Urteil des BGH vom 15.12.2005

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 135/03
vom
15. Dezember 2005
in dem Gesamtvollstreckungsverfahren
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
GesO § 14
Die nach Ablauf der Anmeldefrist eingehende Anmeldung einer auf eine Ent-
scheidung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gestützten For-
derung auf Rückzahlung einer Beihilfe ist auch dann noch anzuerkennen, wenn
die Rückzahlung aus anderen Gründen schon innerhalb der Anmeldefrist hätte
verlangt werden können.
BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2005 - IX ZB 135/03 - LG Meiningen
AG
Meiningen
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Gero Fischer, die Richter Dr. Ganter, Vill, die Richterin Lohmann und den
Richter Dr. Detlev Fischer
am 15. Dezember 2005
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer
des Landgerichts Meiningen vom 8. Mai 2003 wird auf Kosten des
Beteiligten zu 1 zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Verfahrens der Rechtsbeschwerde wird
auf 93.016,78 Euro festgesetzt.
Gründe:
I.
Mit Beschluß vom 1. Juli 1997 wurde das Gesamtvollstreckungsverfah-
ren über das Vermögen der B. GmbH (fortan:
Schuldnerin) eröffnet und eine Frist zur Anmeldung von Forderungen bis zum
25. August 1997 bestimmt. Am 8. Mai 2002 widerrief die T.
einen Zuwendungsbescheid vom 10. Dezember 1993 gemäß § 49 ThürVwVfG,
weil der vorgeschriebene Verwendungsnachweis trotz zweifacher Fristverlänge-
rung nicht beigebracht worden sei, und meldete die Forderung auf Rückzahlung
des Zuwendungsbetrages in Höhe von 1.533.875,64 Euro nebst Zinsen zur Ta-
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belle an. Am 19. Juni 2002 entschied die Kommission der Europäischen
Gemeinschaften (Kommission), dass die Beihilfe rechtswidrig gewesen sei und
zurückgefordert werden müsse. Diese Entscheidung wurde nicht angefochten.
Die T. berief sich dem Gesamtvollstreckungsverwalter ge-
genüber nunmehr auch auf diese Entscheidung, die eine Rücknahme des Zu-
wendungsbescheides nach § 48 ThürVwVfG rechtfertige. Der Gesamtvollstre-
ckungsverwalter lehnte die Aufnahme der Forderung in das Forderungsver-
zeichnis ab.
Das Insolvenzgericht hat den Antrag des beteiligten Landes auf Zustim-
mung zur Aufnahme in das Verzeichnis zurückgewiesen, weil ein Rückforde-
rungsbescheid schon bei Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens hätte
erlassen werden können, die verspätete Anmeldung also nicht unverschuldet
gewesen sei. Auf die sofortige Beschwerde des beteiligten Landes hat das
Landgericht diesen Beschluss aufgehoben und der Aufnahme der Forderung in
das Verzeichnis zugestimmt. Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbe-
schwerde des Verwalters.
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II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs.1 Nr. 2 ZPO statthaft (vgl.
BGH, Beschl. v. 15. Januar 2004 - IX ZB 62/03, ZIP 2004, 1072) und auch im
Übrigen zulässig. Sie bleibt jedoch ohne Erfolg.
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1. Das Landgericht hat ausgeführt, die Anmeldung sei verspätet gewe-
sen. Nach den Bestimmungen des Zuwendungsbescheides hätten erste Raten
bereits vor Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens zurückgezahlt wer-
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den müssen; mit dem Antrag auf Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfah-
rens sei auch der Restbetrag zur Rückzahlung fällig geworden. Auf die Frage,
ob die Verspätung entschuldigt sei, komme es jedoch nicht an, weil die Vor-
schrift des § 14 Abs. 1 GesO aufgrund vorrangigen Gemeinschaftsrechts nicht
anzuwenden sei. Die Rückforderung der europarechtlich rechtswidrigen Beihilfe
habe zwar nach den Bestimmungen des nationalen Rechts zu erfolgen; diese
dürften die Rückforderung - wie der Gerichtshof der Europäischen Gemein-
schaften zu § 48 Abs. 4 VwVfG bereits entschieden habe - nicht praktisch un-
möglich machen.
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung stand. Die
Vorschrift des § 14 Abs. 1 GesO steht im vorliegenden Fall der Anmeldung der
Forderung nicht entgegen.
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a) Die Kommission hat der Bundesrepublik Deutschland in der Entschei-
dung vom 19. Juni 2002 aufgeben, die der Schuldnerin unrechtmäßig gewährte
Beihilfe zurückzufordern (Art. 87, 88 Abs. 2 EGV, Art. 14 Abs. 1 und 3 VO (EG)
Nr. 659/1999 vom 22. März 1999, ABl. Nr. L 83/1, S. 1 ff). Die Rückforderung
hat unverzüglich und nach den Verfahren des deutschen Rechts zu erfolgen,
sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche Vollstreckung der Kommissions-
entscheidung ermöglicht wird. Befindet sich das Unternehmen in der Insolvenz,
genügt es, dass der Staat seine Rückerstattungsforderung zur Tabelle anmel-
det (EuGH, Urt. v. 29. April 2004 - C-277/00, Slg. 2004, I-03925 Rn. 85 -
Deutschland/Kommission "SMI"). Auch im vorliegenden Fall musste der Rück-
forderungsanspruch folglich zur Tabelle angemeldet werden. Die Vorschrift des
§ 14 GesO ist nicht anwendbar, soweit dadurch die gemeinschaftsrechtlich ge-
botene Rückforderung der rechtswidrigen Beihilfe praktisch unmöglich würde.
Das zieht die Rechtsbeschwerde im Grundsatz auch nicht in Zweifel. Im Übri-
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gen ist eine Anmeldung, die erst aufgrund des Bescheids der Kommission er-
folgte, nicht schuldhaft verspätet.
b) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist der vorliegende Fall
nicht deshalb anders zu entscheiden, weil kein auf die Kommissionsentschei-
dung und § 48 ThürVwVfG gestützter Rückforderungsbescheid ergangen ist.
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aa) Der Erlass eines weiteren Rückforderungsbescheides war aus
Rechtsgründen nicht möglich. Die Schuldnerin war nur zur einmaligen Rückzah-
lung der Beihilfe verpflichtet. Eine entsprechende Regelung war am 8. Mai 2002
bereits getroffen worden.
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bb) Die Kommissionsentscheidung kann nunmehr jedoch zur Begrün-
dung des bereits ergangenen Rückforderungsbescheides herangezogen wer-
den. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde handelt es sich nicht um ei-
ne unzulässige Umdeutung dieses Bescheides (§ 47 ThürVwVfG). § 47
ThürVwVfG setzt einen rechtswidrigen Verwaltungsakt voraus. Die in ihm ge-
troffene Regelung wird durch eine andere, rechtmäßige Regelung ersetzt (vgl.
BVerwGE 80, 96, 97). Der Bescheid vom 8. Mai 2002 war hingegen insgesamt
rechtmäßig, sowohl hinsichtlich der Regelung als auch hinsichtlich der Begrün-
dung. Ob ein Bescheid materiell rechtmäßig ist, richtet sich nach dem Recht,
das geeignet ist, seinen Spruch zu rechfertigen. Er kann auch aus anderen
Rechtsgründen, als sie die Verwaltungsbehörde angegeben hat, rechtmäßig
sein (BVerwG, aaO S. 98). Der Spruch der Kommission ist ebenso geeignet,
den Rückforderungsbescheid zu begründen, wie die Begründung, welche die
Verwaltungsbehörde dem Rückforderungsbescheid beigefügt hat.
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cc) Der Fall, dass eine Kommissionsentscheidung nicht durch einen ei-
genständigen Verwaltungsakt umgesetzt, sondern ergänzend zur Begründung
eines bereits ergangenen bestandskräftigen Verwaltungsaktes herangezogen
werden kann, liegt bei wertender Betrachtung nicht anders als der Fall einer
selbstständigen Umsetzung durch Verwaltungsakt. Nach Vorstellung der
Rechtsbeschwerde hätte zunächst der Bescheid vom 8. Mai 2002 aufgehoben
und sodann ein neuer, auf die Kommissionsentscheidung gestützter Rückforde-
rungsbescheid erlassen werden müssen; allenfalls dann hätte die Forderung in
das Forderungsverzeichnis aufgenommen werden können. §
49 Abs.
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ThürVwVfG erlaubt ein derartiges Verfahren jedoch nicht. Nach § 49 Abs. 1
ThürVwVfG kann ein rechtmäßiger Verwaltungsakt nicht aufgehoben werden,
wenn eine entsprechende Regelung sofort wieder getroffen werden müsste.
Aufgrund der - nicht angegriffenen - Kommissionsentscheidung steht fest, dass
die Beihilfe rechtswidrig war und aufgrund vorrangigen Gemeinschaftsrechts
zurückgefordert werden muss.
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c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde steht derzeit auch nicht
fest, dass die Rückforderung aus tatsächlichen Gründen völlig unmöglich ist.
Feststellungen dazu, welche Quote auf nicht bevorrechtigte Forderungen entfal-
len wird, hat das Landgericht nicht getroffen. Vor der Bestätigung des Vertei-
lungsvorschlags (§ 18 GesO) sind insoweit auch nur Prognosen möglich. Eine
Rückverweisung an das Beschwerdegericht, um Feststellungen zur Höhe der
Quote nachzuholen, kommt deshalb nicht in Betracht.
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3. Eine Vorlage gemäß Art. 234 EGV an den Europäischen Gerichtshof
ist nicht angezeigt. Eine Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag be-
steht dann nicht, wenn das letztinstanzliche nationale Gericht in dem bei ihm
schwebenden Verfahren feststellt, dass die betreffende entscheidungserhebli-
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che gemeinschaftsrechtliche Frage bereits Gegenstand der Auslegung durch
den Europäischen Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des Ge-
meinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel
keinerlei Raum bleibt (EuGH, Urt. v. 6. Oktober 1982, Rs. 283/81 - C.I.L.F.I.T. -
Slg. 1982, 3415, 3430 Rn. 16; vgl. BGHZ 109, 29, 35; BGH, Urt. v. 24. Oktober
2003 - V ZR 48/03, WM 2004, 693, 695; Urt. v. 28. März 2001 - VIII ZR 72/00,
WM 2001, 1264, 1265 f.; BVerfG NJW 1988, 1456). So liegt der Fall hier. Der
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat bereits entschieden, dass
unzulässige Beihilfen auch dann noch zurückgefordert werden müssen, wenn
eine nach nationalem Recht im Interesse der Rechtssicherheit dafür bestehen-
de Ausschlussfrist verstrichen ist (z.B. Urt. v. 20. März 1997 - Rs. C-24/95,
Land Rheinland-Pfalz / Alcan Deutschland GmbH, NJW 1998, 47).
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Von einer weiteren Begründung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet
wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung
des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen
(§ 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO).
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Dr.
Gero
Fischer
Dr.
Ganter
Vill
Lohmann
Dr.
Detlev
Fischer
Vorinstanzen:
AG Meiningen, Entscheidung vom 11.11.2002 - N 280/97 -
LG Meiningen, Entscheidung vom 08.05.2003 - 4 T 362/02 -