Urteil des BGH vom 11.05.2010

Polymerisierbare Zementmischung Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 51/06 Verkündet
am:
11. Mai 2010
Anderer
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Polymerisierbare
Zementmischung
EPÜ Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b; IntPatÜbkG Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2; PatG § 99 Abs. 1;
ZPO § 533 Nr. 1
a) Die Einbeziehung eines weiteren Nichtigkeitsgrundes (hier: unzureichende Offen-
barung) in der Berufungsinstanz, nachdem die Nichtigkeitsklage vor dem Bundes-
patentgericht nur auf einen oder mehrere andere der in Art. 138 Abs. 1 EPÜ, Art. II
§ 6 Abs. 1 IntPatÜbkG aufgeführten Nichtigkeitsgründe gestützt war, stellt eine
Klageänderung (objektive Klagehäufung) im Sinne der Vorschrift des § 533 Nr. 1
ZPO dar, welche nach § 99 Abs. 1 PatG auch im Patentnichtigkeitsverfahren an-
wendbar ist.
b) Der Nichtigkeitskläger trägt die Beweislast dafür, dass es dem Fachmann auch
nach Kenntnisnahme der Angaben in der Beschreibung und der Zeichnungen der
Patentschrift nicht möglich ist, die beanspruchte Lehre unter Einsatz seines Fach-
wissens ohne unzumutbare Schwierigkeiten auszuführen.
BGH, Urteil vom 11. Mai 2010 - X ZR 51/06 - Bundespatentgericht
- 2 -
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Ver-
handlung vom 11. Mai 2010 durch den Vorsitzenden Richter Scharen und die
Richter Gröning, Dr. Berger, Dr. Grabinski und Hoffmann
für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 15. Februar 2006 ver-
kündete Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespa-
tentgerichts wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen
- 3 -
Tatbestand:
1
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des europäischen Patents
0 219 058 (Streitpatents), das am 8. Oktober 1986 angemeldet wurde und am
8. Oktober 2006 durch Zeitablauf erloschen ist. Das Streitpatent betrifft "poly-
merisierbare Zementmischungen" und umfasst in der erteilten Fassung 37 Pa-
tentansprüche.
Die Beklagte hat die Klägerin aus dem Streitpatent wegen Patentverlet-
zung in Anspruch genommen. Der Rechtsstreit ist derzeit in der Berufungsin-
stanz bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main anhängig.
2
Die Klägerin hat das Streitpatent mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen
und im Wesentlichen geltend gemacht, dass der Gegenstand des Patentan-
spruchs 1 nicht neu sei und nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Zur
Begründung hat sie insbesondere auf die britische Patentanmeldung 2 094 326
(Anlage D1 und Übersetzung), die deutsche Offenlegungsschrift 28 28 381 (An-
lage D4), die europäische Patentschrift 0 115 410 B1 respektive die europäi-
sche Patentanmeldung 0 115 410 A2 (Anlagen D5, D5a und Übersetzung) und
die europäische Patentanmeldung 0 155 812 (Anlage D7 und Übersetzung)
verwiesen. Zudem hat die Klägerin die unangemessene Breite des Patentan-
spruchs 1 gerügt.
3
Das Bundespatentgericht hat das Streitpatent durch Urteil vom 15. Fe-
bruar 2006 dadurch teilweise für nichtig erklärt, dass die Patentansprüche fol-
gende Fassung erhalten haben:
4
- 4 -
"1. Polymerisierbare Zementmischungen, enthaltend
a) polymerisierbare, ungesättigte Monomere und/oder Oli-
gomere und/oder Prepolymere, die Säuregruppen
und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten,
b) feinteilige, reaktive Füllstoffe, die mit diesen Säuren oder
Säurederivaten reagieren können, nämlich Pulver von
Phosphatzement (ZnO/MgO) Silikatzementen oder Iono-
merzementen
sowie
c) Härtungsmittel,
dadurch gekennzeichnet
derart ausgewählt sind, dass die Säuregruppen oder Säure-
derivatgruppen gemäß a) mit den feinteiligen, reaktiven Füll-
stoffen gemäß b) ionisch zu einer Zementreaktion zu führen
vermögen.
dadurch gekennzeichnet
dass die polymerisierbaren Verbindungen mindestens zwei
polymerisierbare Gruppen und mindestens zwei Säuregrup-
pen bzw. deren reaktive Derivatgruppen enthalten.
dadurch gekennzeichnet
dass die polymerisierbaren Verbindungen drei oder mehr po-
- 5 -
lymerisierbare Gruppen und drei oder mehr Säuregruppen
bzw. deren reaktive Derivatgruppen enthalten.
dadurch ge-
kennzeichnet
bindungen Acryl-, Methacryl-, Vinyl-, Styryl- oder eine Mi-
schung dieser Gruppen enthalten.
dadurch gekennzeichnet
dass die polymerisierbaren ungesättigten Verbindungen
Acryl- oder Methacrylgruppen enthalten.
dadurch ge-
kennzeichnet
oder deren Salze, Phosphorsäurereste der Formeln
oder deren Salze, wobei R Alkyl, Aryl oder Vinyl bedeutet,
Schwefelsäurereste der Formeln - SO
2
H SO
3
H, -O-SO
3
H
oder deren Salze oder Borsäurereste der Formeln
deren Salze, wobei R Alkyl, Aryl, Vinyl bedeutet, sind.
- 6 -
dadurch ge-
kennzeichnet
Form von Säurehalogeniden oder -anhydriden vorliegen.
dadurch gekennzeich-
net
ester des Bis-GMA ist.
dadurch gekennzeich-
net
dungen sind, die die polymerisierbaren ungesättigten Grup-
pen und die Säurereste, deren Salze oder deren reaktive De-
rivate an ein oligomeres oder prepolymeres Grundgerüst ge-
bunden enthalten.
dadurch gekennzeichnet
dass die oligomeren oder prepolymeren Grundgerüste Homo-
oder Copolymerisate von ethylenisch ungesättigten Monome-
ren sind.
dadurch gekennzeichnet
dass sie poly(meth-)acrylierte Oligomaleinsäure, poly(meth-)
acrylierte Polymaleinsäure, poly(meth-)acrylierte Poly(meth-)
acrylsäure, poly(meth-)acrylierte Polycarbon-polyphosphon-
säure, poly(meth-)acrylierte Polychlorophosphorsäure, poly-
(meth-)acryliertes Polysulfonat oder poly(meth-)acrylierte Po-
lyborsäure enthalten.
- 7 -
dadurch gekennzeichnet
dass die oligomeren oder polymeren Grundgerüste Polyester,
Polyamide, Polyether, Polysulfone, Polyphosphazene oder
Polysaccaride sind.
dadurch gekenn-
zeichnet
mindestens 500 aufweisen.
dadurch gekenn-
zeichnet
mindestens 1.500 aufweisen.
dadurch gekenn-
zeichnet
maximal 100.000 aufweisen.
dadurch gekenn-
zeichnet
maximal 20.000 aufweisen.
dadurch gekenn-
zeichnet
ren außer den Säure- und polymerisierbaren Gruppen Alde-
hyd-, Epoxid-, Isocyanat oder Halotriazingruppen enthalten.
dadurch
gekennzeichnet
- 8 -
ungesättigte Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepo-
lymere enthalten, die keine Säuregruppen oder deren reakti-
ve, leicht hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen.
dadurch
gekennzeichnet
enthalten, die Säuregruppen oder deren reaktive, leicht
hydrolysierbare Säurederivatgruppen aufweisen, aber keine
Gruppen enthalten, die ungesättigt und polymerisierbar sind.
dadurch
gekennzeichnet
oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem An-
teil von mindestens 5 % der polymerisierbaren Verbindungen
vorliegen.
dadurch
gekennzeichnet
oder säurederivatgruppenhaltigen Verbindungen in einem An-
teil von 20 % bis 60 % der polymerisierbaren Verbindungen
vorliegen.
dadurch
gekennzeichnet
binderreaktionen nicht reaktive, anorganische oder organi-
sche Füllstoffe zugemischt sind.
- 9 -
dadurch
gekennzeichnet
Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 5 % beträgt.
dadurch
gekennzeichnet
Gesamtfüllstoffgehalt mindestens 30 % beträgt.
dadurch
gekennzeichnet
schen 10 % und 95 % der Mischung beträgt.
dadurch gekenn-
zeichnet
sator oder -system ist.
dadurch
gekennzeichnet
lichtaktivierbar ist und aus einem Gemisch aus einem α-
Diketon und einem tertiären Amin und/oder einem tertiären
Phosphin besteht.
dadurch
gekennzeichnet
tem aus 2 getrennten Komponenten besteht, wobei die eine
Komponente ein organisches Peroxid und die andere Kom-
ponente ein tertiäres Amin, eine Schwefelverbindung, in der
Schwefel in der Oxidationsstufe + 2 oder + 4 vorliegt, oder ein
- 10 -
Gemisch der beiden ist, oder chelatbildende zweiwertige Me-
tallionen enthält.
dadurch gekennzeichnet
dass die Komponente eines 2-Komponenten Gemisches, die
die Schwefelverbindung enthält, keine polymerisierbare säu-
re- oder säuregruppenenthaltende Verbindungen, jedoch
mindestens ein polymerisierbares Monomer mit Hydro-
xylgruppen enthält.
30. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1
bis 29 als härtbare Mischungen zum Ausfüllen, Versiegeln
und Kleben von oxidischen, mineralischen, glasartigen, kera-
mischen, metallischen und biologischen Substraten.
31. Verwendung von Mischungen nach einem der Ansprüche 1
bis 29 als haftvermittelnde Schicht zwischen oxidischem, mi-
neralischem, glasartigem, keramischem, metallischem oder
biologischem Substrat und radikalisch polymerisierbaren
Kunststoffmaterialien.
32. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 bis 29 zum
Herstellen von ausgehärteten Formkörpern.
33. Verwendung von Mischungen nach Anspruch 1 bis 29 zur
Herstellung von Produkten oder Zubereitungen für dentale
und medizinische Zwecke."
- 11 -
Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
5
6
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.
Sie vertritt die Ansicht, dass Anspruch 1 des Streitpatents auch in der Fassung
des Urteils des Bundespatentgerichts mangels Neuheit bzw. erfinderischer Tä-
tigkeit nicht patentfähig sei. Auch den Ansprüchen 2 bis 33 komme keine eigen-
ständige Patentfähigkeit zu.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Bundespatentgerichts abzuändern,
soweit die Klage abgewiesen worden ist, und festzustellen, dass das Streitpa-
tent von Anfang an unwirksam war.
7
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
8
Im Auftrag des Senats hat Univ.-Prof. Dr. rer.nat. et med.dent.habil.
H .
D.. ,
… -Universität
M. ,
Fachbereich
Medizin,
Institut für Angewandte Struktur- und Mikroanalytik, ein schriftliches Gutachten
erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.
9
Die Klägerin hat nach Erstellung des schriftlichen Gutachtens durch den
gerichtlichen Sachverständigen zusätzlich geltend gemacht, dass der Gegen-
stand des Anspruchs 1 des Streitpatents nicht so deutlich und vollständig offen-
bart sei, dass ein Fachmann ihn ausführen könne. Die Beklagte sieht darin eine
Klageänderung, der sie nicht zustimmt, und für den Fall, dass diese als sach-
dienlich angesehen wird, auch inhaltlich entgegen tritt.
10
- 12 -
Entscheidungsgründe:
11
Die zulässige Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
12
I. Der von der Klägerin mit der Berufung verfolgte Feststellungsantrag ist
nach Ablauf der Schutzdauer des Streitpatents im Hinblick auf den zwischen
den Parteien vor dem Oberlandsgericht Frankfurt anhängigen auf das Streitpa-
tent gestützten Verletzungsrechtsstreit unter dem Gesichtspunkt des Feststel-
lungsinteresses zulässig.
II. 1. Das Streitpatent betrifft polymerisierbare Zementmischungen, ins-
besondere zur Verwendung in der Zahnheilkunde und Medizin.
13
In der Streitpatentschrift wird ausgeführt, dass in der Zahnmedizin eine
Reihe von Zementen für verschiedene Verwendungszwecke, wie beispielswei-
se der Befestigung von Kronen und Inlays sowie von orthodontischen Vorrich-
tungen, als Wurzelkanalfüllungsmaterial, als Unterfüllungsmaterial bei der Ein-
bringung von dentalem Restaurationsmaterial zum Schutze der Zahnpulpe oder
auch in Ausnahmefällen bei Läsionen im gingivalen Bereich als Füllungsmateri-
al selbst Anwendung finden. Zemente für dentale und medizinische Zwecke
bestehen in der Regel aus einer Mischung von feinstteiligen Metalloxiden, Me-
tallhydroxiden, Silikatzementschmelzen oder ionenfreisetzenden Gläsern, die
mit einer Anrührflüssigkeit, die im Wesentlichen Phosphorsäure oder Polycar-
bonsäuren oder auch Salicylsäuren enthält, zur Reaktion gebracht wird. Die
Aushärtung läuft mithin über eine Ionenreaktion wie Neutralisations-, Salzbil-
dungs-, Chelatbildungs- oder Kristallisationsreaktion ab und zwar in Wasser.
14
- 13 -
Je nach Verwendungszweck haben sich Zemente mehr oder minder gut
bewährt. Sie sind zumeist gewebeverträglich und zeigen eine gute Haftung an
der Zahnsubstanz (vgl. im Einzelnen, Streitpatentschrift, S. 2, Z. 17 ff.). Zemen-
te haben aber auch Nachteile, nämlich vor allem Auswaschbarkeit und geringe
mechanische Belastbarkeit, die dazu geführt haben, dass sie als Füllungsmate-
rial weitgehend durch die dauerhafteren, höher belastbaren, kantenfesteren,
unlöslichen und kosmetisch vorteilhafteren, polymerisierbaren Kunststofffül-
lungsmaterialien, den sogenannten "Composites", ersetzt worden sind.
15
Composites bestehen nach den weiteren Darlegungen in der Streitpa-
tentschrift im Wesentlichen aus einem polymerisierbaren Bindemittel, welches
durch organische oder anorganische Füllstoffe verstärkt ist. Als polymerisierba-
re Bindemittel eignen sich Verbindungen mit olefinischen ungesättigten Grup-
pen, für dentale oder medizinische Zwecke besonders die Ester der
(Meth)acrylsäure von einwertigen oder mehrwertigen Alkoholen, gegebenenfalls
im Gemisch mit anderen Vinylmonomeren.
16
Als anorganische Füllstoffe dienen feinteilige Mehle aus Quarz, mikrofei-
ner Kieselsäure, Aluminiumoxid, Bariumgläsern und andere mineralische Teil-
chen, die an sich keine chemischen Bindungen mit den sie umgebenden poly-
merisierbaren Bindemitteln eingehen und darum meist mit einem polymerisier-
baren Silan als Kopplungsmittel versehen sind, um einen guten Verbund mit
den polymerisierbaren Bindemitteln zu geben. Wesentlich für Composites ist,
dass ihre Aushärtung durch eine Polymerisation der olefinisch ungesättigten
Gruppen des Bindemittels abläuft, und zwar als radikalische Reaktion, die kei-
ner Gegenwart von Wasser bedarf.
17
- 14 -
In der Streitpatentschrift wird darauf hingewiesen, dass heutzutage zwar
hauptsächlich Composites als dentales Restaurationsmaterial verwendet wer-
den, auch deren Anwendung jedoch Grenzen gesetzt sind. Wegen Gewebeirri-
tation oder aus Gründen der Toxizität ist die Anwendung von Composites für
tiefer gehende Zahnkavitäten, bei Restauration am Gingivalsaum und am Den-
tin eingeschränkt. Zudem haften sie nicht an der Zahnsubstanz. In solchen Fäl-
len werden meist Zemente auf der Basis von Polycarbonsäuren und Metalloxi-
den (Carboxylatzemente) oder ionenfreisetzenden Gläsern (Ionomerzemente)
angewandt, die insoweit über günstigere Eigenschaften verfügen.
18
Nach den weiteren Ausführungen in der Streitpatentschrift ist versucht
worden, die mechanische Festigkeit und vor allem das Löslichkeits- und Entmi-
schungsverhalten sowie die Kompatibilität von Zementen mit Composites zu
verbessern, ohne dass dies jedoch zu befriedigenden Ergebnissen geführt hat
(vgl. im Einzelnen, Streitpatentschrift, S. 3, Z. 4 ff.).
19
Dem Streitpatent liegt vor diesem Hintergrund das Problem ("die Aufga-
be") zugrunde, neue, insbesondere im Dentalbereich zu verwendende Mi-
schungen zu finden, die einerseits über die wesentlichen Vorteilsmerkmale von
Zementen auf Polycarbonsäure- oder Salicylat-Basis, nämlich eine gute Haf-
tung an Zahn- und Knochensubstanz und gute Gewebeverträglichkeit, verfü-
gen, andererseits aber auch die Vorteilsmerkmale von Composites, nämlich
eine geringe Löslichkeit und größere mechanische Festigkeit, aufweisen, und
keine ausgeprägten Entmischungserscheinungen zeigen.
20
Das soll nach Patentanspruch 1 in der Fassung des Urteils des Bundes-
patentgerichts durch folgende Merkmalskombination erreicht werden:
21
- 15 -
Polymerisierbare Zementmischungen enthaltend
a) Monomere und/oder Oligomere und/oder Prepolymere, diese
sind
a 1) polymerisierbar,
a 2) ungesättigt,
a 3) sie enthalten Säuregruppen und/oder deren reaktive
Säurederivatgruppen;
b) Füllstoffe, diese sind
b 1) feinteilig,
b 2) reaktiv
b 3) und können mit den Säuren oder Säurederivaten reagie-
ren;
b
4) die Füllstoffe sind Pulver von Phosphatzement
(ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen;
c) Härtungsmittel;
d) die Komponenten a und b sind derart ausgewählt, dass die
Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß a
mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß b ionisch zu
einer Zementreaktion führen vermögen.
Die nach Patentanspruch 1 geschützten sogenannten polymerisierbaren
Zementmischungen enthalten somit einerseits Monomere und/oder Oligomere
und/oder Prepolymere, die polymerisierbar und ungesättigt sind und Säure-
gruppen und/oder deren reaktive Säurederivatgruppen enthalten (Merkmals-
22
- 16 -
gruppe a und andererseits Füllstoffe (nämlich Pulver von Phosphatzement
ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen), die feinteilig und reaktiv
sind sowie mit den Säuren oder Säurederivaten der Monomere und/oder Oli-
gomere und/oder Prepolymere reagieren können (Merkmalsgruppe b). Hinzu
kommen nicht weiter spezifizierte Härtungsmittel (Merkmal c). Die Komponen-
ten a und b sind derart auszuwählen, dass die Säuregruppen oder Säurederi-
vatgruppen der Stoffe gemäß a mit den feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß
b ionisch zu einer Zementreaktion zu führen vermögen (Merkmal d).
Für den Fachmann, bei dem es sich um einen auf dem Gebiet der Ent-
wicklung von Füllungsmaterialien tätigen Diplom-Chemiker mit Fachhochschul-
oder Hochschulabschluss oder approbierten Zahnarzt handelt, ergibt sich dar-
aus, dass die unter Schutz gestellten sogenannten polymerisierbaren Zement-
mischungen geeignet sein sollen, eine zweifache Reaktion zu bewirken. Zum
einen soll die polymerisierbare und ungesättigte Komponente a (durch einen
Katalysator wie beispielsweise Erhitzen, Lichtbestrahlung oder Zugabe eines
Aktivators, Streitpatentschrift, S. 10, Z. 27 ff.; vgl. auch Sachverständigengut-
achten, S. 31) zu einer radikalischen Polymerisationsreaktion induziert werden.
Zum anderen soll durch die Auswahl der Komponenten a und b der Mischung
(und nach Zugabe von Wasser) eine ionische Zementreaktion zwischen den
Säuregruppen oder Säurederivatgruppen der Stoffe gemäß Merkmal a und den
feinteiligen reaktiven Füllstoffen gemäß Merkmal b ermöglicht werden, die zur
Bildung von vernetzten Zementstrukturen führt. Dabei ist allerdings der Umfang,
in dem es infolge der Zementreaktion bei dem Endprodukt tatsächlich zur Bil-
dung solcher Strukturen kommt, nicht weiter konkretisiert. Das fügt sich mit dem
Umstand, dass Gegenstand des Patentanspruchs 1 eine Mischung ist und nicht
das Endprodukt, das nach der Polymerisations- und Zementreaktion aus der
Mischung entsteht. Die erfindungsgemäße Lehre fordert allein, die Komponen-
23
- 17 -
ten a und b der Mischung derart auszuwählen, dass die Säuregruppen oder
Säurederivatgruppen der Komponente a mit den feinteiligen reaktiven Füllstof-
fen der Komponente b ionisch zu einer Zementreaktion führen können, um das
zu erhalten, was im Streitpatent als polymerisierbare Zementmischung be-
zeichnet ist. In der Streitpatentschrift heißt es in diesem Zusammenhang erläu-
ternd, dass sich überraschenderweise gezeigt habe, dass man durch eine
Kombination von einigen für die Haftung an der Zahnsubstanz entwickelten po-
lymerisierbaren Harzmischungen mit solchen reaktiven Füllstoffen, die übli-
cherweise in Zementen als für die Abbindung wichtige Komponente enthalten
sind, zu härtbaren Mischungen kommt, die sowohl radikalisch als auch über
Ionenreaktionen aushärten. Dadurch könne eine große Palette von neuen
Compositezementen erhalten werden, die verbesserte Eigenschaften und neue
Möglichkeiten der Anwendung böten (Streitpatentschrift, S. 3, Z. 40 ff.).
Als Füllstoffe im Sinne des Merkmals b kommen demnach nur solche in
Betracht, die feinteilig und reaktiv sind und dabei insbesondere mit den Säuren
und/oder Säurederivaten des Merkmals a reagieren können. Nicht dazu zählen
inerte Füllstoffe, wie etwa die noch im Stand der Technik bei Composites als
Füllstoff verwendeten feinteiligen Mehle von Quarz, mikrofeine Kieselsäure,
Aluminiumoxid, Bariumgläsern und anderen mineralischen Teilchen, die keine
chemische Bindung mit den sie umgebenden polymerisierbaren Bindemitteln
eingehen können und deshalb meist mit einem polymerisierbaren Silan als
Kopplungsmittel versehen wurden (vgl. Streitpatentschrift, S. 2, Z. 45 ff.). Zu-
dem muss es sich bei den Füllstoffen um Pulver von Phosphatzement
(ZnO/MgO), Silikatzementen oder Ionomerzementen handeln.
24
Härtungsmittel im Sinne des Merkmals c sind solche, welche die radikali-
sche Polymerisationsreaktion oder die Ionenreaktion auslösen bzw. beschleu-
25
- 18 -
nigen können, wie beispielsweise Erhitzen, Lichtbestrahlung oder Zugabe eines
Aktivators bzw. Wasser, Weinsäure oder Mellithsäure (Streitpatentschrift, S. 10,
Z. 27 ff., 51 f.).
26
III. 1. Die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden
Offenbarung (Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 2 IntPatÜbkG)
durch die Klägerin erstmals in der Berufungsinstanz ist zulässig (§ 99 PatG i.V.
mit § 533 Nr. 1 ZPO).
Die Einbeziehung eines weiteren Nichtigkeitsgrundes in der Berufungsin-
stanz, nachdem die Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht nur auf ei-
nen oder mehrere andere der in Art. 138 Abs. 1 EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1
IntPatÜbkG aufgeführten Nichtigkeitsgründe gestützt war, stellt eine Klageände-
rung (objektive Klagehäufung) im Sinne der Vorschrift des § 533 Nr. 1 ZPO dar,
welche nach § 99 Abs. 1 PatG auch im Patentnichtigkeitsverfahren anwendbar
ist (Benkard/Rogge, PatG, 10. Aufl., 2006, § 22 PatG Rdn. 71; Busse/Keuken-
schrijver, PatG, 6. Aufl., 2003, § 83 PatG Rdn. 9, jeweils zu § 263 ZPO). Ent-
sprechend ist in der erstmaligen Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes der
unzureichenden Offenbarung (Art. 83, 138 Abs. 1 lit. b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1
Nr. 2 IntPatÜbkG) durch die Klägerin im Berufungsverfahren im Anschluss an
das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen eine Klageänderung zu se-
hen, nachdem die Klägerin ihren Antrag auf Nichtigerklärung bis dahin allein mit
der fehlenden Patentfähigkeit des Streitpatentes (Art. 54, 56, 138 Abs. 1 a EPÜ,
Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG) begründet hat. Soweit die Klägerin erstin-
stanzlich die unangemessene Breite des Anspruchs 1 des Streitpatents in der
von der Beklagten verteidigten Fassung gerügt hat, füllt dies - wie bereits das
Bundespatentgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Senats (BGHZ
156, 179, 185 - blasenfreie Gummibahn I) zutreffend ausgeführt hat - keinen
27
- 19 -
der gesetzlichen Nichtigkeitsgründe aus und damit insbesondere auch ohne
Weiteres nicht den Nichtigkeitsgrund der unzureichenden Offenbarung.
28
Die Klageänderung ist sachdienlich und somit zulässig (§ 533 Nr. 1
ZPO). Die Einbeziehung des Nichtigkeitsgrundes der unzureichenden Offenba-
rung in das hiesige Nichtigkeitsberufungsverfahren ist sachdienlich, weil die
damit verbundenen Fragen im laufenden Verfahren mitbehandelt werden konn-
ten und eine neue Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Streitpatents
vermieden wird. Zu einer zeitlichen Verzögerung des laufenden Verfahrens ist
es nicht gekommen, weil die Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen im
Verhandlungstermin, die bereits im Hinblick auf den von Anfang an erhobenen
Nichtigkeitsgrund der fehlenden Patentfähigkeit angeordnet worden war, dazu
genutzt werden konnte, offene Fragen auch im Hinblick auf den Nichtigkeits-
grund der fehlenden Offenbarung zu klären.
2. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der Fassung des Urteils
des Bundespatentgerichts ist so deutlich und hinreichend offenbart, dass ein
Fachmann sie ausführen kann (Art. 83, 138 Abs. 1 b EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Int-
PatÜbkG).
29
a) Die Klägerin trägt vor, dass die Offenbarung des Streitpatents dem
Fachmann keine ausreichende Lehre vermittelt habe, wie die polymerisierba-
ren, ungesättigten Säuren bzw. Säurederivate nach Merkmalsgruppe a und die
feinteiligen, reaktiven Füllstoffe nach Merkmalsgruppe b auszuwählen seien, so
dass sie polymerisierbare Zementmischungen ergäben, die über eine ionische
Reaktion zu einem Zement führten. Um dies herauszufinden, habe der Fach-
mann umfangreiche und damit unzumutbare eigene Untersuchungen anstellen
und selbst erfinderisch tätig werden müssen. Selbst wenn jedoch unterstellt
30
- 20 -
werde, dass die Beispiele des Streitpatents Zementmischungen offenbarten, die
ionisch zu einer Zementreaktion geführt hätten, so habe sich hieraus keine aus-
reichende Offenbarung für den gesamten beanspruchten Bereich ergeben. Die
Beispiele hätten keine Verallgemeinerung dahingehend erlaubt, dass der
Fachmann auf Grundlage der Beispiele wisse, wie er die Säuren bzw. Säurede-
rivate nach Merkmalsgruppe a auszuwählen habe, damit sie mit entsprechen-
den reaktiven Füllstoffen der Merkmalsgruppe b zu einer ionischen Zementre-
aktion führen könnten.
Der Argumentation der Klägerin kann nicht beigetreten werden. Eine für
die Ausführbarkeit hinreichende Offenbarung ist gegeben, wenn der Fachmann
ohne erfinderisches Zutun und ohne unzumutbare Schwierigkeiten in der Lage
ist, die Lehre des Patentanspruchs aufgrund der Gesamtoffenbarung der Pa-
tentschrift in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmelde- oder
Prioritätstag praktisch so zu verwirklichen, dass der angestrebte Erfolg erreicht
wird (Sen.Urt. v. 14.10.1979 - X ZR 3/76, GRUR 1980, 166, 168 - Doppelachs-
aggregat). Es ist also nicht erforderlich, dass bereits der Patentanspruch alle
zur Ausführung der Erfindung erforderlichen Angaben enthält. Vielmehr genügt
es, wenn der Fachmann die insoweit notwendigen Einzelangaben der allgemei-
nen Beschreibung oder den Ausführungsbeispielen entnehmen kann
(Sen.Beschl. v. 16.6.1998 - X ZB 3/92, GRUR 1998, 899, 900 - Alpinski; Urt. v.
1.10.2002 - X ZR 112/99, GRUR 2003, 223, 225 - Kupplungsvorrichtung II).
Nach mittels Einspruchs nicht mehr anfechtbarer Erteilung des Patents ist von
einer in diesem Sinne ausreichenden Offenbarung so lange auszugehen, bis
das Gegenteil nachgewiesen ist. Im Nichtigkeitsprozess führt das zur Beweis-
last des Klägers dafür, dass es dem Fachmann auch nach Kenntnisnahme der
Angaben in der Beschreibung und der Zeichnungen der Patentschrift nicht mög-
lich ist, die beanspruchte Lehre unter Einsatz seines Fachwissens und ohne
31
- 21 -
unzumutbare Schwierigkeiten auszuführen (Busse/Keukenschrijver, aaO, § 83
PatG Rdn. 32, § 34 PatG Rdn. 301; Schulte/Moufang, PatG, 8. Aufl., 2008, § 34
PatG Rdn. 374).
32
Im Streitfall hat sich das Gegenteil nicht ergeben. Es ist zwar zutreffend,
dass Patentanspruch 1 des Streitpatents - wie auch der gerichtliche Sachver-
ständige in seinem Gutachten wiederholt hervorhebt (Sachverständigengutach-
ten, S. 10, Abs. 2; S. 12, Abs. 3; S. 40, Abs. 2; S. 117, Abs. 5; S. 124, Abs. 3),
keine näheren Angaben zur Auswahlregel in Merkmal d entnommen werden
kann, wonach die Komponenten a, also die polymerisierbaren, ungesättigten
und Säuregruppen und/oder deren reaktive Säurederivate enthaltenden Mono-
mere, Oligomere und/oder Prepolymere, und b also die feinteiligen und reakti-
ven Pulver von Phosphatzementen, Silikatzementen oder Ionomerzementen so
auszuwählen sind, dass die Säuregruppen oder Säurederivategruppen der Stof-
fe gemäß a) mit den feinteiligen Füllstoffen gemäß b ionisch zu einer Zement-
reaktion führen können. Die Streitpatentschrift enthält jedoch mehrere Ausfüh-
rungsbeispiele, in denen dem Fachmann konkrete Mischungen vorgeschlagen
werden (vgl. Streitpatentschrift, S. 13 ff.). Dass diese Ausführungsbeispiele ins-
gesamt nicht ausführbar sind, hat die Beweisaufnahme nicht ergeben.
Dafür, dass die Komponenten a und b derart ausgewählt worden sind,
das die Säuregruppen bzw. Säurederivatgruppen der Komponente a mit den
feinteiligen reaktiven Füllstoffen der Komponente b zu einer Zementreaktion zu
führen vermögen, spricht etwa bei dem Beispiel 9 des Streitpatents das Quell-
verhalten des Probekörpers in Wasser, welches darauf hindeutet, dass sich
zumindest in Teilbereichen des Probekörpers Zementstrukturen gebildet haben.
Nach den Angaben in der Streitpatentschrift wurde im Hinblick die Polymerisati-
onsschrumpfung des Probekörpers in Wasser nach 10 Minuten mit 0,0 % ge-
33
- 22 -
messen. Nach 30 Minuten hat der Probekörper eine Expansion von 0,24 % ge-
zeigt und nach 16 Stunden eine solche um 0,80 % (Streitpatentschrift, S. 16,
Z. 46 ff.). Zwar hat der gerichtliche Sachverständige im Termin ausgeführt, dass
im Expansionsverhalten kein wissenschaftlicher Nachweis für die Bildung ze-
mentartiger Vernetzungen in dem Probekörper liegt; er hat aber auch dargelegt,
dass eine mögliche Erklärung für die Ausdehnung in der Bildung zementartiger
Vernetzungen im Probekörper unter Wassereinfluss liegen kann.
Der gerichtliche Sachverständige hat zudem zwar kritisiert, dass die Ei-
genschaft "Zement" nicht durch spektroskopische (z.B. IR, XRD, etc.) Methoden
nachgewiesen worden sei, zugleich aber überzeugend dargelegt, dass Anga-
ben zur Härte von Probekörper nach Nasslagerung und zu deren
Kantenfestigkeit indirekte Hinweise auf deren Vorhandensein sein können
(Sachverständigengutachten, S. 118, Abs. 4). So wird in der Streitpatentschrift
hinsichtlich des Beispiels 4 ausgeführt, dass der durch Mischen von zwei härt-
baren Pasten auf Basis von Polymethacrylcarbonsäure und Phosphatzement-
pulver entstandene gehärtete Compositezement zunächst eine Barcolhärte von
51 gehabt hat. Im Stresstest (Wassertauchbäder im Wechsel von 0° C und
60° C nach 4.000 Zyklen) wies das Material keine Ermüdungserscheinungen
auf, stieg die Barcolhärte auf 59 und war das Material äußerst kantenfest. Zu-
dem haftete es sehr gut an Dentin und Schmelz von Rinderzähnen (Streitpa-
tentschrift, S. 14, Z. 25 ff., 44 ff.). Zum Beispiel 3 heißt es in der Beschreibung,
dass 30 Minuten nach dem Vermischen von zwei Pasten auf Basis von ha-
lophosphoryliertem Bis-GMA und Ionomerzementpulver eine Barcolhärte von
57 gemessen wurde, die Druckfestigkeit nach 24 h/37° C bei 2.100 kg/cm² lag
und eine Löslichkeit nach 24-stündiger Lagerung im Wasser von 37° C nicht
festgestellt wurde (Streitpatentschrift, S. 14, Z. 13 ff., Z. 21 ff.).
34
- 23 -
Schließlich liegt in der Feststellung des gerichtlichen Sachverständigen
in der mündlichen Verhandlung, dass bei den genannten Beispielen des Streit-
patents stets jedenfalls eine ionische Reaktion (Säure-Base-Reaktion) erfolgt
ist, ein weiteres Indiz dafür, dass es dabei auch zur Bildung von Zementstruktu-
ren gekommen ist.
35
b) Auch dem weiteren Argument der Klägerin, die Beispiele des Streitpa-
tents reichten nicht aus, um die Auswahlregel nach Merkmal d im gesamten
Bereich als offenbart anzusehen, weil diese den Fachmann nicht allgemein
lehrten, wie er die Säuren oder Säurederivate der Merkmalsgruppe a auszu-
wählen habe, damit sie mit entsprechenden reaktiven Füllstoffen der Merkmals-
gruppe b) zu einer ionischen Zementreaktion führen können, kann nicht gefolgt
werden. Denn nach der Rechsprechung des Senats ist es nicht erforderlich,
dass alle denkbaren unter den Wortlaut des Patentanspruchs fallenden Ausge-
staltungen ausgeführt werden können. Vielmehr genügt es regelmäßig den An-
forderungen des Art. 83 EPÜ, wenn - wie für den hiesigen Fall vorstehend aus-
geführt - zumindest ein nacharbeitbarer Weg zur Ausführung der Erfindung of-
fenbart worden ist (BGHZ 147, 306 (317) - Taxol; Sen.Urt. v. 1.10.2002
- X ZR 112/99, GRUR 2003, 223, 225 - Kupplungsvorrichtung II). Ein dem
Sachverhalt der Entscheidung "Thermoplastische Zusammensetzung" (BGH,
Urt. v. 25.2.2010 - Xa ZR 100/05 Tz. 23, GRUR 2010, 414) vergleichbarer oder
ähnlicher Fall ist hier nicht zu beurteilen.
36
IV. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der Fas-
sung des Urteils des Bundespatentgerichts ist patentfähig (Art. 138 Abs. 1 a
EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜbkG).
37
- 24 -
1. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der ge-
nannten Fassung ist neu (Art. 54 EPÜ).
38
39
a) Die britische Patentanmeldung 2 094 326 (Anlage D1 und Überset-
zung) offenbart einen dentalen Ausbesserungskit oder eine Zusammensetzung
zum Auskleiden oder temporären Füllen von Zahnkavitäten, umfassend Calci-
umhydroxid und ein polymerisierbares, organisches Bindemittel, wobei das Bin-
demittel ein Bisphenol-A-Glydicylmethacrylat-Präpolymer und gegebenenfalls
weitere Komponenten (ein Acrylmonomer, das insbesondere ein difunktionelles
Methacrylat sein kann; bis zu 0,5 Gew.-% Methacrylsäure; ein Füllstoff, der ins-
besondere Glas, Quarz oder amorphes Siliziumdioxid umfasst, etc.) umfasst.
Aus Sicht des Fachmanns lehrt die Entgegenhaltung somit einen sog. Kavitä-
tenliner, der zur Abdeckung der Pulpa bei tiefen Kavitäten dient, um das
Wachstum von sekundärem Dentin zu stimulieren und die Wirkungen von Säu-
ren und anderen Chemikalien zu neutralisieren (Anlage D1, S. 1, Z. 11 ff.). Den
Grundkomponenten der bis dahin bekannten Calciumhydroxid-Kavitätenlinern
werden Composite-Füllungsmaterialien hinzugesetzt, die ebenfalls bereits be-
kannt gewesen sind (Sachverständigengutachten, S. 50, Abs. 1).
Dem Fachmann werden damit Harzkomponenten und Härtungsmittel im
Sinne von Patentanspruch 1 des Streitpatents aufgezeigt. Es fehlt aber an einer
Offenbarung reaktiver Füllstoffe, die mit Säuren oder Säurederivaten reagieren
können und Pulver von Phophatzementen (ZnO/MgO), Silikatzementen oder
Ionomerzementen sind. Entsprechend geht aus der Entgegenhaltung auch nicht
die Auswahlregel des Merkmals d hervor. Anspruch 8 und der Beschreibung
der britischen Patentanmeldung können zwar als mögliche Füllstoffe, welche
die Zusammensetzung der Erfindung aufweisen können, allgemein Glas, Quarz
oder amorphe Kieselsäure entnommen werden (vgl. Anlage D1, S. 2, Z. 20 ff;
40
- 25 -
S. 4, Z. 27 ff.; Übersetzung, S. 5, Abs. 3; S. 13, letzter Abs.). Damit ist jedoch
nicht offenbart, dass es sich bei dem Füllstoff um ein Pulver von Ionomer- oder
Silikatzementen handelt, die mit Säure- oder Säurederivatgruppen reagieren
können. In der Entgegenhaltung wird zunächst nicht ausdrücklich erwähnt, dass
es sich bei der Alternative "Glas" als Füllstoff um ein Pulver für Ionomerzemente
oder bei der Alternative "amorphe Kieselsäure" als Füllstoff um ein Pulver für
Silikatzemente handeln soll. Darüber hinaus ist es aus Sicht des Fachmanns in
Zusammenhang mit einem Kavitätenliner, der ohne Wasserbedarf in einer kata-
lytisch induzierten Polymerisationsreaktion aushärtet (Sachverständigengutach-
ten, S. 57 f.), auch ohne ausdrückliche Erwähnung nicht wie selbstverständlich,
unter den Begriffen "Glas" bzw. "amorphe Kieselsäure" ein reaktives Pulver von
Ionomer- oder Silikatzementen zu verstehen. Erst recht enthält die britische
Entgegenhaltung keinen Hinweis auf die eine ionische Zementreaktion betref-
fende Auswahlregel des Merkmals d des Streitpatents.
Entgegen der Ansicht der Klägerin ändert daran auch der Umstand
nichts, dass in der britischen Patentanmeldung auf das US-Patent 3 971 754
(Anlage D14, Übersetzung) Bezug genommen wird. Im Rahmen dieser Bezug-
nahme erstreckt sich der Offenbarungsgehalt der britischen Entgegenhaltung
zwar auch auf den Inhalt des US-Patentes (vgl. etwa BGHZ 76, 97, 104 - Te-
rephtalsäure). Der Verweis in der britischen Entgegenhaltung erfolgt jedoch im
Hinblick auf "Glaszusammensetzungen des US-Patentes 3 971 754", die "Rönt-
genabsorptionsverbindungen, wie beispielsweise Strontiumoxid und -carbonat"
umfassen, "so dass die Grenzen des Füllstoffs auf diagnostischen Röntgenauf-
nahmen abgegrenzt sind" (Anlage D1, S. 2, Z. 2, Z. 28 ff., 39 ff.; Übersetzung,
S. 5, Abs. 3 und 5 f.). Dies entspricht der dem genannten US-Patent zugrunde
liegenden Aufgabenstellung, wonach ein für Röntgenstrahlen undurchlässiges
Zahnfüllmaterial mit bestimmten Eigenschaften (vgl. dazu im Einzelnen: Anlage
41
- 26 -
D14, Sp. 1, Z. 61 ff.; Übersetzung, S. 3, Abs. 2 ff.) zur Verfügung gestellt wer-
den soll, um einen ausreichenden Röntgenkontrast zu erhalten, so dass die
Lage und der Grenzbereich des implantierten Materials im Hinblick auf postope-
rative Untersuchungen klar umrissen sind, damit beispielsweise das Wiederauf-
leben von Karies, die Gewebeneubildung und andere Gewebestörungen ohne
einen operativen Eingriff festgestellt werden können (vgl. Anlage D14, Sp. 1,
Z. 9 ff., 61 ff.; Übersetzung, S. 1, Abs. 2, S. 3 Abs. 2 ff.). Hingegen findet sich in
der US-Patentschrift kein Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei den dort genann-
ten Glasfüllmaterialien, um Pulver für Silikat- oder Glasionomerzemente han-
delt, die - wie der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten hervorhebt
(vgl. Sachverständigengutachten, S. 57, Abs. 2, S. 93, Abs. 4 und 5) - eine sehr
spezifische Zusammensetzung aufweisen müssen, damit es zu einer vernet-
zenden Zementreaktion kommen kann.
b) Die deutsche Offenlegungsschrift 28 28 381 (Anlage D4) beschreibt
eine härtbare Masse bestehend aus
42
(A) einer ethylenisch ungesättigten Carbonsäure entsprechend
der folgenden allgemeinen Formel
worin R1 ein Wasserstoffatom oder eine Methylgruppe und
R2 eine Alkylengruppe mit 2 bis 4 Kohlenstoffatomen bedeu-
ten und worin im Benzolring A zwei Carboxylgruppen an an-
dere Kohlenstoffatome als die zu dem Kohlenstoffatom, wor-
- 27 -
an die Estergrupe gebunden ist, benachbarten Kohlenstoff-
atome gebunden sind oder einem Säureanhydrid hiervon,
(B) mindestens einem anderen ethylenisch ungesättigten Mono-
meren als dem Monomeren (A) und
(C) mindestens einem Katalysator aus der Gruppe von Initiatoren
vom freien Radikaltyp und/oder Photosensibilisatoren (Anlage
D4, Patentanspruch 1),
die als Dentalklebstoff verwendet werden kann (aaO, Patentanspruch 11), in-
dem sie zwischen die miteinander zu verbindenden Gegenstände aufgetragen,
polymerisiert und gehärtet wird (aaO, S. 5, Abs. 1; Beispiele, S. 16 ff.). Die
härtbare Masse soll über eine starke Haftfähigkeit am Zahnschmelz und am
Dentin sowie an anderen Substraten wie Metall verfügen sowie eine hohe Was-
serbeständigkeit und Dauerhaftigkeit aufweisen (aaO, S. 5, letzter Abs. bis S. 6,
3. Abs.). Nach den weiteren Ausführungen in der Beschreibung der Entgegen-
haltung kann die härtbare Masse verschiedene Zusätze enthalten. Namentlich
erwähnt werden anorganische pulverförmige Füllstoffe wie Kaolin, Talk, Ton,
Calciumcarbonat, Kieselsäure, Aluminumoxid, Kieselsäure-Aluminiumoxid, Cal-
ciumphosphat und Glas, Pigmente wie Titanoxid, Klebrigmachungsmittel wie
Wachse und Ethylen/Vinylacetat-Copolymere, Härtungspromotoren, Polymeri-
sationsregler und Polymerisationshemmstoffe wie Hydrochinon (aaO, S. 12,
Abs. 1).
Mit der ethylenisch ungesättigten Carbonsäure offenbart die Entgegen-
haltung einen Monomeren, der polymerisierbar und ungesättigt ist sowie zwei
Säuregruppen (Carbonsäurereste: -COOH) enthält (Merkmalsgruppe a). Im
Hinblick auf den Katalysator aus der Gruppe von Initiatoren vom freien Radikal-
43
- 28 -
typ und/oder Photosensibilisatoren ist zudem ein Härtungsmittel enthalten
(Merkmal c).
44
Die Klägerin meint, dass darüber hinaus der Begriff Glas in der Auflis-
tung möglicher Zusätze vom Fachmann dahin verstanden werde, dass Gläser
zum Einsatz kämen, die üblicherweise für Dentalmaterialien und insbesondere
für Dentalklebstoffe und Dentalzemente verwendet würden. Eine dem Fach-
mann zum Prioritätszeitpunkt als üblich bekannte und für Dentalmaterialien als
ohne weiteres geeignet erscheinende Glasgruppe seien die Pulver für Silikat-
zemente und Glasionomerzemente. Der Fachmann habe also dem Begriff Glas,
wie er in der Entgegenhaltung gegeben sei, auch die Bedeutung als Pulver für
Silikatzemente und Glasinomerzemente beigemessen bzw. diese ohne weiteres
mitgelesen, zumal Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente weit ver-
breitete Anwendung in Dentalmaterialien gefunden hätten.
Der Argumentation der Klägerin kann nicht gefolgt werden. Sie verkennt
den patentrechtlichen Neuheitsbegriff. Danach kann zwar auch dasjenige of-
fenbart sein, was in der Entgegenhaltung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der
Sicht des Fachmanns jedoch für die technische Information, die der Fachmann
der Entgegenhaltung entnimmt, keiner besonderen Offenbarung bedarf, son-
dern "mitgelesen" wird. Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt je-
doch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient,
nicht anders als die Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, lediglich
der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen In-
formation, die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines
Fachwissens entnimmt (BGHZ 179, 168, 174 - Olanzapin). Danach kann der
Offenlegungsschrift aus Sicht des Fachmanns weder die Merkmalsgruppe b
45
- 29 -
noch die Auswahlregel des Merkmals d des Patentanspruchs 1 entnommen
werden.
46
Gegenstand der Entgegenhaltung ist ein Dentalklebstoff, der durch eine
radikalische, von einem Katalysator induzierte Reaktion polymerisiert und aus-
härtet. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass neben oder nach der radikali-
schen Polymerisation noch eine ionische Zementreaktion herbeigeführt werden
soll. Das gilt sowohl für den allgemeinen Teil der Beschreibung der deutschen
Offenlegungsschrift als auch für die zehn Ausführungsbeispiele. Hinzu kommt,
dass im Hinblick auf die Aushärtung der Masse an keiner Stelle die Zugabe von
Wasser erwähnt wird, wie sie für eine ionische Zementreaktion zwingend erfor-
derlich wäre (Sachverständigengutachten, S. 63, Abs. 2, S. 64, Abs. 1). Auch
dies spricht dagegen, dass dem Fachmann in der Offenlegungsschrift die
Durchführung einer ionischen Zementreaktion offenbart wird und er vor diesem
Hintergrund unter dem Begriff des Glases als Füllstoff gerade auch Pulver von
Silikat- oder Glasionomerzementen verstehen wird. Soweit die Klägerin in die-
sem Zusammenhang ausführt, dass eine nachfolgende ionische Reaktion in der
Mundhöhle (durch Speichelfluss) erfolgen könne, hat auch dies keine Grundla-
ge in der Entgegenhaltung und stellt sich als rückschauende und deshalb un-
beachtliche Betrachtungsweise dar.
Auch wenn es zutreffend ist, dass es mit zum Fachwissen gehört hat,
dass das Pulver von Silikatzementen ein Aluminiumfluorsilikatglas ist und Gla-
sionomerzemente durch die Reaktion von Pulvern (säurelösliches Glas mit ho-
hem Fluorgehalt) und Flüssigkeiten (wässrige Lösung von Acrylsäurecopolyme-
ren) gebildet werden (vgl. Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry,
5. Aufl., 1987, Band A 8, S. 276 und S. 256, Anlagen D13 und D13a) und zu-
dem diskutiert wurde, dass Silikat- und Glasionomerzemente Fluoridionen frei-
47
- 30 -
setzen und zum Schutz gegen Karies beitragen können (vgl. Tveit/Gjerdet, Flu-
oride release from a fluoride-containing amalgam, a glass ionomer cement and
a silicate cement in artificial salvia, Journal of Oral Rehabilitation, 1981, Volu-
me 8, Seiten 237-241, Anlage D16, und Swartz/Philips/Clark, Long-term F Re-
lease from Glass Ionomer Cements, Journal of Dental Research 63(2), Seiten
158-160, Februar 1984, Anlage D17), folgt daraus nicht, dass der Fachmann
bei Kenntnisnahme der Aufzählung von Füllstoffen in der Beschreibung der Of-
fenlegungsschrift mit der Erwähnung von Glas ohne weiteres auch Pulver für
Silikat- oder Glasionomerzemente "mitgelesen" hat. Vielmehr wird in Ullmann’s
Encyclopedia of Industrial Chemistry gerade zwischen Glasionomerzementen,
die aus einem Pulver (säurelöslichem Glas mit hohem Fluorgehalt) und einer
Flüssigkeit (wässrige Lösung aus Acrylsäurepolymeren) bestehen, und sog.
"Composite-Cements" unterschieden, die sich aus zwei Pasten mit Diacrylatoli-
gomeren, Diacrylatmonomeren, Füllstoffen und Polymersiationsstartersystemen
zusammensetzen (aaO, S. 256). Bei den letztgenannten "Composite-Cements"
handelt es sich also gerade nicht um Zemente, die ionisch mit Wasser reagie-
ren, sondern um polymerisierbare Composites (Sachverständigengutachten,
S. 107). Und auch die Aufsätze von Tveit/Gjerdet und Swartz/Philips/Clark be-
fassen sich speziell mit der Fluoridabgabe von Silikat- und Glasionomerzemen-
ten und den damit möglicherweise verbundenen karieshindernden Wirkungen
("anticariogenic properties"), ohne dass jedoch ein Bezug zu Composite-
Materialien bzw. Füllstoffen für selbige aufgezeigt wird. Für den Fachmann gibt
es daher - wie auch der gerichtliche Sachverständige in der mündlichen Ver-
handlung noch einmal hervorgehoben hat - keinen Grund, unter dem in der
deutschen Offenlegungsschrift verwendeten Begriff des Glases als Füllstoff
auch Pulver von Silikat- oder Glasionomerzementen zu verstehen.
- 31 -
c) Die europäische Patentschrift 0 115 410 respektive die europäische
Patentanmeldung 0 115 410 A2 (Anlagen D5, D5a, Übersetzung) betreffen
ebenfalls Klebstoffmassen, die gut auf harten Geweben des menschlichen Kör-
pers wie Zähnen und Knochen, metallischen Materialien, organischen Polyme-
ren und Keramiken haften und die weiterhin eine wasserbeständige Klebefes-
tigkeit besitzen (Anlage D5, S. 2, Z. 3 ff.). Patentanspruch 1 der europäischen
Patentschrift offenbart eine solche Klebstoffmasse die aus (a) 1 Gewichtsanteil
einer Verbindung der allgemeinen Formel
48
worin jeweils R
5
und R
5’
ein Wasserstoffatom oder ein Methylrest sind, R
c
einen
bivalenten, organischen Rest mit 2 bis 54 Kohlenstoffatomen bedeutet, R
d
ein
bivalenter organischer Rest mit 4 bis 57 Kohlenstoffatomen ist, R
d’
ein bivalen-
ter organischer Rest mit 3 bis 57 Kohlenstoffatomen ist und X
2
O, S oder NR
b
- 32 -
bedeutet, wobei R
b
H oder C
1-4
-Alkyl ist, und (b) 0 bis 199 Gewichtsteilen eines
Vinylmonomeren besteht, der mit der vorstehend erwähnten Verbindung copo-
lymerisierbar ist.
49
Die Verbindungen sind polymerisierbare, ungesättigte und säuregrup-
penhaltige Monomere im Sinne der Merkmalsgruppe a des Streitpatents. In An-
spruch 5 ist darüber hinaus vorgesehen, dass die Masse ein Härtungsmittel ent-
hält (aaO, S. 20, Z. 63 ff.), so dass auch Merkmal c offenbart ist.
In der Beschreibung der Entgegenhaltung wird weiterhin erwähnt, dass
die Klebemittelzusammensetzung einen herkömmlichen bekannten Füllstoff
eines anorganischen oder organischen Polymers oder eines anorganischen
oder organischen Verbundtyps enthalten könne. Durch Zugabe des Füllstoffs
könne die Klebemittelzusammensetzung als Dentalzement zum Verkleben und
Füllen, dentales Verbundharz und Knochenzement verwendet werden. Als Bei-
spiele für den verwendeten anorganischen Füllstoff werden natürliche Minera-
lien erwähnt und dabei neben vielen anderen auch Glas, z.B. Sodaglas,
Bariumglas, Strontiumglas und Borsilikatglas, Glas-Keramik enthaltend Lanthan
usw. (aaO, S. 12, Z. 59 ff., S. 13, Z. 2 ff.). Die Klägerin meint, dass dem Fach-
mann hierdurch gelehrt werde, solche Füllmaterialien einzusetzen, welche die
Ausbildung eines Zahnzements ermöglichen. Aus der Erwähnung von Glas als
einem Füllstoff folge für den Fachmann, dass auch Pulver für Silikatzemente
und Glasionomerzemente gemeint seien.
50
Dem ist nicht beizutreten. Auch die europäische Patentschrift 0 115 410
bzw. die europäische Patentanmeldung 0 115 410 betreffen einen Dentalkleb-
stoff, der durch eine radikalische, von einem Katalysator induzierte Reaktion
polymerisiert und gehärtet wird (Anlage K5, S. 12, Z. 20 ff.; Anlage D5a, S. 20,
51
- 33 -
Z. 20 ff.; Übersetzung, S. 22, Abs. 2). In der Entgegenhaltung werden auch Füll-
stoffe erwähnt, die "manchmal" ("sometimes") in dem Dentalkleber enthalten
sein können und dann die verschiedensten Füllstoffe einschließlich Glas ge-
nannt. Wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, ver-
anlasst dies den Fachmann aber noch nicht dazu, Ionen abgebende Glaspulver
der Glasionomerzemente mitzulesen. Dass neben oder nach der Polymerisie-
rungsreaktion auch noch eine ionische Zementreaktion erfolgen soll und des-
halb aus Sicht des Fachmanns mit der Erwähnung von Glas als ein Füllstoff
auch Glasionomerzemente gemeint sind, folgt auch nicht aus dem Umstand,
dass in der Beschreibung der Entgegenhaltung erwähnt wird, dass das Klebe-
mittel durch Zugabe des Füllstoffs als "Dentalzement" zum Verkleben und Fül-
len, als dentales Verbundharz und Knochenzement verwendet werden kann.
Denn aus Sicht des fachkundigen Lesers wird der Begriff des Dentalzements
zum Füllen hier im Sinne einer kariespräventiven Behandlung für das Füllen
von Fissuren und kleineren Läsionen verwendet und nicht für das Füllen von
Kavitäten, so dass ohne weiteres kein Anlass besteht, darin die Andeutung ei-
ner ionischen Zementreaktion zu sehen. Im Übrigen fehlt es in diesem Zusam-
menhang an jeglichem Hinweis auf eine wässrige Umgebung, die für die Durch-
führung einer ionischen Reaktion bzw. der Ausbildung einer vernetzten Struktur
selbständig abbindenden Zements erforderlich wäre (Sachverständigengutach-
ten, S. 78 Abs. 1 bis S. 79 Abs. 1). Schließlich findet sich in den Entgegenhal-
tungen auch kein Anhaltspunkt, der auf die Auswahlregel nach Merkmal d des
Patentanspruchs 1 des Streitpatents hindeutet.
d) Die europäische Patentanmeldung 0 155 812 (Anlage D7, Überset-
zung) hat gleichfalls einen Dentalklebstoff zum Gegenstand. In Anspruch 1 wird
eine Dentalzusammensetzung offenbart, die ein Vinylmonomer umfasst, das
mindestens eine Säuregruppe im Molekül und einen Initiator enthält, der das
52
- 34 -
Monomer durch sichtbares Licht photopolymerisieren kann, wobei der Initiator
weitgehend aus einem Photosensibilisierer, der ein α-Diketon, ein Chinon oder
ein Derivat eines α-Diketons oder eines Chinons ist, zusammen mit einem Be-
schleuniger, der mindestens eine Mercaptogruppe im Molekül enthält. Offenbart
werden damit die Merkmalsgruppe a und das Merkmal c des Streitpatents.
Die Klägerin führt aus, dass die Dentalzusammensetzung nach Anspruch
8 der Entgegenhaltung auch ein Füllmaterial beinhalten kann. In der Beschrei-
bung werden eine Vielzahl von möglichen Füllstoffen genannt, darunter auch
anorganische Füllstoffe, die pulverförmig vorliegen können und Kieselsäure,
Aluminiumoxid, verschiedene Gläser, Keramiken, Tonmineralien, synthetisches
Zeolith, Glimmer, Calciumfluorid, Calciumphosphat, Bariumsulfat, Zirkoniumdi-
oxid oder Titanoxid umfassen können (Anlage D7, S. 15 Abs. 1; Übersetzung,
S. 17, Abs. 4). Die Klägerin ist der Ansicht, dass der Begriff "verschiedene Glä-
ser" in der Aufzählung vom Fachmann dahin verstanden wird, dass darunter
auch Pulver für Silikatzemente und Glasionomerzemente fallen können, weil
diese üblicherweise im Dentalbereich eingesetzt werden.
53
Die Argumentation der Klägerin greift nicht durch. Die europäische Pa-
tentanmeldung 0 155 812 befasst sich mit der Optimierung eines Klebstoffs, der
ohne Wasserbedarf polymerisiert. Für den Fachmann besteht aufgrund der blo-
ßen Erwähnung von Gläsern als mögliche Füllstoffe kein Grund zu der Annah-
me, dass es sich dabei zumindest auch um Pulver von Silikatzementen oder
Ionomerzementen handeln soll, mit denen eine vernetzende Zementreaktion in
wässriger Umgebung herbeigeführt werden kann, zumal die Gegenwart von
Wasser auch in dieser Veröffentlichung in Zusammenhang mit den Füllstoffen
nicht erwähnt wird (vgl. Sachverständigengutachten, S. 86, Abs. 5, S. 87,
Abs. 1).
54
- 35 -
55
2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Urteils des
Bundespatentgerichts ergibt sich für den Fachmann nicht in naheliegender
Weise aus dem Stand der Technik (Art. 56 EPÜ).
56
Die Klägerin meint, dass selbst für den Fall, dass sich die Verwendung
von Gläsern in Form von Pulvern für Silikatzemente und Glasionomerzemente
zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents für den Fachmann nicht unmittelbar
aus der Lektüre der unter III 1 behandelten Entgegenhaltungen ergeben hätte,
der Einsatz dieser Glaspulver nahegelegen habe, weil dem Fachmann die
hiermit erzielbaren Eigenschaften von Dentalmassen etwa aus den Veröffentli-
chungen von Tveit/Gjerdet (aaO, Anlage D16), und von Swartz/Philips/Clark,
(aaO, Anlage D17), bekannt gewesen seien und er diese ohne weiteres auch
zum Einsatz in den Zusammensetzungen der genannten Entgegenhaltungen
unter Berücksichtigung der Auswahlregel des Merkmals d hätte bringen kön-
nen, um eine Masse mit guten Härtungseigenschaften unter Zementbildung und
Freisetzung von Fluoriden (Kariesprophylaxe) zu erhalten.
Der Ansicht der Klägerin kann nicht gefolgt werden. Den unter IV 1 be-
handelten Entgegenhaltungen konnte der Fachmann Composite-Materialien
entnehmen, die durch im Einzelnen modifizierte, aber wiederkehrende che-
misch ähnliche Stoffgruppen gekennzeichnet sind. Bei diesen Stoffgruppen
handelt es sich um ungesättigte polymerisierbare Monomere, Oligomere
und/oder Prepolymere, um Katalysatoren, Initiatoren, Stabilisatoren und Reakti-
onshemmstoffe zur Steuerung des Aushärtevorgangs und optional um organi-
sche oder anorganische Füllstoffe. Diese Gemische härten ohne Wasserbedarf
radikalisch aus, wobei es für die Reaktion der Induzierung durch einen Kataly-
sator bedarf (Sachverständigengutachten, S. 111 f.).
57
- 36 -
58
Derartige Composite-Materialien verfügen über positive, aber auch nega-
tive Produkteigenschaften. Während sie einerseits insbesondere dauerhaft,
hoch belastbar und kantenfest sind, sind sie andererseits vor allem im Hinblick
auf Gewebeirritationen, Toxizität und Haftung an der Zahnsubstanz nur einge-
schränkt verwendbar (Sachverständigengutachten, S. 23, Abs. 2, Streitpatent-
schrift, S. 2, Z. 36 ff., 52 ff.). Im Hinblick auf diese negativen Eigenschaften
kann zum Prioritätszeitpunkt zwar ein Bedürfnis zur Fortentwicklung der Com-
posite-Materialien als dentaler Füllstoff festgestellt werden. Ein Fachmann, der
sich die Aufgabe stellte, hier Abhilfe zu schaffen, wird auch an die Vorteile von
Dentalzementen gedacht haben, die zumindest teilweise komplementär zu den
negativen Eigenschaften der Composite-Materialien sind. So war dem Fach-
mann aufgrund seiner Fachkenntnisse bekannt, dass gerade Glasionomerze-
mente, welche die klassischen Zahnzemente seit Mitte der 80er Jahre fast voll-
ständig vom Dentalmarkt verdrängt hatten, über gute Eigenschaften hinsichtlich
Bioverträglichkeit, Beständigkeit im Mund und Haftung an der Zahnsubstanz
verfügen (Sachverständigengutachten, S. 24 f.). Von daher spricht viel dafür,
dass der Fachmann, der Composite-Materialien als dentalen Füllstoff verbes-
sern wollte, allgemein auch an die Möglichkeit einer Kombination von Composi-
te-Materialien mit Glasionomerzementen gedacht hat.
Einer solchen wünschenswerten Kombination stand aber die Schwierig-
keit entgegen, dass beide Stoffgruppen zum Prioritätszeitpunkt als nicht misch-
bar galten, weil es sich einerseits bei den Composite-Materialien um hydropho-
be Polymere und andererseits um wässrige Zementmischungen handelt (Sach-
verständigengutachten, S. 126, Abs. 1). Der Fachmann durfte sich von dieser
Vorstellung nicht abhalten lassen. Statt dessen musste er sich daran machen,
das Konzept einer Mischung zu entwickeln, die eine zweifache Reaktion er-
59
- 37 -
laubt, die - wenn man auch insoweit den Ausführungen des gerichtlichen Sach-
verständigen folgt - etwa so abläuft, dass zunächst die radikalische Polymerisa-
tion ohne Wasserbedarf stattfindet und danach das Zementpulver in wässriger
Umgebung zur Reaktion gebracht wird, so dass es möglich wird, einen Füllstoff
bereit zu stellen, der die vorteilhaften Eigenschaften von Composite-Materialien
mit denen von Zementen, insbesondere Glasiononomerzementen verbindet.
Hinzu kamen besondere Herausforderungen bei der praktischen Umsetzung
dieses Konzeptes. Bei der Anwendung musste sicher gestellt werden, dass
trotz der Polymerisation an den Polymerketten noch hinreichend Säuregruppen
mit Ionen abgebenden Füllstoffen in leicht zugänglicher Weise vorliegen, damit
auch die Reaktion mit den reaktiven Zementpulvern in wässriger Umgebung
erfolgen und die erwünschte Zementstruktur in der bereits gehärteten Kunst-
stoffmatrix entstehen kann (Sachverständigengutachten, S. 126). Um dies zu
erreichen bedurfte es einer sorgfältigen Abstimmung der beteiligten Komponen-
ten, was entsprechende Untersuchungen erforderlich machte (Sachverständi-
gengutachten, S. 122).
Die Entwicklung eines solchen Konzepts und das Auffinden eines aus-
führbaren Wegs zur Verwirklichung dieses Konzepts waren zudem dadurch er-
schwert, dass es weder in der wissenschaftlichen Literatur noch in der Praxis
Anregungen gab, Mischungen bereitzustellen, die zweiteilig (radikalisch und
ionisch) reagieren. Vielmehr wurde in den wissenschaftlichen Abhandlungen,
wie beispielsweise in dem jährlich im britischen "Journal of Dentistry" unter der
Überschrift "Dental Materials: Literature Review" veröffentlichten Übersichtsarti-
kel, streng zwischen polymerisierbaren Composite-Füllungsmaterialien auf der
einen und ionisch reagierenden Zementen auf der anderen Seite unterschie-
den, indem diese in getrennten Abschnitten behandelt wurden (Sachverständi-
gengutachten, S. 24, 18; vgl. auch Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Che-
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mistry, aaO, S. 256, r. Sp., Abs. 2, Anlage D 13, D 13a). Sich von dieser Kate-
gorisierung zu lösen und ein Konzept für die Mischung beider Stoffgruppen zu
entwickeln, um ein Füllmaterial zu erhalten, das die positiven Eigenschaften
beider Produkte in sich vereint, kann angesichts all dieser Umstände als erfin-
derisch gelten.
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 Satz 2 PatG i.V. mit
§§ 92, 97 ZPO.
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Scharen
Gröning
Berger
Grabinski
Hoffmann
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 15.02.2006 - 3 Ni 25/02 (EU) -