Urteil des BGH vom 10.06.2008

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5 StR 180/08
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 10. Juni 2008
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 10. Ju-
ni 2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richter Prof. Dr. Jäger,
Richterin Dr. Schneider
als
beisitzende
Richter,
Richterin am Amtsgericht
als
Vertreterin
der
Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als
Verteidiger,
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Neuruppin vom 29. November 2007 wird ver-
worfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten da-
durch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der
Staatskasse zur Last.
– Von Rechts wegen –
G r ü n d e
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs
von Kindern in acht Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem
Missbrauch von Schutzbefohlenen, sowie wegen sexuellen Missbrauchs ei-
ner Jugendlichen in 24 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren
verurteilt (Einzelstrafen: einmal zehn Monate, zweimal acht Monate, sieben-
undzwanzigmal sechs Monate, zweimal vier Monate Freiheitsstrafe) und hat
deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Verletzung sach-
lichen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom General-
bundesanwalt hinsichtlich der Gesamtstrafenbildung und der Strafausset-
zung zur Bewährung vertreten wird, hat keinen Erfolg.
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen hat der An-
geklagte in den Fällen 1 bis 5 der Urteilsgründe dem zur Tatzeit elf bis drei-
zehn Jahre alten Kind J. an die unbedeckte Brust und an das Ge-
schlechtsteil gefasst sowie einmal dessen Hand an seinen Penis geführt und
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außerdem im Fall 6 dem zur Tatzeit neun oder zehn Jahre alten Kind P.
an die unbedeckte Brust und an das Geschlechtsteil gefasst. Hinsichtlich der
Geschädigten S. hat der Angeklagte in den Fällen 7 und 8 diese im Alter
von dreizehn Jahren geküsst beziehungsweise deren nackten Körper ge-
streichelt und in den übrigen Fällen unter Ausnutzung ihrer fehlenden Fähig-
keit zur sexuellen Selbstbestimmung mit ihr als Person unter sechzehn Jah-
ren den Beischlaf vollzogen.
2. Das angefochtene Urteil lässt im Schuldspruch keinen durchgrei-
fenden Rechtsfehler erkennen.
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a) Ohne Erfolg beanstandet die Beschwerdeführerin, das Landgericht
hätte hinsichtlich der Geschädigten S. nicht nur die Voraussetzungen des
§ 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB bejahen, sondern tateinheitlich hierzu auch ein Ver-
gehen des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener nach § 174 Abs. 1 Nr. 1
und Nr. 2 StGB ausurteilen müssen, weil der Angeklagte im Turnverein Trai-
ner der Geschädigten war und deshalb ein Obhutsverhältnis bestanden ha-
be.
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Voraussetzung für ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1
StGB ist, dass ein Verhältnis besteht, kraft dessen einer Person das Recht
und die Pflicht obliegen, die Lebensführung des Minderjährigen und damit
dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (vgl. BGHR
StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 1 und 2; Fischer, StGB 55. Aufl. § 174
Rdn. 4). Ob ein solches Obhutsverhältnis, das auch bei einer Tätigkeit als
Trainer bestehen kann (BGHSt 17, 191, 192/193 – Fußballtrainer; BGH
NStZ 2003, 661 – Tennistrainer), vorliegt, ist nach den tatsächlichen Verhält-
nissen des Einzelfalls zu beurteilen (BGHSt 19, 163; 33, 340, 344; 41, 137,
139).
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Die Voraussetzungen für die Annahme eines Obhutsverhältnisses
sind, wie das Landgericht ohne Rechtsirrtum annimmt, hier nicht erfüllt. Es
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fehlt an dem Vorliegen einer Pflicht, die Lebensführung der Minderjährigen
zu überwachen und zu leiten. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme wur-
den die Trainierenden durch elterliche Fahrgemeinschaften zur Sporthalle
gebracht; die betreffenden Eltern nahmen als Zuschauer am gesamten Trai-
ningsbetrieb teil. Die Aufgabe des Angeklagten im Trainingsbetrieb be-
schränkte sich auf die Vermittlung der turnerischen Fähigkeiten und der für
den Wettkampfbetrieb erforderlichen Disziplin. Weitergehende Betreuungs-
aufgaben im Sinne einer Erziehungsleistung wurden von ihm weder erwartet
noch tatsächlich geleistet.
b) Die auf die Beanstandung des Schuldspruchs vorzunehmende um-
fassende Überprüfung des Urteils (§ 301 StPO) hat ergeben, dass die Verur-
teilung des Angeklagten in den ersten sechs Fällen allein wegen eines nicht
verjährten tateinheitlichen Falles des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbe-
fohlenen (allerdings Fall 5, nicht Fall 6) im Ergebnis zutrifft.
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3. Die vom Landgericht vorgenommene Bestimmung der Strafrahmen
sowie die Bemessung der Einzelstrafen und der Gesamtfreiheitsstrafe sind
nach Maßgabe der insoweit eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prü-
fungskompetenz (vgl. BGH, Urteile vom 12. Mai 2005 – 5 StR 86/05 m.w.N. –
und vom 9. Januar 2008 – 5 StR 387/07 und 5 StR 508/07) nicht zu bean-
standen.
a) Die Revisionsführerin ist der Ansicht, die Höhe der Einzelstrafen
lasse befürchten, dass die Strafkammer dem Geständnis sowie dem Zeitab-
lauf zwischen Taten und Urteil zu großes Gewicht beigemessen habe.
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Diesen Angriffen der Revision auf die Strafzumessung kann jedoch
nicht gefolgt werden. Die Strafzumessung ist Aufgabe des Tatrichters. Es ist
seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der
Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen
hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen,
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sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. In die tatrichterliche
Strafzumessung kann nur eingegriffen werden, wenn diese Rechtsfehler
aufweist, etwa weil sie einseitig, widersprüchlich oder unvollständig ist. Dabei
ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen
(BGHSt 34, 345, 349), auch die Darlegung sämtlicher Erwägungen ist inso-
weit weder möglich noch nötig (BGH, Urteil vom 25. Mai 1994
– 3 StR 209/94). Hieran gemessen ist die Strafzumessung des Landgerichts
rechtsfehlerfrei.
b) Auch die Gesamtstrafenbildung ist nicht zu beanstanden. Zutreffend
hat das Landgericht innerhalb des durch § 54 StGB vorgegebenen Rahmens
die Gesamtwürdigung der Person des Täters und seiner Taten in den Vor-
dergrund gestellt (BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 5, 7, 10). Die ver-
hältnismäßig maßvolle Erhöhung der Einsatzstrafe aufgrund des Seriencha-
rakters der Taten trägt ungeachtet der im Ergebnis sehr milde bemessenen
Gesamtstrafe dem Unrechts- und Schuldgehalt der Taten noch ausreichend
Rechnung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den engen sachlichen und
zeitlichen Zusammenhang der begangenen Taten (vgl. BGHR aaO 2, 8, 12).
Der Senat sieht in der lediglich ergänzenden Erwähnung der Aussetzungsfä-
higkeit der verhängten Gesamtstrafe (UA S. 25) noch keine unstatthafte Ver-
knüpfung der Strafzumessung mit der Bewährungsfrage.
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Die Annahme der Strafkammer, es sei zu erwarten, dass der Ange-
klagte im Falle seiner Inhaftierung sowohl wegen seines zierlichen Körper-
baus als auch wegen der Art der von ihm begangenen Straftaten von Mitge-
fangenen schlecht behandelt werde und er deshalb als besonders haftemp-
findlich gelten müsse, ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin
nicht rein spekulativ (vgl. nur UA S. 25, 26 zur verbreiteten Darstellung der
Tat in der Öffentlichkeit). Auch ist nicht zu besorgen, die Strafkammer habe
dem Umstand, dass der Angeklagte nicht mehr als Trainer tätig werden kön-
ne, ein zu großes milderndes Gewicht beigemessen. In den vergangenen
13 Jahren war die Trainertätigkeit der zentrale Lebensinhalt des Angeklag-
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ten. Bei keiner Tat bestand ein Obhutsverhältnis aufgrund der Tätigkeit als
Trainer.
c) Schließlich macht die Beschwerdeführerin zu Unrecht geltend, die
in § 56 Abs. 2 StGB neben der günstigen Prognose geforderten „besonderen
Umstände“ seien nicht gegeben und deshalb hätte die Freiheitsstrafe nicht
zur Bewährung ausgesetzt werden dürfen.
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Ob besondere Umstände in der Tat und in der Täterpersönlichkeit vor-
liegen, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände zu entscheiden.
Diese Würdigung obliegt – ebenso wie die Strafzumessung – dem Tatrichter.
Eine Strafaussetzung zur Bewährung kommt in Betracht, wenn sie trotz des
erheblichen Unrechts- und Schuldgehalts der Tat, der sich in der Strafhöhe
widerspiegelt, nicht als unangebracht erscheint und den allgemeinen vom
Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderläuft (vgl. BGHSt 29, 370,
371; st. Rspr., z. B. BGH, wistra 1997, 22). Die „besonderen Umstände“ müs-
sen dabei umso gewichtiger sein, je näher die Strafe an der Zweijahresgren-
ze liegt (BGH wistra 1985, 147, 148). Dabei lässt sich der Begriff der „beson-
deren Umstände“ nicht so scharf abgrenzen, dass in allen denkbaren Fällen
nur eine allein richtige Entscheidung möglich wäre. Das Revisionsgericht hat
in Grenzfällen die Wertung des Tatrichters hinzunehmen (Fischer aaO § 56
Rdn. 25).
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Nach diesen Grundsätzen ist die Entscheidung des Tatrichters, „be-
sondere Umstände“ im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB lägen vor, nicht zu bean-
standen. Das angefochtene Urteil enthält eine Abwägung zwischen Straf-
schärfungs- und Strafmilderungsgründen. Die Strafkammer hat die besonde-
ren Umstände im Zusammentreffen verschiedener Strafmilderungsgesichts-
punkte – nicht vorbestraft, weitgehendes Teilgeständnis, die Taten liegen
teilweise länger zurück – gesehen und ist im Rahmen ihrer Abwägung zu
einem vertretbaren Ergebnis gelangt. Rechtsfehlerhaft ist dies nicht, nicht
zuletzt auch im Blick darauf, dass keine Einzelstrafe von mehr als einem Jahr
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Freiheitsstrafe verhängt worden ist (vgl. BGHR StGB § 56 Abs. 2 Begrün-
dungserfordernis 1, 2).
Basdorf Brause Schaal
Jäger Schneider