Urteil des BGH vom 25.05.1999, 5 StR 555/99
BGH (bundesrepublik deutschland, ddr, stgb, absehen von bestrafung, untersuchungshaft, verurteilung, freiheitsberaubung, deutschland, staatsanwaltschaft, justiz)
- Entschieden
- 25.05.1999
- Schlagworte
- Bundesrepublik deutschland, Ddr, Stgb, Absehen von bestrafung, Untersuchungshaft, Verurteilung, Freiheitsberaubung, Deutschland, Staatsanwaltschaft, Justiz
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
5 StR 555/99
URTEIL
vom 8. März 2000 in der Strafsache
gegen
wegen Rechtsbeugung u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 7. und 8. März 2000, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richter Basdorf,
Richter Nack,
Richter Dr. Raum
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt E ,
Rechtsanwältin S
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
in der Sitzung vom 8. März 2000 für Recht erkannt:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 25. Mai 1999 aufgehoben, soweit die
Angeklagte im Fall II 1 des Urteils verurteilt worden ist. Insoweit wird die Angeklagte freigesprochen.
Die weitergehende Revision wird verworfen. Die Angeklagte
ist wegen Rechtsbeugung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstrekkung zur Bewährung ausgesetzt ist.
Soweit Freispruch erfolgt ist, fallen die Kosten des Verfahrens und die der Angeklagten entstandenen notwendigen
Auslagen der Staatskasse zur Last. Im übrigen hat die Angeklagte die Kosten der Revision zu tragen.
– Von Rechts wegen –
G r ü n d e
I.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Rechtsbeugung in
drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit – in einem Fall zweifacher – Freiheitsberaubung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten
unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Revision der Ange-
klagten führt zu ihrer Freisprechung in einem Fall. Im übrigen hat das
Rechtsmittel keinen Erfolg.
II.
Die Angeklagte war in den Jahren 1982 bis 1988 in der politischen Abteilung der Leipziger Staatsanwaltschaft als Staatsanwältin tätig.
Folgende Fälle sind Gegenstand ihrer Verurteilung:
1. Im Januar 1984 beantragte sie den Erlaß eines Haftbefehls
gegen eine Leipzigerin, die seit 1976 ihre Ausreise aus der DDR erstrebte
und deren zwischen 1979 und 1983 geführte Korrespondenz mit staatlichen
Stellen der Bundesrepublik Deutschland über ihren Ausreiseantrag und daraus resultierende Beeinträchtigungen anläßlich einer Wohnungsdurchsuchung in Abschriften gefunden worden war. Tatvorwurf war der Verdacht
mehrfacher „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme” (§ 219 Abs. 2 Nr. 1
StGB-DDR) durch die genannte Korrespondenz, als Haftgrund wurde Wiederholungsgefahr (§ 122 Abs. 1 Nr. 3 StPO-DDR) angenommen. Der Haftbefehl erging antragsgemäß. Die Verfolgte wurde später wegen des unveränderten Vorwurfs zu einem Jahr und zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Sie war bis zu ihrer Entlassung in die Bundesrepublik Deutschland
mehr als neun Monate inhaftiert.
2. Im Oktober 1985 beantragte die Angeklagte gegen ein ausreisewilliges Leipziger Ehepaar den Erlaß eines Haftbefehls wegen „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme”. Anlaß war ein gemeinsames Schreiben der
Eheleute an das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen über
den Ausreiseantrag unter weiterer Mitteilung des Umstandes, daß der Ehemann 1960 nach vierjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
anläßlich eines Besuchs seiner kranken Mutter wieder in der DDR festgehalten worden war. Die Angeklagte erhob gegen die Verfolgten, die antrags-
gemäß in Untersuchungshaft genommen worden waren, entsprechend dem
Haftbefehlsvorwurf auch Anklage mit dem Antrag auf Haftfortdauer. Die
Verfolgten wurden später anklagegemäß zu Freiheitsstrafen von einem Jahr
und vier bzw. zwei Monaten verurteilt. Sie waren jeweils mehr als sieben
Monate inhaftiert.
3. Im Mai 1987 forderte ein ausreisewilliger Krankenpfleger aus
Döbeln am Grenzübergang Invalidenstraße in Berlin (Ost) unter Vorlage
seines DDR-Personalausweises die Ausreise nach Berlin (West). Er wurde
deshalb wegen des Verdachts der „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit”
(§ 214 Abs. 1 StGB-DDR) in Untersuchungshaft genommen. Die Angeklagte
klagte ihn einen Monat später wegen dieses Vorwurfs an und beantragte
Haftfortdauer. Der Verfolgte wurde dann – entsprechend dem Antrag der
Angeklagten als Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft – zu einem Jahr
und zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Er war insgesamt mindestens
mehr als drei Monate inhaftiert.
III.
Die Verfahrensrügen sind offensichtlich unbegründet. Mit der
Sachrüge hat die Revision den erwähnten Teilerfolg.
1. Im ersten Fall war die Inhaftierung der Verfolgten objektiv zwar
grob menschenrechtswidrig. Jedoch war das ihr angelastete wiederholte
Verhalten aus der maßgeblichen Sicht eines DDR-Justizangehörigen zur
Tatzeit immerhin von einigem Gewicht. Die Revision verweist zutreffend
darauf, daß der Angeklagten in diesem Fall lediglich der im frühen Verfahrensstadium gestellte Haftbefehlsantrag anzulasten ist. Bei der Überprüfung
der Voraussetzungen der Untersuchungshaft im ersten Zugriff nach dem
Ergebnis der Durchsuchung mußte noch nicht unbedingt ein ganz offensichtlicher Grenz- und Bagatellfall angenommen werden, so daß hier – un-
geachtet bereits längerer Tätigkeit der Angeklagten in der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft – der Rückschluß auf den erforderlichen direkten Rechtsbeugungsvorsatz noch nicht zu ziehen war. Der Senat kann insoweit auf Freispruch durcherkennen.
2. Die beiden weiteren Schuldsprüche sind hingegen rechtsfehlerfrei.
a) Die Annahme von Rechtsbeugung in Form überharter, rechtsstaatswidriger Sanktionierung durch Verantwortlichkeit für die Anordnung
von Untersuchungshaft als Staatsanwältin entsprechen in diesen Fällen
fraglos der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGHSt 41,
247, 249 f., 254, 261 f., 273 ff.; BGHR StGB § 336 – DDR-Recht 29 =
NStZ-RR 1998, 171 m.w.N. für schlichte Paßvorlage; BGHR StGB § 336 –
DDR-Recht 9 und 14 sowie Willnow JR 1997, 265, 269 f. für Westkontakte
Ausreisewilliger). Die von der Angeklagten angenommenen Gründe für die
offensichtlich menschenrechtswidrige Anordnung von Untersuchungshaft
mußten sich in beiden Fällen als offensichtlich haltlos aufdrängen.
b) Mit Recht hat der Tatrichter angenommen, daß der nach § 244
StGB-DDR erforderliche direkte Rechtsbeugungsvorsatz in Fällen eklatanter
Willkürakte, wie sie hier gegeben sind, nicht in Frage stehen kann. Auch
dies entspricht der grundlegenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
zu Fällen der hier vorliegenden Art (vgl. nur BGHSt 41, 247, 276; 41, 317,
336 ff.), die auch das Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet hat (vgl.
nur Beschlüsse der 2. Kammer des 2. Senats des BVerfG vom 7. April 1998
– 2 BvR 2560/95 –, NJW 1998, 2585; vom 12. Mai 1998 – 2 BvR 61/96 -,
NJW 1998, 2587; und vom 9. Juni 1998 – 2 BvR 1727 und 1867/97 –). Weniger krasse Fälle, in denen dies angezweifelt werden könnte (vgl. BGH
NStZ-RR 1999, 361, 362), liegen insoweit – anders als im ersten Fall – ersichtlich nicht vor.
3. Die Einzelfreiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten im
zweiten und von einem Jahr und einem Monat im dritten Fall sind rechtsfehlerfrei und werden auch von der Freisprechung im ersten Fall nicht berührt.
Auch der Gesamtstrafausspruch ist mithin aufrechtzuerhalten.
a) Der angenommene Schuldumfang ist nicht zu beanstanden.
Auch im ersten Fall (II 2) ist der Angeklagten die gesamte ihrem jeweils ersten Haftantrag nachfolgende, später nicht maßgeblich abweichend begründete Inhaftierung der Verfolgten als Freiheitsberaubung zuzurechnen.
b) Ebenso entspricht die Anwendung des als milder erachteten
Strafzumessungsrechts der Bundesrepublik Deutschland in jeder Beziehung
den Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den
Grundsätzen strikter Alternativität (vgl. BGHSt 41, 247, 277; BGHR StGB § 2
Abs. 3 – DDR-StGB 11; § 336 – Staatsanwalt 6). Selbst in vergleichbar gelagerten Fällen mit nur einem einzigen Schuldspruch wegen Rechtsbeugung
in Tateinheit mit Freiheitsberaubung hat der Senat eine entsprechende Anwendung des § 62 StGB-DDR mit der Folge der Möglichkeit einer Verurteilung auf Bewährung wegen Rechtsbeugung in Anwendung von DDR-Recht
nicht in Erwägung gezogen oder auch nur für erörterungsbedürftig erachtet
(vgl. BGH NStZ-RR 1998, 171). Hiervon abzugehen, besteht – auch im Blick
auf eine vom Tatrichter offenbar für vertretbar angesehene etwas mildere
Strafzumessungspraxis, die den Senat nicht überzeugt – kein Anlaß. Die
Verteidigung behauptet, in der DDR-Praxis seien in Einzelfällen faktisch
Freiheitsstrafen trotz fehlender Alternativmöglichkeit einer Verurteilung auf
Bewährung sogar ohne vorangegangene Untersuchungshaft in Anwendung
des – funktionell indes nur mit § 57 StGB vergleichbaren – § 45 StGB-DDR
ausgesetzt worden (vgl. demgegenüber den vom DDR-Ministerium der Justiz
herausgegebenen Kommentar zum StGB-DDR, 5. Aufl. 1987, § 45 Anm. 3).
Selbst wenn dies zutreffen würde, änderte dies nichts an der eindeutigen, für
§ 2 Abs. 3 StGB, Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB maßgeblichen Rechtslage
ausgeschlossener Verurteilung auf Bewährung wegen Rechtsbeugung
(§ 244 StGB-DDR) nach dem insoweit strengeren Strafrecht der DDR.
c) Die besonders gravierenden Strafmilderungsgründe, insbesondere den mittlerweile eingetretenen erheblichen Zeitablauf und die naheliegende Folge eines (vorübergehenden) Verlusts der Zulassung der Angeklagten zur Rechtsanwaltschaft hat der Tatrichter – in ersichtlich erschöpfendem Maße – berücksichtigt. Danach kam eine mildere Einzel- und Gesamt-strafbemessung nicht in Betracht; es ist auch auszuschließen, daß die
beiden für den zweiten und dritten Fall verhängten Einzelstrafen ohne den
Schuldspruch im ersten Fall noch milder hätten bemessen werden können.
Der Umstand, daß die Angeklagte nunmehr fast zehn Jahre lang
– anders als viele ihrer vergleichbar eingesetzten früheren DDR-Kollegen –
die Chance wahrnehmen konnte, als Rechtsanwältin zu wirken, kann keine
Veranlassung für eine noch mildere Beurteilung geben. Hierin lägen eine
unvertretbare Rechtsanwendung und eine augenfällig zu niedrige Sanktionierung, gerade auch im Vergleich mit den gegen andere Angehörige der
politischen Justiz der DDR bereits ausgesprochenen Strafen.
In Fällen der vorliegenden Art sind die Sanktionen mit Rücksicht
auf die mit den überwundenen Tatzeitgegebenheiten in vielfältiger Weise
zusammenhängenden Besonderheiten weitestgehend ohnehin im untersten
Bereich des Vertretbaren bemessen worden. Daraus folgt allerdings ein nur
noch geringer Spielraum für eine noch mildere Beurteilung bei zusätzlicher
Berücksichtigung eines auch nach Inkrafttreten des Einigungsvertrages verstrichenen erheblichen Zeitablaufs. Mit Rücksicht auf die Anfangsschwierigkeiten der Justiz in den neuen Bundesländern hat der Gesetzgeber gerade
für Fälle der hier vorliegenden Art einen weiteren Aufschub für den Eintritt
der Verfolgungsverjährung durch die Verjährungsgesetze geschaffen (vgl.
nur Tröndle/Fischer, StGB 49. Aufl. vor § 78 Rdn. 16. f. m.w.N.). Namentlich
vor diesem Hintergrund besteht für eine noch mildere Sanktionierung oder
gar ein Absehen von Bestrafung keine rechtliche Möglichkeit. Zudem kann
dem Zeitablauf häufig noch – wie auch vorliegend bereits erfolgt – durch
Reduzierung der abzuurteilenden Einzelfälle in angemessen großzügiger
Anwendung des § 154 StPO Rechnung getragen werden.
Zum Widerruf der Zulassung der Beschwerdeführerin zur Rechtsanwaltschaft merkt der Senat lediglich noch folgendes an: Der zwingende
Widerrufsgrund aus § 14 Abs. 2 Nr. 2 BRAO i.V.m. § 45 Abs. 1 StGB knüpft
an eine Verurteilung wegen eines Verbrechens an. Eine solche ist vorliegend allein deshalb erfolgt, weil gegen die Angeklagte die wegen der Strafaussetzungsmöglichkeit als milder gewertete Verbrechensvorschrift des
§ 336 StGB zur Anwendung kam (vgl. demgegenüber die abweichende,
§ 244 StGB-DDR nicht zwingend erfassende Verbrechensdefinition in § 1
Abs. 3 Satz 2 StGB-DDR; für Freiheitsberaubung – § 239 Abs. 3
[Abs. 2 a.F.] StGB im Vergleich zu § 131 StGB-DDR – gilt gleiches). Ob bei
dieser besonderen Sachlage jener spezielle Widerrufsgrund überhaupt Anwendung finden dürfte, erscheint daher zweifelhaft. Hierüber hat indes der
Senat nicht zu entscheiden.
Harms Häger Basdorf
Nack Raum