Urteil des BGH vom 18.01.2006

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VIII ZR 114/05 Verkündet
am:
18. Januar 2006
Kirchgeßner
Justizhauptsekretärin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 174
Zu den Anforderungen an den Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in einem Emp-
fangsbekenntnis eines Rechtsanwalts enthaltenen Angaben.
BGH, Urteil vom 18. Januar 2006 - VIII ZR 114/05 - LG Nürnberg-Fürth
AG
Hersbruck
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 18. Januar 2006 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Deppert und die Rich-
ter Dr. Leimert, Wiechers und Dr. Frellesen sowie die Richterin Hermanns
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil der 7. Zivilkammer des
Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 29. April 2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an die 1. Zivilkammer
des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Mietverhältnis und die
Wirksamkeit einer Kündigung desselben. Das Amtsgericht hat auf die Widerkla-
ge des Beklagten die Kläger zur Räumung und Herausgabe ihrer seit dem
1. November 2000 von dem Beklagten angemieteten Wohnung in P.
, N. Straße , verurteilt. Die auf die Feststellung der Rechtmä-
ßigkeit einer Mietminderung gerichtete Klage hat das Amtsgericht abgewiesen.
Das Empfangsbekenntnis des Prozessbevollmächtigten der Kläger über die
Zustellung des Urteils trägt das Datum des 6. August 2004. Die Kläger haben
gegen das Urteil mit am 3. September 2004 beim Berufungsgericht eingegan-
genen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese am 8. Oktober 2004 per Telefax
begründet. Nach einem Hinweis des Berufungsgerichts, dass die Berufungsbe-
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gründung nach Ablauf der Frist am 6. Oktober 2004 eingegangen ist, haben die
Kläger geltend gemacht:
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Die Zustellung des Urteils sei tatsächlich erst am 8. August 2004 erfolgt,
ihr Prozessbevollmächtigter sei am Nachmittag des 6. August 2004, einem Frei-
tag, und am darauf folgenden Samstag nicht in seiner Kanzlei gewesen. Wegen
seines am 11. August 2004 bevorstehenden Jahresurlaubs sei er erst am Sonn-
tag, dem 8. August 2004, in seinem Büro gewesen, um die eingegangene Post
durchzuschauen. Dabei habe er erstmals das zugestellte Urteil zur Kenntnis
genommen. Er habe dann für seine Sekretärin auf Band diktiert, das Emp-
fangsbekenntnis mit dem Datum "8. August 2004" zur Unterschrift vorzuberei-
ten. Die Sekretärin habe das Empfangsbekenntnis am 10. August 2004 ausge-
füllt und entsprechend der allgemeinen Büroanweisung das Zustellungsdatum
handschriftlich im Postbuch sowie auf der Urteilsausfertigung vermerkt. Die
handschriftlichen Eintragungen der Sekretärin hätten ihrem Prozessbevollmäch-
tigten zur Fristberechnung gedient, mit der dessen Sekretärin nicht betraut ge-
wesen sei. Sowohl auf der Urteilsausfertigung als auch im Postbuch befinde
sich der handschriftliche Eintrag "EBK 08.08.04". Die Sekretärin könne sich an
den konkreten Vorgang zwar nicht mehr erinnern, gehe jedoch aufgrund ihrer
übereinstimmenden Eintragungen im Postbuch und auf der Urteilsausfertigung
davon aus, dass der schreibmaschinenschriftliche Eintrag auf dem Empfangs-
bekenntnis auf einem Tippfehler beruhe.
Das Landgericht hat die Berufung - nach Vernehmung des Rechtsan-
walts R. und der Anwaltsgehilfin H. als Zeugen - als unzulässig
verworfen, den Antrag der Kläger auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die
Revision zugelassen. Hiergegen richtet sich die Revision der Kläger mit ihrem
Begehren, das Urteil des Landgerichts aufzuheben und die Sache an das Beru-
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fungsgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, ihnen Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu ge-
währen.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
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Es sei davon überzeugt, dass das Urteil des Amtsgerichts dem Kläger-
vertreter bereits am 6. August 2004 zugestellt worden sei und die Frist dem-
nach am 6. Oktober 2004 abgelaufen sei. Dies folge aus dem Empfangsbe-
kenntnis. Es handele sich hierbei zwar nicht um eine öffentliche Urkunde, je-
doch komme ihm wegen der Bedeutung für den Zivilprozess dieselbe Beweis-
kraft zu wie einer Zustellungsurkunde. Indessen sei der Gegenbeweis durch die
betroffene Partei möglich. Ein solcher vollständiger Gegenbeweis sei den Klä-
gern aber nicht gelungen. Der Zeuge Rechtsanwalt R. habe zwar bekundet,
dass er das Urteil erst am Sonntag zu Gesicht bekommen habe. Welches Da-
tum er auf Tonband diktiert habe und am darauf folgenden Dienstag durch sei-
ne Mitarbeiterin notiert worden sei, habe er aber nicht mit Bestimmtheit aussa-
gen können. Auch habe der Zeuge gemutmaßt, dass die Urteilsausfertigung
bereits am Freitag aus dem Gerichtsfach abgeholt worden sei. Es widerspreche
allgemeiner Lebenserfahrung, dass ein Rechtsanwalt sich an einem Sonntag in
seine Kanzlei begebe und dort die an den Vortagen eingegangene Post studie-
re. Die Aussage der Zeugin H. sei insoweit unergiebig, als sie über
allgemeine Bekundungen über ihre Arbeitsweise hinaus zum konkreten Fall
keine Angaben mehr habe machen können. Eine Zustellung bereits am
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6. August 2004 sei auch dem aus der Akte ersichtlichen Geschäftsgang nach
nachvollziehbar. Denn dem Erledigungsvermerk des Amtsgerichts Hersbruck
vom 29. Juli 2004 zufolge sei die Urteilsausfertigung beiden Parteivertretern ins
Fach gelegt worden. Auch durch ein weiteres aktenmäßig festzustellendes Indiz
verliere die Aussage des Zeugen R. an Glaubhaftigkeit. Er habe bekundet,
dass seine Mitarbeiterin das Tonbanddiktat am darauf folgenden Dienstag, also
dem 10. August 2004, vollzogen und die Urkunde ausgefüllt habe. Anschlie-
ßend habe er es unterzeichnet. Indessen sei das vollzogene Empfangsbe-
kenntnis bereits an jenem Tag, dem 10. August 2004, wieder beim Amtsgericht
Hersbruck eingegangen. Wenn das Empfangsbekenntnis auf dem Postwege
zurückgesandt worden sei, so erscheine dieses Datum angesichts der regel-
mäßigen Postlaufzeit von mindestens einem Tag nicht schlüssig. Einen Einwurf
in den Gerichtsbriefkasten noch am 10. August 2004 hätten die Kläger jedoch
nicht vorgetragen.
Gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist sei den Klägern
auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Kammer
sei der Auffassung, dass die Fristversäumung nicht ohne Verschulden der Klä-
ger zustande gekommen sei.
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II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Das an-
gefochtene Urteil kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung
nicht aufrechterhalten werden. Das Urteil ist deshalb aufzuheben, und die Sa-
che ist an das Berufungsgericht zur weiteren Aufklärung zurückzuverweisen
(vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 1976 - III ZR 22/75, NJW 1976, 1940 unter II 6
b).
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1. Allerdings hat der zweitinstanzliche Prozessbevollmächtigte der Klä-
ger, Rechtsanwalt R. , die Zustellung des Urteils auf einem Empfangsbe-
kenntnis nach § 174 Abs. 1 und 4 ZPO bescheinigt, das das Datum 6. August
2004 trägt, so dass danach die Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 Satz 1
ZPO) nicht eingehalten wäre. Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis ist
dann als bewirkt anzusehen, wenn der Rechtsanwalt das ihm zugestellte
Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen
sich gelten zu lassen, und dies auch durch Unterzeichnung des Empfangsbe-
kenntnisses beurkundet. Zustellungsdatum ist also der Tag, an dem der
Rechtsanwalt als Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schrift-
stücks Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegengenommen hat (BGH,
Beschluss vom 27. Mai 2003 - VI ZB 77/02, NJW 2003, 2460 unter II 2 zu
§ 212 a ZPO a.F.). Dies wird vom Berufungsgericht nicht verkannt, und es geht
mit Recht davon aus, dass ein derartiges Empfangsbekenntnis grundsätzlich
Beweis nicht nur für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks
als zugestellt, sondern auch für den Zeitpunkt der Entgegennahme durch den
Unterzeichner und damit der Zustellung erbringt (vgl. BGH, Urteil vom 24. April
2001 - VI ZR 258/00, NJW 2001, 2722 unter II 1 und 2).
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2. Das Berufungsgericht erkennt auch zutreffend, dass der Gegenbeweis
der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben zulässig ist.
Dieser setzt voraus, dass die Beweiswirkung des § 174 ZPO vollständig ent-
kräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Emp-
fangsbekenntnisses richtig sein können; hingegen ist dieser Gegenbeweis nicht
schon dann geführt, wenn lediglich die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die
Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. April
2001 aaO, unter II 2).
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3. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung ist jedoch
nicht überzeugend.
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Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat eindeutig und mehrfach
durch eidesstattliche Versicherung und bei seiner Vernehmung als Zeuge vor
dem Berufungsgericht bekundet, er habe das Urteil erstmals am 8. August 2004
zur Kenntnis genommen und sich am Freitag, dem 6. August 2004, überhaupt
nicht mit eingehender Post befasst. Soweit das Berufungsgericht meint, auf-
grund von Indizien verliere die Aussage des Zeugen R. an Glaubhaftigkeit,
kann dem nicht gefolgt werden.
a) Die Ansicht des Berufungsgerichts, es widerspreche allgemeiner Le-
benserfahrung, dass ein Rechtsanwalt sich an einem Sonntag in seine Kanzlei
begebe und dort die an den Vortagen eingegangene Post studiere, ist nicht
nachvollziehbar. Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass gerade selbstän-
dig tätige Rechtsanwälte oftmals Sonntage nutzen, um zuvor liegen gebliebene
Arbeiten zu erledigen. Dies gilt im besonderen Maße für Wochenenden kurz vor
einem anstehenden Urlaub - wie im vorliegenden Fall - oder vor besonderen
Feiertagen, wie etwa Weihnachten oder Ostern. Wie die Revision zutreffend
ausführt, liegt der Auffassung des Berufungsgerichts ersichtlich ein unzutreffen-
des Bild anwaltlicher Tätigkeit zugrunde.
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b) Ein untaugliches Indiz für eine geringe Glaubhaftigkeit der Aussage
des Zeugen R. ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch der
Erledigungsvermerk vom 29. Juli 2004, demzufolge die Urteilsausfertigung bei-
den Parteienvertretern ins Fach gelegt worden sei. Zu Recht weist die Revision
darauf hin, dass die Tatsache, wann den Parteienvertretern die Urteilsausferti-
gung in ihr Gerichtsfach gelegt worden ist, für die Beurteilung des Zeitpunkts
der Zustellung im Sinne des § 174 ZPO im vorliegenden Fall völlig irrelevant ist.
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Das Einlegen der Urteilsausfertigung ins Gerichtsfach am 29. Juli 2004 spricht
genauso wenig für oder gegen die erforderliche Entgegennahme mit Emp-
fangsbereitschaft durch Rechtsanwalt R. am 8. August 2004 wie es für oder
gegen eine solche Entgegennahme bereits am 6. August 2004 spricht. Im Übri-
gen ist, worauf die Revision zu Recht hinweist, die Zustellung an den Prozess-
bevollmächtigten des Beklagten laut dessen Empfangsbekenntnis weitaus spä-
ter, nämlich erst am 13. August 2004 erfolgt, obwohl auch dieser Zustellung der
Erledigungsvermerk des Amtsgerichts vom 29. Juli 2004 zugrunde liegt.
c) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verliert die Aussage
des Zeugen R. auch nicht deshalb an Glaubhaftigkeit, weil er dargetan hat,
seine Sekretärin habe das Tonbanddiktat am Dienstag, den 10. August 2004
vollzogen und er habe das ausgefüllte Empfangsbekenntnis anschließend un-
terzeichnet. Auch wenn das unterschriebene Empfangsbekenntnis am selben
Tag wieder beim Amtsgericht eingegangen ist, steht dies der Richtigkeit der
Aussage des Zeugen nicht entgegen. Während das Berufungsgericht, ohne
hierfür nähere Anhaltspunkte zu haben, von einer Versendung auf dem Post-
weg ausgegangen ist, haben die Kläger durch eine im Revisionsverfahren vor-
gelegte eidesstattliche Versicherung ihres Prozessbevollmächtigten glaubhaft
gemacht, dass dessen Angestellte H. das Empfangsbekenntnis am
10. August 2004 beim Amtsgericht abgegeben hat.
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4. Der Senat verweist die Sache an das Berufungsgericht zurück. Zwar
hat das Revisionsgericht selbständig zu würdigen, ob die von Amts wegen zu
prüfenden Voraussetzungen der Zulässigkeit der Berufung vorliegen; erforderli-
chenfalls kann es weitere Ermittlungen erheben. Im Streitfall hat der Senat je-
doch von einer eigenen Beweiserhebung Abstand genommen. Da es einer er-
neuten Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen R. sowie
dessen Glaubwürdigkeit bedarf, erschien es vielmehr sachdienlich, dem Beru-
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fungsgericht die weitere Sachaufklärung zu übertragen. Der Senat hat dabei
von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
Dr. Deppert
Dr. Leimert
Wiechers
Dr. Frellesen
Hermanns
Vorinstanzen:
AG Hersbruck, Entscheidung vom 29.07.2004 - 2 C 2061/03 -
LG Nürnberg-Fürth, Entscheidung vom 29.04.2005 - 7 S 8873/04 -