Urteil des BGH vom 11.02.2004

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X ZR 35/08 Verkündet
am:
14. Oktober 2008
Potsch
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte) Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 5
Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden zur Auslegung
von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung
für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbe-
förderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur
Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. Nr. L 46, S. 1) folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Kann ein technischer Defekt, auf den eine Annullierung zurück-
geht, ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne des Art. 5
Abs. 3 sein?
2. Falls ja: Schließt der Begriff des außergewöhnlichen Umstands
als technischen Defekt auch solche Mängel ein, die die Lufttüch-
tigkeit des Flugzeugs oder die sichere Durchführung des Flugs
beeinträchtigen?
3. Hätte das ausführende Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren
Maßnahmen getroffen, wenn es das für das betroffene Flugzeug
geltende Wartungs- und Instandhaltungsprogramm des Herstel-
- 2 -
lers sowie Sicherheitsnormen und Auflagen der zuständigen
Behörden oder Hersteller eingehalten hat oder sich der Fehler
auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn es dieses Pro-
gramm oder die Anweisung eingehalten bzw. beachtet hätte?
4. Falls Frage 3 bejaht wird: Ist dies ausreichend, um das Luft-
fahrtunternehmen von der Verpflichtung zur Leistung von Aus-
gleichszahlungen zu befreien oder ist weitergehend der Nach-
weis zu verlangen, dass auch die Annullierung, das heißt die
Außerbetriebsetzung des betroffenen Flugzeugs und die Strei-
chung des Flugs wegen Fehlens einer Ersatzmaschine bei Er-
greifen aller zumutbaren Maßnahmen nicht vermieden worden
wäre?
BGH, Beschl. v. 14. Oktober 2008 - X ZR 35/08 - LG Berlin
AG
Wedding
- 3 -
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Ver-
handlung vom 14. Oktober 2008 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Melullis,
den Richter Keukenschrijver, die Richterin Mühlens und die Richter
Dr. Bergmann und Gröning
beschlossen:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden
zur Auslegung von Art.
5 Abs.
3 der Verordnung (EG)
Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Aus-
gleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der
Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung
von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG)
Nr. 295/91 (ABl. Nr. L 46, S. 1) folgende Fragen zur Vorabent-
scheidung vorgelegt:
1. Kann ein technischer Defekt, auf den eine Annullierung zu-
rückgeht, ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne des
Art. 5 Abs. 3 sein?
2. Falls ja: Schließt der Begriff des außergewöhnlichen Um-
stands als technischen Defekt auch solche Mängel ein, die
die Lufttüchtigkeit des Flugzeugs oder die sichere Durchfüh-
rung des Flugs beeinträchtigen?
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3. Hätte das ausführende Luftfahrtunternehmen alle zumutba-
ren Maßnahmen getroffen, wenn es das für das betroffene
Flugzeug geltende Wartungs- und Instandhaltungspro-
gramm des Herstellers sowie Sicherheitsnormen und Aufla-
gen der zuständigen Behörden oder Hersteller eingehalten
hat oder sich der Fehler auch dann nicht hätte vermeiden
lassen, wenn es dieses Programm oder die Anweisung ein-
gehalten bzw. beachtet hätte?
4. Falls Frage 3 bejaht wird: Ist dies ausreichend, um das Luft-
fahrtunternehmen von der Verpflichtung zur Leistung von
Ausgleichszahlungen zu befreien oder ist weitergehend der
Nachweis zu verlangen, dass auch die Annullierung, das
heißt die Außerbetriebsetzung des betroffenen Flugzeugs
und die Streichung des Flugs wegen Fehlens einer Ersatz-
maschine bei Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen nicht
vermieden worden wäre?
Gründe:
I. Die Kläger machen gegen das beklagte Luftfahrtunternehmen Ansprü-
che aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und
des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstüt-
zungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullie-
rung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung
(EWG) Nr. 295/91 - ABl. Nr. L 46, S. 1 - (kurz: Verordnung) geltend.
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Die Kläger buchten bei der Beklagten unter anderem einen Flug für den
17. April 2005 von Florenz über München nach Berlin. Der Abflug war für
15:05 Uhr vorgesehen. Der Abflug wurde zunächst verschoben und schließlich
wegen eines defekten Sensors annulliert. Wegen des Defekts ließ sich das
Fahrwerk des Flugzeugs nicht einfahren. Zehn Flugstunden zuvor, am 15. April
2005, war die letzte Wartung bei 8.708 Flugstunden erfolgt. Diese Wartung er-
folgte innerhalb eines 400-Flugstunden-Intervalls, in dem das Fahrwerk zu war-
ten ist. Alle 4.000 Flugstunden sind die Sensoren im Weg einer Sichtkontrolle
zu überprüfen. Bei der Wartung am 15. April ergab die Sichtkontrolle des Sen-
sors keine Beanstandungen.
2
Die Kläger wurden auf einen Flug nach Frankfurt umgebucht, dessen
Abflug um 18:25 Uhr erfolgen sollte. Der Abflug verzögerte sich jedoch um eine
halbe Stunde, so dass die Kläger in Frankfurt ihren Anschlussflug nach Berlin
nicht mehr erreichten. Die Kläger nahmen einen Ersatzflug nach Hannover und
fuhren von dort aus mit einem Mietwagen nach Berlin, wo sie nicht wie geplant
um 18:05 Uhr, sondern um 2:30 Uhr ankamen.
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Mit ihrer Klage verlangen die Kläger eine Ausgleichszahlung gemäß
Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a der Verordnung in Höhe
von jeweils 250 EUR nebst Zinsen.
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Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt und sich auf den
Haftungsausschluss gemäß Art. 5 Abs. 3 der Verordnung berufen. Nach ihrer
Auffassung ist der hier aufgetretene Defekt ein außergewöhnlicher Umstand im
Sinne dieser Vorschrift, nämlich ein Sicherheitsrisiko und unerwarteter Flugsi-
cherheitsmangel. Hierzu hat sie behauptet, der Defekt habe auch durch sorgfäl-
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tige und regelmäßige Wartung nicht vermieden werden können. Die hersteller-
seits vorgeschriebene Wartung der eingesetzten Maschine sei regelmäßig er-
folgt.
Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Be-
klagten hat das Landgericht nach Vernehmung eines Zeugen die Klage abge-
wiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihren Zahlungsan-
spruch weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
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II. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, zwar sei der von den Klägern
gebuchte Flug annulliert worden. Die Beklagte sei jedoch gemäß Art. 5 Abs. 3
der Verordnung nicht zur Ausgleichszahlung verpflichtet. Ein Defekt des für das
Einfahren des Fahrwerks benötigten Sensors stelle einen außergewöhnlichen
Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung dar. Die Beklagte habe
auch nachgewiesen, dass sie alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um
den Eintritt des Defekts zu verhindern. Sie habe den ihr obliegenden Beweis
erbracht, dass die vom Hersteller vorgeschriebene Wartung des Fahrwerks
regelmäßig erfolgt sei. Soweit die zehn Flugstunden zuvor durchgeführte Sicht-
kontrolle des Sensors keine Beanstandungen ergeben habe, sei auch weder
vorgetragen noch ersichtlich, dass kürzere Wartungsintervalle als vorgeschrie-
ben oder intensivere Inspektionen geeignet gewesen wären, den aufgetretenen
Defekt zu verhindern. Insoweit habe der Zeuge bekundet, bereits der Pilot führe
vor Abflug einen Check durch, der schon als Wartung anzusehen sei. Es sei
jedoch zweifelhaft, ob weitergehende Inspektionen noch als zumutbare Maß-
nahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung anzusehen wären.
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Die Beklagte sei auch nicht auf das Vorhalten einer Ersatzmaschine für
den Fall des Auftretens eines technischen Defekts zu verweisen. Wenn auch
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möglicherweise am Heimatflughafen der jeweiligen Fluggesellschaft eine Er-
satzmaschine zum Einsatz kommen könne, sei dies auf anderen Flughäfen
nicht der Fall. Insbesondere sei das Vorhalten von Ersatzmaschinen an diver-
sen Flughäfen bereits aus Kostengründen nicht zumutbar.
Der Defekt eines Sensors sei auch ein außergewöhnlicher Umstand im
Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung. Zwar fielen die Sensorik und das
Fahrwerk eines Flugzeugs in den Kernbereich des vom Betreiber zu gewähr-
leistenden Betriebszustandes. Es sei jedoch nicht ersichtlich, dass Sensoren
trotz ordnungsgemäßer Wartung regelmäßig oder jedenfalls häufig versagten
oder es sich aus anderen Gründen um einen gewöhnlichen Defekt handele,
z.B. wegen Anfälligkeit der Komponente oder wegen Verschleißes. Schließlich
seien in Erwägungsgrund 14 der Verordnung ausdrücklich auch Streiks und mit
der Durchführung des betreffenden Flugs nicht zu vereinbarende Wetterbedin-
gungen als Beispiele außergewöhnlicher Umstände genannt, obwohl Streiks
sowie extremer Schneefall, Starkregen mit der Folge überfluteter Start- und
Landebahnen oder Orkane durchaus häufiger vorkämen.
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III. Die Voraussetzungen für eine Haftung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c
der Verordnung sind an sich erfüllt. Eine Haftung muss jedoch dann entfallen,
wenn die Ausnahmeregelung des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung eingreift. Diese
Regelung könnte dahin zu verstehen sein, dass die Haftung entfällt, wenn die
Beklagte den Verpflichtungen, die sich in diesem Zusammenhang für sie erge-
ben hätten, nachgekommen ist oder deren Nichterfüllung sich auf die Annullie-
rung nicht ausgewirkt hätte. Insoweit hängt der Erfolg der Revision von der
Auslegung des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung ab. Dabei ist die richtige Anwen-
dung des Gemeinschaftsrechts nicht so offenkundig, dass für vernünftige Zwei-
fel kein Raum bliebe (vgl. EuGH, Rechtssache C-283/81, Slg. 1982, 3415, NJW
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1983, 1257, 1258 - CILFIT). Das Revisionsverfahren ist deshalb auszusetzen
und gemäß Art. 234 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europä-
ischen Gemeinschaften zu den im Beschlusstenor gestellten Fragen einzuho-
len.
1. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts
ist der von den Klägern gebuchte Flug von Florenz nach München wegen eines
defekten Sensors am Fahrwerk des Flugzeugs im Sinne des Art. 2 Buchst. l der
Verordnung annulliert worden. Im Fall der Annullierung eines Flugs räumt Art. 5
Abs. 1 Buchst. c der Verordnung neben weiteren dort genannten Vorausset-
zungen, die hier nicht einschlägig sind, den betroffenen Fluggästen einen An-
spruch auf Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 ein. Nach Art. 5 Abs. 3 der Ver-
ordnung ist das ausführende Flugunternehmen nicht zur Leistung der Aus-
gleichszahlungen verpflichtet, wenn es nachweist, dass die Annullierung auf
außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten ver-
meiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
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2. Die Beklagte kann ihrer Haftung mithin nur entgehen, wenn techni-
sche Defekte, die zu einer Annullierung eines Flugs führen, außergewöhnliche
Umstände nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung darstellen oder aber ein techni-
scher Defekt der hier konkret vorliegenden Art als tauglicher Entlastungsgrund
in Betracht kommt und wenn die Beklagte bei Ergreifen aller zumutbaren Maß-
nahmen entweder den technischen Mangel in Form eines defekten Sensors
oder die darauf beruhende Annullierung nicht hätte vermeiden können.
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a) Die Verordnung erwähnt technische Defekte als außergewöhnlichen
Umstand nicht ausdrücklich. Erwägungsgrund 14 nennt als Beispiele für "au-
ßergewöhnliche Umstände" insbesondere politische Instabilität, mit der Durch-
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führung des betreffenden Flugs nicht zu vereinbarende Wetterbedingungen,
Sicherheitsrisiken, unerwartete Flugsicherheitsmängel und den Betrieb eines
ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigende Streiks. In Erwägungs-
grund 15 wird als weiteres Beispiel außergewöhnlicher Umstände eine Ent-
scheidung des Flugverkehrsmanagement zu einem einzelnen Flugzeug an ei-
nem bestimmten Tag genannt, die zur Folge hat, dass es zu Verspätungen
oder Annullierungen kommt. Mit dieser Aufzählung nennt die Verordnung ledig-
lich Beispiele; sie soll ersichtlich nicht abschließend sein, wie sich schon aus
dem Zusatz "insbesondere" ergibt.
aa) Für die Auslegung wenig ergiebig erscheint der Hinweis in Erwä-
gungsgrund 14 auf das Übereinkommen von Montreal. Nach dessen Art. 19
haftet der Luftfrachtführer für Verspätungsschäden, wenn ihm nicht der Entlas-
tungsbeweis gelingt. Ein technischer Defekt kann dort zum Ausschluss der Haf-
tung des Luftfrachtführers führen, falls dieser sich entlasten kann (vgl. m.w.N.
Schmid, in: Giemulla/Schmid, Montrealer Übereinkommen, Art.
19 MÜ
Rdn. 49 ff.). Der Wortlaut der Verweisung in Erwägungsgrund 14 dürfte es aber
nahe legen, dass hier nur die Möglichkeit des Entlastungsbeweises an sich
übernommen werden sollte, ohne dass damit gleichzeitig eine Aussage ver-
bunden werden sollte, in welchen Fällen, etwa beim Vorliegen technischer
Mängel, der Entlastungsbeweis eröffnet sein soll.
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bb) Gegen eine Auslegung, nach der technische Defekte von vornherein
als möglicher Entlastungsgrund ausscheiden (vgl. AG Bremen NZV 2007, 527,
528), könnte sprechen, dass die Regelung in Art. 5 Abs. 3 der Verordnung leer
liefe, wenn nur solche Umstände zu einer Entlastung führen könnten, die von
außen auf die Durchführung eines Flugs einwirken, weil insoweit dem Luftfahrt-
unternehmen keine Möglichkeit verbliebe, zumutbare Maßnahmen zur Vermei-
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dung solcher Umstände zu treffen, wie etwa in den Fällen politischer Instabilität
oder mit der Durchführung des betreffenden Flugs nicht zu vereinbarenden
Wetterbedingungen (vgl. Makiol, Anm. zu AG Köln ZLW 2007, 335, 336 f.). In
diesem Zusammenhang ließe sich auch anführen, dass die ursprünglich im
Entwurf der Verordnung vorgesehene "höhere Gewalt" im Lauf der Arbeiten
"aus Gründen der rechtlichen Klarheit" in "außergewöhnliche Umstände" abge-
ändert wurde (Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt - EG -
Nr. 27/2003 v. 18.3.2003 - ABl. C 125 E v. 27.5.2003, S. 63, 70 erster Spiegel-
strich).
cc) Stellt man auf die in Erwägungsgrund 14 genannten unerwarteten
Flugsicherheitsmängel ab, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass auch tech-
nische Mängel eine Entlastung des Luftfahrtunternehmens rechtfertigen können
(vgl. AG Köln RRa 2006, 275, 276).
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(1) Die Verordnung definiert die Begriffe "Flugsicherheit" und "Flugsi-
cherheitsmängel" selbst nicht. Ihr Inhalt und ihre Reichweite sind daher vor
dem Hintergrund der hier zu entscheidenden Fragen unklar.
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So werden einerseits unter den Begriff der "Flugsicherheit" alle diejeni-
gen Maßnahmen gefasst, die im Notfall ergriffen werden müssen, damit sich
Passagiere sicher an Bord aufhalten und sicher aus dem Flugzeug evakuiert
werden können. Dazu gehöre das richtige Öffnen der Flugzeugtüren mit Auslö-
sung der Notrutschen, das Evakuieren bei schlechter Sicht durch Rauch, die
Bekämpfung von Brandherden an Bord während eines Flugs oder Notverfahren
bei Druckverlust in der Kabine (Schmid, NJW 2006, 1841, 1844 f.; Führich,
MDR Sonderheft 7/2007, S. 7). Andererseits wird der Begriff "Flugsicherheits-
mängel" auf die Flugüberwachung bezogen. Flugsicherheitsmängel sollen da-
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- 11 -
her dann vorliegen, wenn etwa der Luftraum unvorhersehbar überlastet sei
(Tonner, in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss,
Kap. 13a Rdn. 56). Nach anderer Auffassung soll der Begriff die Sicherheit im
Luftraum, also die Abwehr äußerer Gefahren im Luftverkehr betreffen (Gaedt-
ke, Anm. zu AG Bremen NZV 2007, 527, 529).
(2) Ein technischer Defekt könnte danach einen unerwarteten Flugsi-
cherheitsmangel darstellen, wenn er die Lufttüchtigkeit des Luftfahrzeugs be-
einträchtigt und diese wesentlicher Bestandteil der Flugsicherheit ist (vgl.
Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston v. 27.9.2007 - Rechtssache
C-396/06 Kramme/SAS). Hierfür könnte sprechen, dass die Lufttüchtigkeit
grundlegende Anforderung (dort Art. 5) der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2002 zur Festlegung
gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europä-
ischen Agentur für Flugsicherheit ist, deren Hauptziel gemäß Art. 2 Abs. 1 der
Verordnung die Schaffung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen
Niveaus der zivilen Flugsicherheit in Europa ist.
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Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass jeder einzelne der in Er-
wägungsgrund 14 genannten außergewöhnlichen Umstände einer sicheren
Durchführung des Flugs entgegenstehe, und daraus gefolgert, dass zu den
"Flugsicherheitsmängeln" alle Mängel, insbesondere auch technische Mängel
zu zählen seien, die sich negativ auf die sichere Durchführung des Flugs aus-
wirken könnten (Müller-Rostin, NZV 2007, 221, 224 f.; Makiol, Anm. zu AG Köln
ZLW 2007, 336; vgl. auch Newcastle-upon-Tyne County Court, Urt. v.
30.12.2005, RRa 2006, 280). Wolle man die hohe Sicherheit des Luftverkehrs
erhalten, müsse weiterhin dem Luftfahrtunternehmen das Recht zugestanden
werden, Flüge, die ohne Einbußen an Sicherheit nicht durchgeführt werden
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könnten, zu streichen, ohne das Unternehmen den Sanktionen der Verordnung
zu unterwerfen (Müller-Rostin, NZV 2007, 221, 225).
(3) Wäre davon auszugehen, dass ein technischer Defekt, der die Luft-
tüchtigkeit beeinträchtigt, auch ein Flugsicherheitsmangel im Sinne des Erwä-
gungsgrunds 14 sein kann, stellte sich die weitergehende Frage, wann dieser
"unerwartet" ist. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass es
sich trotz Einhaltung der Wartungsintervalle nicht verhindern lasse, dass ein
Einzelteil vor der nächsten fälligen Wartung defekt werde, etwa wegen vorzeiti-
ger Materialermüdung oder übermäßiger Beanspruchung. Flugzeuge seien be-
sonders komplexe technische Geräte, bei denen flug- und sicherheitsrelevante
Bauteile von plötzlichen und unvorhersehbaren technischen Defekten betroffen
sein könnten. Soweit die vorgeschriebenen Wartungsintervalle eingehalten
worden seien, habe das ausführende Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren
Maßnahmen zur Vermeidung getroffen. Jeder technische Mangel, der der si-
cheren Durchführung des Flugs entgegenstehe, solle daher das Luftfahrtunter-
nehmen entlasten können, sofern er trotz regelmäßiger Wartung ein unerwarte-
ter Mangel sei (Müller-Rostin, NZV 2007, 221, 224 f.; vgl. auch AG Köln, Urt. v.
31.7.2007 - 118 C 547/06, juris; Urt. v. 17.1.2007 - 118 C 473/06, juris; LG
Köln, Urt. v. 29.4.2008 - 11 S 176/07; AG Frankfurt am Main, Urt. v. 2.3.2007
- 31 C 3337/06; AG Köln RRa 2006, 275, 276 = ZLW 2007, 335 f.; zustimmend
Makiol, ZLW 2007, 336 f.).
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dd) Dem lässt sich entgegenhalten, dass technische Probleme mit dem
Betrieb von Luftfahrzeugen untrennbar verbunden sind und dementsprechend
häufig vorkommen. Es steht also zu erwarten, dass sie trotz Einhaltung des für
das Flugzeug geltenden Instandhaltungs- und Wartungsprogramms immer auf-
treten können. Dass sich allgemein derartige Probleme nicht verhindern lassen,
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kann daher nicht als außergewöhnlich angesehen werden. Sie sind im betrieb-
lichen Ablauf eines Flugunternehmens normal. Da mit ihnen zu rechnen ist,
könnte dies dagegen sprechen, dass diese Probleme generell unerwartete
Flugsicherheitsmängel sein können (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin
Sharpston v. 27.9.2007 - Rechtssache C-396/06 Kramme/SAS). Vielmehr ließe
sich daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass die vorgesehenen Wartungsin-
tervalle nicht ausreichend sind.
ee) In diesem Zusammenhang sind auch die in den Erwägungsgrün-
den 1 und 4 genannten Ziele des Verbraucherschutzes und der Stärkung der
Fluggastrechte zu berücksichtigen. Wie sich aus Erwägungsgrund 3 ergibt, soll-
te zwar mit der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ein grundlegender Schutz für
Fluggäste geschaffen und dabei berücksichtigt werden, dass die Zahl der ge-
gen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste immer noch zu hoch sei. Dasselbe
gelte für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen. Aus die-
sem Grund sollten Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor
der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten, ihnen zumut-
bare anderweitige Beförderungen anzubieten oder ihnen einen Ausgleich zu
leisten, und so Ärgernisse und Unannehmlichkeiten, die Fluggästen aus der
Annullierung von Flügen entstehen, verringert werden (Erwägungsgrund 12).
Art. 5 Abs. 3 der Verordnung, der somit eine Ausnahmeregelung gegenüber
dem grundsätzlichen Anspruch auf Ausgleichszahlung enthält, könnte deshalb
eng auszulegen sein (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston v.
27.9.2007 - Rechtssache C-396/06 Kramme/SAS).
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ff) Es könnte daher auch eine Auslegung in Betracht kommen, wonach
technische Probleme nur dann als außergewöhnliche Umstände im Sinne des
Art. 5 Abs. 3 der Verordnung anzusehen sind, wenn sie ihrer Art nach weder
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typischerweise von Zeit zu Zeit bei sämtlichen Luftfahrzeugen oder einem be-
stimmten Luftfahrzeugtyp auftreten noch das fragliche Luftfahrzeug zuvor be-
einträchtigt haben (Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston v.
27.9.2007 - Rechtssache C-396/06 Kramme/SAS). Damit müssten solche
technischen Defekte als außergewöhnliche Umstände ausscheiden, die trotz
regelmäßiger Wartung häufiger auftreten oder sonst als gewöhnlich anzusehen
sind.
b) Ist es nicht generell ausgeschlossen, dass technische Defekte einen
außergewöhnlichen Umstand darstellen können, bleibt zu klären, welche zu-
mutbaren Maßnahmen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen zur Vermeidung
des technischen Defekts hätte ergreifen können.
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Hier könnten die für das betroffene Flugzeug geltenden Wartungs- und
Instandhaltungsprogramme sowie Sicherheitsnormen und Auflagen der zu-
ständigen Behörden oder Hersteller Bedeutung erlangen. Regelungen zur In-
standhaltung von Flugzeugen im Interesse der Lufttüchtigkeit finden sich in der
Verordnung (EG) Nr. 2042/2003 der Kommission vom 20. November 2003 über
die Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen und lufttechni-
schen Erzeugnissen, Teilen und Ausrüstungen und die Erteilung von Genehmi-
gungen für Organisationen und Personen, die diese Tätigkeit ausführen (ABl.
L 315, S. 1). Beispielsweise muss ein Flugzeug gemäß einem Programm in-
stand gehalten werden, das von der zuständigen Luftaufsichtsbehörde geneh-
migt ist und das Angaben unter anderem zur Häufigkeit der auszuführenden
Instandhaltungsarbeiten enthält (M.A. 302, Anhang
I der Verordnung
Nr. 2042/2003). Sonstige Programme und Anweisungen der zuständigen Be-
hörden und Hersteller können weitere Hinweise darauf geben, wann bereits
Probleme aufgetreten sind, die im Interesse der Lufttüchtigkeit behoben werden
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müssen und die daher bei Wartungen zu berücksichtigen sind. Es könnte ge-
nügen, dass die Beachtung dieser Vorgaben den Rahmen dessen bestimmt,
was von dem Luftfahrtunternehmen zumutbarerweise verlangt werden kann.
c) Nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung bezieht sich der
Relativsatz "die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen" auf "außerge-
wöhnliche Umstände", nicht aber auf "Annullierung". Daraus ließe sich folgern,
dass es nur darauf ankommt, ob sich die außergewöhnlichen Umstände (etwa
der technische Defekt) auch bei Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen nicht
hätten vermeiden lassen. Ob auch die Annullierung im Sinne einer Außerbe-
triebsetzung des betroffenen Flugzeugs und die Streichung des Flugs wegen
Fehlens einer Ersatzmaschine bei Ergreifen aller zumutbarer Maßnahmen
vermieden worden wären, wäre demnach unerheblich (a.A. Schlussanträge der
Generalanwältin Sharpston v. 27.9.2007 - Rechtssache C-396/06 Kramme/
SAS). Ist Anknüpfungspunkt für eine Entlastung des ausführenden Luftfahrtun-
ternehmens allein der bei zumutbaren Maßnahmen nicht vermeidbare techni-
sche Defekt, kann es dann nicht darauf ankommen, ob durch Vorhaltung eines
Ersatzflugs oder die Möglichkeit einer Subcharter auch die Nichtdurchführung
des Flugs hätte vermieden werden können und ob solche Maßnahmen zumut-
bar gewesen wären (vgl. AG Köln, Urt. v. 31.7.2007 - 118 C 547/06, juris; Urt.
v. 17.1.2007 - 118 C 473/06, juris). Für diese Auslegung könnte neben dem
Wortlaut die insoweit abweichende Regelung in Art. 19 des Übereinkommens
von Montreal sprechen, die ausdrücklich das Ergreifen zumutbarer Maßnah-
men zur Vermeidung des Schadens, und nicht nur der Verspätung, verlangt.
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IV. Dass bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung die aufge-
zeigten Zweifel bestehen, zeigen auch die Vorabentscheidungsersuchen ande-
rer Gerichte, die gegenwärtig beim Gerichtshof der Europäischen Gemein-
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- 16 -
schaften anhängig sind (Rechtssache C-432/07 Böck u. Lepuschitz/Air France
SA und Rechtssache C-549/07 Wallentin-Hermann/Alitalia, jeweils auf Vorlage
des Handelsgerichts Wien).
Melullis Keukenschrijver
Mühlens
Bergmann
Gröning
Vorinstanzen:
AG Berlin-Wedding, Entscheidung vom 29.03.2007 - 2 C 222/06 -
LG Berlin, Entscheidung vom 07.02.2008 - 57 S 26/07 -