Urteil des BGH vom 10.07.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 47/13
vom
10. Juli 2013
BGHSt:
ja
BGHR:
ja
Veröffentlichung:
ja
StPO §§ 243 Abs. 4 Satz 1, 344 Abs. 2 Satz 2
1. Einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO bedarf es nicht, wenn überhaupt
keine oder nur solche Gespräche stattgefunden haben, die dem Regelungskon-
zept des Verständigungsgesetzes vorgelagert und von ihm nicht betroffen sind.
2. Die Verfahrensrüge, es sei rechtsfehlerhaft keine Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4
Satz 1 StPO erfolgt, setzt den Vortrag voraus, dass tatsächlich Gespräche im Sin-
ne dieser Vorschrift stattgefunden hatten und welchen Inhalt sie hatten.
BGH, Urteil vom 10. Juli 2013 - 2 StR 47/13 - LG Aachen
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
3. Juli 2013 in der Sitzung am 10. Juli 2013, an denen teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Prof. Dr. Schmitt,
Dr. Eschelbach,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Ott,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger in der Verhandlung,
Justizangestellte in der Verhandlung,
Justizangestellte bei der Verkündung
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-
gerichts Aachen vom 27. September 2012 mit den Fest-
stellungen aufgehoben im Fall II. 2 c der Urteilsgründe sowie im
Gesamtstrafenausspruch.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückver-
wiesen.
3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Miss-
brauchs von Kindern in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch von Kin-
dern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dagegen wendet
sich der Beschwerdeführer mit seiner auf die Sachrüge und auf Verfahrensrü-
gen gestützten Revision.
Das Rechtsmittel hat auf die Sachrüge hin den aus der Urteilsformel er-
sichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet.
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I.
Die Verfahrensrügen bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des
Generalbundesanwalts ohne Erfolg. Der näheren Erörterung bedarf lediglich die
Verfahrensrüge, das Landgericht habe gegen § 243 Abs. 4 StPO verstoßen.
1. Die Revision hat ausgeführt, der Vorsitzende habe entgegen § 243
Abs. 4 StPO weder zu Beginn der Hauptverhandlung noch zu einem späteren
Zeitpunkt mitgeteilt, ob und gegebenenfalls in welcher Form im Vorfeld der
Hauptverhandlung Verständigungsgespräche stattgefunden hätten. Zwar sei es
weder zu einer Verständigung nach § 257c StPO noch zu einer unzulässigen
"informellen Verständigung" gekommen. Dies schließe jedoch nicht aus, dass
ohne Wissen des Angeklagten darauf abzielende Gespräche stattgefunden hät-
ten. Hätte der Angeklagte den vom Gesetz vorgesehenen Hinweis erhalten,
hätte er sein Einlassungsverhalten entsprechend einrichten können. Das gelte
auch, wenn keine Gespräche stattgefunden haben sollten.
2. Die Rüge ist bereits deshalb unzulässig, weil die Revision keinen be-
stimmten Rechtsfehler behauptet:
a) Nach dem Wortlaut des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende
mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn
deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen
ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Dies bedeutet im Umkehrschluss,
dass eine Mitteilungspflicht nicht besteht, wenn keine auf eine Verständigung
hinzielende Gespräche stattgefunden haben (vgl. BGH, Beschluss vom
5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 = StV 2011, 72, 73 sowie Beschluss vom
20. Oktober 2010 - 1 StR 400/10 = StV 2011, 202, 203; Meyer-Goßner, StPO,
56. Aufl., § 243 Rn. 18 a; a.A. ohne nähere Begründung Becker in Löwe-
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Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 52 c und Mosbacher NZWiSt 2013, 201,
206).
Das erklärt sich auch aus dem Sinn und Zweck der Mitteilungs- und Do-
kumentationspflichten. Diese bilden einen Schwerpunkt des Verständigungsge-
setzes und sollen die zentrale Vorschrift des § 257c StPO flankieren und die
Transparenz der Verständigung sowie die Möglichkeit einer effektiven Kontrolle
durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittelgericht
gewährleisten (BT-Drucks. 16/12310 S. 8 f.). Erfasst werden dabei nicht nur der
formale Verständigungsakt selbst, sondern auch die auf eine Verständigung
abzielenden Vorgespräche. Die Gewährleistung einer "vollumfänglichen" Kon-
trolle verständigungsbasierter Urteile setzt umfassende Transparenz des Ver-
ständigungsgeschehens in der öffentlichen Hauptverhandlung voraus. Die Mit-
teilungs- und Dokumentationspflichten dienen der "Einhegung" der den zulässi-
gen Inhalt von Verständigungen beschränkenden Vorschriften (BVerfG NJW
2013, 1058 ff, 1064 Rn. 82 und 1066 Rn. 96). Wenn aber überhaupt keine auf
eine Verständigung abzielende Gespräche stattgefunden haben, ist das Rege-
lungskonzept des § 257c StPO nicht tangiert. Soweit die Gesetzesmaterialien
zur Änderung des § 78 Abs. 2 OWiG (BT-Drucks. 16/12310 S. 16) darauf hin-
deuten, § 243 Abs. 4 StPO habe die Pflicht statuieren sollen, auch eine
Nichterörterung mitzuteilen, hat dies im Gesetzestext letztlich keinen Ausdruck
gefunden. Entgegen Frister (in SK-StPO 4. Aufl., § 243 Rn. 43) geht der Senat
nicht davon aus, dass dies auf einem bloßen Redaktionsversehen des Gesetz-
gebers beruht.
Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts vom 19. März 2013 (aaO). Zwar führt das Bundesverfas-
sungsgericht - ohne auf den entgegenstehenden Wortlaut des § 243 Abs. 4
Satz 1 StPO einzugehen - aus, wenn zweifelsfrei feststehe, dass überhaupt
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keine Verständigungsgespräche stattgefunden haben, könne ausnahmsweise
(lediglich) ein Beruhen des Urteils auf dem Unterbleiben einer Mitteilung nach
§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ausgeschlossen werden (BVerfG aaO, S. 1067
Rn. 98; so auch in einem obiter dictum BGH, Beschluss vom 22. Mai 2013
- 4 StR 121/13).
Gleichzeitig betont das Bundesverfassungsgericht jedoch, dass die Mit-
teilungspflicht nur dann eingreift, wenn bei im Vorfeld oder neben der Hauptver-
handlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit
und die Umstände einer Verständigung im Raum standen (BVerfG aaO,
S. 1065 Rn. 85 unter Hinweis auf BT-Drucks. 16/12310 S. 12 und auf BGH, Be-
schluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10). Die Annahme des Bundesverfas-
sungsgerichts, beim Fehlen von Vorgesprächen entfalle das Beruhen des Ur-
teils auf dem Fehlen einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ist daher
einfachrechtlich nicht schlüssig, da nach dem eindeutigen Wortlaut der Vor-
schrift in diesem Fall bereits kein Rechtsfehler vorliegt.
Nach alledem bedarf es einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1
StPO nicht, wenn überhaupt keine oder nur solche Gespräche stattgefunden
haben, die dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert
und von ihm nicht betroffen sind; das "Ob" der Handlung steht unter dem Vor-
behalt des "Wenn". Soweit das Bundesverfassungsgericht den Begriff "Nega-
tivmitteilung" verwendet hat, bezieht sich dieser nur auf gescheiterte Gespräche
(BVerfG aaO, S. 1067 Rn. 98 unter Bezugnahme auf BGH, Beschluss vom
5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10).
b) Vor diesem Hintergrund muss ein Revisionsführer, der eine Verletzung
des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO rügen will, - gegebenenfalls nach Einholung von
Erkundigungen beim Instanzverteidiger (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 344 Rn. 22
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mwN) - bestimmt behaupten und konkret darlegen, in welchem Verfahrenssta-
dium, in welcher Form und mit welchem Inhalt Gespräche stattgefunden haben,
die auf eine Verständigung abzielten (vgl. BGHSt 56, 3). Denn das bloße Feh-
len einer Mitteilung reicht nach dem oben Ausgeführten nicht aus, um einen
- vom Revisionsführer darzulegenden - Rechtsfehler zu begründen. An einem
solchen Vortrag fehlt es vorliegend, was gemäß § 344 Abs. 2 StPO zur Unzu-
lässigkeit der Verfahrensrüge führt.
II.
Auf die Sachrüge hin war das Urteil in Fall II. 2 c der Urteilsgründe auf-
zuheben, weil das Landgericht seiner Prüfung eines Rücktritts vom Versuch des
schweren sexuellen Missbrauchs in diesem Fall einen unzutreffenden Maßstab
zugrunde gelegt hat.
1. Insoweit hat das Landgericht festgestellt, der Angeklagte habe die Ge-
schädigte aufgefordert, den Oralverkehr an ihm auszuüben. Dies habe sie ab-
gelehnt. Der Angeklagte habe sie ein weiteres Mal zum Oralverkehr aufgefor-
dert. Als sie dieses Ansinnen erneut zurückwies, habe er erkannt,
"dass ihm auf Grund der Weigerung der Zeugin L.
sowie mangels zur Verfügung stehender Möglichkeiten zur Ein-
flussnahme auf die Zeugin in seinem Sinne - etwa durch weiteres
Zureden und/oder Versprechungen zur Duldung des Oralver-
kehrs - sowie auf Grund der von ihm abgelehnten Anwendung von
Gewalt eine Vollendung nicht mehr möglich war" (UA S. 11).
Er habe daher von seinem Vorhaben abgelassen, habe masturbiert und
schließlich auf die Oberbekleidung des Mädchens ejakuliert.
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Das Landgericht hat den Angeklagten insoweit wegen sexuellen Miss-
brauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Missbrauch von
Kindern verurteilt. Einen Rücktritt vom Versuch der Qualifikation des § 176a
Abs. 2 Nr. 1 StGB hat es mit der Begründung abgelehnt, der Angeklagte habe
in der konkreten Situation keine Möglichkeit mehr gesehen, sein Ziel, den Oral-
verkehr durch das Kind an ihm ausüben zu lassen, noch zu erreichen. Dies be-
ruhe
"auf den geständigen, den Feststellungen entsprechenden Anga-
ben des Angeklagten, der insbesondere abgestritten hat, Gewalt
… angewandt zu haben oder … zu irgendeinem Zeitpunkt anwen-
den zu wollen" (UA S. 13).
2. Diese Würdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Der Angeklagte war im Fall II. 2 c der Urteilsgründe wegen sexueller Nötigung
unter Anwendung von Gewalt (§ 177 Abs. 1 Nr. 1) angeklagt. Dies konnte ihm
nach den Ausführungen des Landgerichts nicht nachgewiesen werden, denn
"dem Angeklagten, der jegliche Gewaltanwendung abgestritten hat, war seine
diesbezügliche Einlassung nicht zu widerlegen" (UA S. 16).
Die Begründung für einen Fehlschlag des Versuchs der Qualifikation
nach § 176a StGB ist insoweit rechtsfehlerhaft, als der Gesichtspunkt der Ge-
walt für diesen Tatbestand keine Rolle spielt; § 176a Abs. 1 Nr. 1 setzt ein Nöti-
gungsmittel nicht voraus. Die Ausführung, der Angeklagte habe eine Vollen-
dung nicht mehr für möglich gehalten, "insbesondere" weil er den Einsatz von
Gewalt ablehnte, ist daher fehlerhaft und zeigt, dass das Landgericht insoweit
von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist. Im Übrigen
wäre - vor dem Hintergrund der Ausführungen zur angeklagten sexuellen Nöti-
gung - zu erörtern gewesen, dass die Einlassung des Angeklagten, den Einsatz
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von Gewalt nicht in Erwägung gezogen zu haben, ersichtlich der Verteidigung
gegen den Vorwurf der Gewaltnötigung diente; in der Argumentation des Land-
gerichts wird diese Einlassung hingegen zum Hauptargument ("insbesondere")
gegen einen Rücktritt vom Qualifikationsversuch ohne Gewalt. Der Senat kann
auf Grundlage dieser Urteilsausführungen nicht ausschließen, dass der Ent-
scheidung insgesamt ein fehlerhafter Maßstab für die Frage zugrunde liegt, un-
ter welchen Voraussetzungen der Angeklagte hier freiwillig vom Versuch des
Oralverkehrs zurücktreten konnte.
Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Falls II. 2 c insgesamt. Damit
ist auch dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage entzogen.
Fischer
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Schmitt
Eschelbach
Ott
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