Urteil des BGH vom 26.02.2004

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 172/06
vom
27. September 2007
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO §§ 114, 116 Satz 1 Nr. 1; InsO §§ 208, 209
Erhebt der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit Klage,
ist die Frage nach der Bedürftigkeit der Masse unter Einbeziehung der Altmas-
severbindlichkeiten zu beantworten.
BGH, Beschluss vom 27. September 2007 - IX ZB 172/06 - OLG Frankfurt am Main
LG
Darmstadt
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Richter Dr. Ganter,
Dr. Kayser, Prof. Dr. Gehrlein, Cierniak und Dr. Fischer
am 27. September 2007
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des
13. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am
Main vom 20. September 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung - auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Beschwerdegericht zu-
rückverwiesen.
Gründe:
I.
Der Kläger ist Verwalter in dem am 31. März 2003 eröffneten Insolvenz-
verfahren über das Vermögen der N. GmbH (fortan: Schuldnerin). Mit
Schreiben vom 26. Februar 2004 zeigte er bei dem Insolvenzgericht Masseun-
zulänglichkeit gemäß § 208 Abs. 1 InsO an.
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Unter dem 25. Oktober 2005 hat der Kläger - nach Durchführung eines
Mahnverfahrens - die Durchführung eines streitigen Verfahrens beantragt, in
welchem er von der Beklagten die Zahlung von 26.666,09 € nebst Zinsen be-
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gehrt. Zugleich hat er die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt. Er hat
vorgetragen, auf dem Insolvenzhinterlegungskonto befinde sich ein Guthaben
von 447.597,04 €. Damit sowie mit den zu erwartenden Verwertungserlösen
seien jedoch die Masseverbindlichkeiten gemäß §§ 54, 55 InsO nicht zu be-
gleichen. Die geschätzten Verfahrenskosten beliefen sich auf mindestens
180.000 €. Hinzu kämen Masseverbindlichkeiten gegenüber Arbeitnehmern in
Höhe von 182.883,31 €, Kosten der abzugebenden steuerlichen Erklärungen in
Höhe von mindestens 25.000 € sowie weitere Masseschulden von 72.125,11 €.
Das Landgericht hat die nachgesuchte Prozesskostenhilfe versagt, weil der
Kläger eine Neumasseunzulänglichkeit nicht dargelegt habe. Das Oberlandes-
gericht hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen und die Rechtsbeschwer-
de zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 127
Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1, § 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO) und zulässig (§ 575 ZPO).
Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückver-
weisung.
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1. Nach bisher völlig herrschender Auffassung ist bei Masseunzu-
länglichkeit grundsätzlich davon auszugehen, dass die Kosten eines Rechts-
streits nicht aus der verwalteten Vermögensmasse aufgebracht werden können.
Diese Auffassung liegt - wenngleich nicht ausdrücklich formuliert - der bisheri-
gen Rechtsprechung des Senats zugrunde (vgl. BGH, Beschl. v. 18. September
2003 - IX ZB 460/02, ZIP 2003, 2036; v. 14. Juli 2005 - IX ZB 224/04, DZWIR
2005, 521 m. Anm. Gundlach/Frenzel; v. 23. März 2006 - IX ZB 134/05, ZInsO
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2006, 491). Sie wird auch von der Rechtsprechung anderer Gerichtszweige ge-
teilt (vgl. BAG ZIP 2003, 1947 f; ZInsO 2003, 722, 723; BVerwG ZIP 2006,
1542, 1543; FG Brandenburg ZInsO 2004, 53).
2. Demgegenüber haben die Vorinstanzen - im Anschluss an Ringst-
meier/Homann (ZIP 2005, 284, 285 f) - gemeint, die unter der Geltung der Kon-
kursordnung noch berechtigte Annahme, dass man im Falle der Masseunzu-
länglichkeit grundsätzlich von der Bedürftigkeit im Sinne des § 116 ZPO auszu-
gehen habe, sei durch das neue Regelungssystem in §§ 208 ff InsO überholt.
Erhebe der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit Klage,
seien die aus dieser Klage resultierenden Verbindlichkeiten Neumasseverbind-
lichkeiten gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Da solche vorrangig vor Altmasse-
verbindlichkeiten zu bezahlen seien, müssten Altmasseverbindlichkeiten bei der
Frage, ob die Masse, was die Finanzierung des Prozesses angehe, bedürftig
sei, außer Betracht bleiben. Der Verwalter dürfe und müsse die Prozesskosten
als Neumasseverbindlichkeiten bezahlen, wenn er über ausreichende Mittel
verfüge, die Massekosten und sämtliche Neumasseverbindlichkeiten zu beglei-
chen, also keine Neumasseunzulänglichkeit vorliege.
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3. Diese Ansicht ist unzutreffend.
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a) Das neue Regelungssystem der §§ 208 ff InsO soll - wie auch Ringst-
meier/Homann (aaO) nicht verkennen - den Insolvenzverwalter in die Lage ver-
setzen, trotz Vorliegens einer "Insolvenz in der Insolvenz" das Schuldnervermö-
gen voll abzuwickeln. Im Rahmen der Abwicklung soll er unter weitestgehender
Vermeidung einer persönlichen Haftung (vgl. § 61 InsO) neue Verbindlichkeiten
eingehen können. Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit und der daran an-
knüpfende Vorrang der nach dieser Anzeige begründeten Neumasseverbind-
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lichkeiten (§ 209 InsO) geben dem Verwalter die zur Fortsetzung seiner Tätig-
keit unerlässliche Handlungsfreiheit zurück (HK-InsO/Landfermann, 4. Aufl.
§ 208 Rn. 4; MünchKomm-InsO/Hefermehl, § 208 Rn. 2; Kübler/Prütting/Pape,
InsO § 209 Rn. 3a; Nerlich/Römermann/Westphal, InsO § 208 Rn. 5; Hamb-
Komm-InsO/Weitzmann, § 208 Rn. 1). Es ist nicht Sinn und Zweck der Neure-
gelung, eine Masse (bzw. die Partei kraft Amtes, welche die Interessen der
Masse wahrnimmt), die nach dem Recht der Konkursordnung als bedürftig ge-
mäß § 116 Satz 1 Nr. 1 ZPO galt, nunmehr nicht mehr als bedürftig zu betrach-
ten und somit unter dem Gesichtspunkt der Prozesskostenhilfe schlechter zu
stellen.
b) Die Ansicht der Vorinstanzen schlägt zum Nachteil der Altmassegläu-
biger aus. Wenn deren Forderungen bei der Prüfung der Bedürftigkeit der Mas-
se nicht zählen, finanzieren letztlich sie die Prozessführung. Der Insolvenzver-
walter darf und muss die Prozesskosten aus den Mitteln bezahlen, die sonst der
Befriedigung der Altmassegläubiger gedient hätten. Die Vorinstanzen haben
dies erkannt, jedoch gemeint, dass das Kostenrisiko der Prozessführung nun-
mehr dort liege, wo es hingehöre. Das Geld, das für eine erfolglose Prozessfüh-
rung aus der Masse verbraucht werde, fehle am Ende des Verfahrens der
Gläubigergruppe, die von dem gewonnenen Prozess profitiert hätte. Dabei wird
nicht berücksichtigt, dass das nach der Erklärung der Masseunzulänglichkeit
fortgesetzte Verfahren nunmehr in erster Linie der Befriedigung der Neumasse-
gläubiger dient, nicht mehr derjenigen der Insolvenzgläubiger und auch nicht
derjenigen der Altmassegläubiger (vgl. MünchKomm-InsO/Hefermehl, § 208
Rn. 1; Kübler/Prütting/Pape, aaO § 208 Rn. 1). Dies folgt aus der Rangordnung
des § 209 Abs. 1 Nr. 2, 3 InsO. Ein Prozesserfolg kommt also vorrangig den
Neumassegläubigern zugute, während die Altmassegläubiger das Risiko des
Scheiterns tragen. Mit anderen Worten: Die Handlungsfreiheit, die der Verwalter
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durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit wiedergewinnt, geht auf Kosten
der Altmassegläubiger. Durch die neue Handlungsfreiheit geschützt werden
demgegenüber die Neumassegläubiger.
c) Können die Kosten eines von dem Insolvenzverwalter geplanten Ak-
tivprozesses nicht aus der verwalteten Vermögensmasse aufgebracht werden
(§ 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Halbs. 1 ZPO), kommt es darauf an, ob den am Ge-
genstand des Rechtsstreits wirtschaftlich beteiligten Gläubigern zuzumuten ist,
die Prozesskosten aufzubringen (vgl. § 116 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Dies ist
anhand einer wertenden Abwägung aller Gesamtumstände des Einzelfalls zu
prüfen. Hierbei sind insbesondere die im Falle des Obsiegens zu erwartende
Quotenverbesserung, das Prozess- und Vollstreckungsrisiko und die Gläubi-
gerstruktur zu berücksichtigen (BGH, Beschl. v. 6. März 2006 - II ZB 11/05, ZIP
2006, 682, 683). Da sich die Altmassegläubiger - weil vorrangig die Neumasse-
gläubiger bedient werden - von einem Prozesserfolg nichts oder nur wenig ver-
sprechen können, ist ihnen (falls man sie als "wirtschaftlich Beteiligte" ansieht)
jedenfalls nicht zuzumuten, die Prozesskosten aufzubringen. Dann kann es
auch nicht richtig sein, ihnen das Prozesskostenrisiko zu überbürden, indem
ihre Forderungen bei der Prüfung der Bedürftigkeit (§§ 116 Abs. 1 Nr. 1
Halbs. 1 ZPO) außer Betracht gelassen werden.
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d) Die Erwägung, die Entscheidung für eine Klageerhebung unterscheide
sich strukturell nicht von anderen Verwertungsentscheidungen des Verwalters
(so Ringstmeier/Homann aaO), trägt die Auffassung der Vorinstanzen ebenfalls
nicht.
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Trifft der Verwalter nach Anzeige der Masseinsuffizienz eine Verwer-
tungsentscheidung, muss er prüfen, ob die Insolvenzmasse - nach Abzug der
vorrangig zu bedienenden Kosten (§ 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO), jedoch ohne Be-
rücksichtigung der Altmasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO) - zur
Befriedigung der aus der Entscheidung resultierenden Verbindlichkeiten vor-
aussichtlich ausreichen wird (§ 61 InsO). Für den Verwalter hat also maßgeb-
lich zu sein, ob sich die Entscheidung nach gewissenhafter Prüfung wirtschaft-
lich "rechnen" wird. Muss er diese Frage verneinen, hat er von der ins Auge
gefassten Verwertungsmaßnahme Abstand zu nehmen.
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Hat sich der Verwalter in derselben Lage zu entscheiden, ob er eine aus-
sichtsreiche Klage erhebt, ist er dieser Prüfung enthoben. Wenn die Masse zur
Deckung der Prozesskosten ausreicht, wird er den Prozess führen. Reicht die
Masse nicht aus, wird er den Prozess - unter Inanspruchnahme der Prozess-
kostenhilfe - ebenfalls führen.
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III.
Der angefochtene Beschluss ist somit aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1
ZPO). Auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts ist die Sache noch
nicht zur Endentscheidung reif. Dass die Beklagte die Masseunzulänglichkeit
bestritten hat, ist zwar unerheblich. Denn die vom Insolvenzverwalter formge-
recht angezeigte Masseunzulänglichkeit ist für das Prozessgericht bindend
(BGHZ 154, 358, 360). Es ist jedoch nicht geklärt, ob die Klage hinreichende
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Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 Satz 1 ZPO). Deshalb ist die Sache an das
Beschwerdegericht zurückzuverweisen.
Ganter Kayser
Gehrlein
Cierniak
Fischer
Vorinstanzen:
LG Darmstadt, Entscheidung vom 14.07.2006 - 2 O 518/05 -
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 20.09.2006 - 13 W 70/06 -