zuständigkeit zeigt, daß es nicht Sinn des § 75 InsO sein
kann, diese Prüfungen bereits ohne mündliche Erörterung in der Gläubigerver-
sammlung in allen Fällen vorwegzunehmen.
d) Ob das Insolvenzgericht die Antragsberechtigung ausnahmsweise
dort versagen kann, wo es konkret den Mißbrauch einer formalen Gläubiger-
stellung hinsichtlich einer bestrittenen Forderung feststellt, etwa bei Anmeldung
ersichtlich unberechtigter Forderungen, bedarf hier keiner Klärung. Eine ledig-
lich abstrakte Mißbrauchsmöglichkeit reicht entgegen der Ansicht des Insol-
venzgerichts jedenfalls nicht aus, um das Antragsrecht für nicht festgestellte
Forderungen generell zu verneinen. Im vorliegenden Fall liegen für einen Miß-
brauch keine Anhaltspunkte vor.
4. Da die Voraussetzungen des § 75 Abs. 1 Nr. 3 InsO auch im übrigen
vorliegen, der Antrag außerdem Angaben zur Tagesordnung enthält (§ 74
Abs. 2 InsO), ist das Insolvenzgericht verpflichtet, die Gläubigerversammlung
einzuberufen. Die Einberufung steht nicht im Ermessen des Insolvenzgerichts
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(OLG Celle, ZIP 2002, 900; HK-InsO/Eickmann, aaO § 74 Rn. 3, § 75 Rn. 1;
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Kübler in Kübler/Prütting, aaO § 75 Rn. 7; Blersch in Breutigam/Blersch/
Goetsch, Insolvenzrecht § 75 InsO Rn. 2). Sie kann daher durch das Rechts-
beschwerdegericht angeordnet werden.
Fischer Kayser
Vill
Cierniak Lohmann