Urteil des BGH vom 06.12.2007

BGH (in dubio pro reo, stgb, vergewaltigung, strafzumessung, verletzung, hauptverhandlung, aufhebung, sicherungsverwahrung, stpo, strafe)

5 StR 478/07
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 6. Dezember 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Dezember 2007
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 8. Dezember 2006 nach § 349
Abs. 4 StPO
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte
der besonders schweren Vergewaltigung in Tateinheit
mit vorsätzlicher Körperverletzung und Diebstahl mit
Waffen sowie der Vergewaltigung in Tateinheit mit
vorsätzlicher Körperverletzung schuldig ist,
b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehö-
rigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO
als unbegründet verworfen.
3. Zu neuer Rechtsfolgenbestimmung und zur Entscheidung
über die Kosten des Rechtsmittels wird die Sache an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei
Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, sowie wegen
Diebstahls mit Waffen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und
sechs Monaten verurteilt und gegen ihn die Sicherungsverwahrung angeord-
net. Die Revision des Angeklagten hat den aus dem Tenor ersichtlichen Teil-
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erfolg und ist im Übrigen aus den Gründen der Antragsschrift des General-
bundesanwalts unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Im ersten Fallkomplex liegt Tateinheit vor (vgl. BGHR StGB § 52
Abs. 1 in dubio pro reo 3). Der Senat stellt den Schuldspruch entsprechend
um. Dies hat der Senat zum Anlass genommen, die Qualifikation der beson-
ders schweren Vergewaltigung wie geboten zu tenorieren.
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2. Die Strafzumessung des Landgerichts begegnet im Blick auf die
fehlende Berücksichtigung einer Verletzung der Rechte des Angeklagten aus
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durchgreifenden Bedenken.
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Hierzu ist festgestellt, dass wegen der 1998 und 2002 begangenen
Taten am 11. August 2003 Anklage erhoben worden ist, die Hauptverhand-
lung jedoch erst am 16. August 2005 begonnen hat. Der Angeklagte ist seit
dem 29. März 2003 ununterbrochen inhaftiert, wobei Untersuchungshaft
auch für das hiesige Verfahren und Strafhaft in anderer Sache unter Unter-
suchungshaftbedingungen (Überhaft) – bis zur Vollverbüßung, in deren Folge
ihm die Möglichkeit einheitlicher Gesamtstrafbildung nach § 55 StGB ent-
gangen ist – vollstreckt worden ist. Im Rahmen der Strafzumessung führt das
Landgericht aus, dass die durch den späten Beginn der Hauptverhandlung
eingetretene Verfahrensverzögerung strafmildernd zu berücksichtigen sei.
Damit ergeben sich bereits aus den Urteilsgründen gravierende An-
haltspunkte für eine vom Angeklagten nicht zu vertretende Verfahrensverzö-
gerung. Dies hat das Revisionsgericht bereits allein auf die Sachrüge hin zu
berücksichtigen. Darin, dass das Landgericht nicht erörtert hat, ob durch den
Zeitablauf von zwei Jahren zwischen Anklageerhebung und Beginn der
Hauptverhandlung eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung und da-
mit eine Verletzung des Rechts des Angeklagten aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1
MRK eingetreten ist, liegt ein sachlichrechtlich zu beanstandender Erörte-
rungsmangel (BGHSt 49, 342). Eine allgemeine strafmildernde Wirkung ge-
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nügt den Anforderungen an die Berücksichtigung einer sich aufdrängenden
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht. Dieser Mangel führt zur
Aufhebung der Einzelstrafen und des Gesamtstrafausspruchs mit den zuge-
hörigen Feststellungen.
Sollte eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung angenommen
werden – was angesichts der im Urteil dargelegten Umstände nahe liegt – so
bedarf es einer konkreten Feststellung von Art, Ausmaß und Ursache der
Verzögerung (BVerfG – Kammer – StV 1993, 352; BGHR StGB § 46 Abs. 2
Verfahrensverzögerung 7; vgl. auch EGMR EuGRZ 1983, 371). In einem
zweiten Schritt ist das Maß der zu gewährenden Kompensation zu bestim-
men. Nach der bisherigen Spruchpraxis aller Senate des Bundesgerichtshofs
hatte dies durch die Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne
Berücksichtigung der Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK angemesse-
nen Strafe zu geschehen (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzöge-
rung 7, 11 und 12; BGH NStZ 2003, 601). Die Frage, ob hieran in dieser
Form festzuhalten sein wird oder ob die Kompensation künftig durch Anre-
chung eines bestimmten Teils der Strafe als vollstreckt zu gewähren ist (vgl.
BGH – Vorlagebeschluss – NJW 2007, 3294 und Beschluss vom 25. Sep-
tember 2007 – 5 StR 116/01 und 475/02, zur Veröffentlichung in BGHSt be-
stimmt), liegt dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor.
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Der neue Tatrichter wird zudem bei der Strafzumessung bereits ohne
Berücksichtigung einer möglicherweise rechtsstaatswidrigen Verfahrensver-
zögerung stärker als bisher den Zeitablauf insbesondere seit Begehung der
ersten Tat in den Blick zu nehmen haben (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Ver-
fahrensverzögerung 13). In diesem Fall wird die Anwendung des § 21 StGB
mit sachverständiger Hilfe neu zu klären sein; die ablehnende Begründung
im angefochtenen Urteil ist bedenklich. Das konkret festgestellte Leistungs-
verhalten weist keine Besonderheiten auf, die im Hinblick auf eine erheblich
verminderte Steuerungsfähigkeit aussagekräftige Rückschlüsse zulassen
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(vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 35); zudem ist eine von der
Tat im Sommer 2002 abweichende Beurteilung nicht nachvollziehbar.
3. Die Aufhebung des Strafausspruchs zieht die Aufhebung der vom
Landgericht auf § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB gestützten Anordnung der Siche-
rungsverwahrung nach sich, da damit die formellen Voraussetzungen für die
Maßregel entfallen sind. Bei der Prüfung, ob die Sicherungsverwahrung er-
neut anzuordnen sein wird, wird eine aktualisierte Sachverständigenbeurtei-
lung heranzuziehen sein. Im Hinblick auf die Verurteilung vom 1. Juli 2003
sind auch die Anordnungsvoraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB in den
Blick zu nehmen.
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