Urteil des BGH vom 13.10.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 288/08
Verkündet
am:
13. Oktober 2009
Böhringer-Mangold
Justizamtsinspektorin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 826 (E) (Gg) (H)
a) Nimmt die Bundesagentur für Arbeit den Geschäftsführer einer in Insolvenz
geratenen GmbH wegen verspäteter Insolvenzantragstellung auf Ersatz von
ihr geleisteten Insolvenzgeldes aus § 826 BGB in Anspruch, so stellt sich der
Einwand des Beklagten, Insolvenzgeld hätte auch bei rechtzeitiger Antrag-
stellung gezahlt werden müssen, als qualifiziertes Bestreiten der Schadens-
entstehung dar, für die die Bundesagentur darlegungs- und beweispflichtig ist
(Bestätigung des Senatsurteils BGHZ 175, 58).
b) Dies gilt auch für den Fall, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens man-
gels Masse abgelehnt worden ist.
BGH, Urteil vom 13. Oktober 2009 - VI ZR 288/08 - OLG Koblenz
LG Trier
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 13. Oktober 2009 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll
und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. November 2008 wird auf ihre
Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die klagende Agentur für Arbeit (Klägerin) nimmt die Beklagten als Ge-
schäftsführer der in Insolvenz geratenen Gebr. B. Baugesellschaft GmbH (künf-
tig: GmbH) als Gesamtschuldner aus unerlaubter Handlung wegen verspäteter
Insolvenzantragstellung auf Ersatz des von ihr geleisteten Insolvenzgeldes in
Anspruch. Für die GmbH wurde im Jahre 2003 Insolvenzantrag gestellt. Die
Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde durch Beschluss des Insolvenzge-
richts vom 11. September 2003 abgelehnt.
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Die Klägerin hat hierzu vorgetragen, die Gesellschaft sei bereits im Jahre
2000, spätestens jedoch im Jahre 2001 überschuldet und zahlungsunfähig ge-
wesen. Die Beklagten hätten es in sittenwidriger Weise unterlassen, rechtzeitig
die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft zu
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beantragen. Dadurch sei ihr, der Klägerin, ein Schaden entstanden, weil sie an
die Arbeitnehmer der Gesellschaft habe Insolvenzgeld zahlen müssen.
Die Beklagten haben zur Begründung ihres Klageabweisungsbegehrens
u.a. vorgetragen, ein Grund für die Stellung eines Insolvenzantrages habe bis
2003 nicht bestanden. Ein Schaden sei der Klägerin nicht entstanden, da sie
auch dann Insolvenzgeld hätte zahlen müssen, wenn der Insolvenzantrag zu
einem früheren Zeitpunkt gestellt worden wäre.
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Das Landgericht hat der Klage mit Ausnahme eines Teils der Zinsen
stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht das
erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Beru-
fungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung
des erstinstanzlichen Urteils.
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Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch der Klägerin
gegen die Beklagten aus § 826 BGB oder einem anderen Rechtsgrund nicht für
gegeben erachtet. Eine Haftung der Beklagten aus § 826 BGB komme nach
höchstrichterlicher Rechtsprechung zwar in Betracht, weil diese als Geschäfts-
führer der GmbH gegen § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. verstoßen hätten. Denn nach
Eintritt einer Überschuldung, die ihnen spätestens am 20. Juni 2002 aufgrund
der an diesem Tage vorliegenden Bilanz bekannt gewesen sei, hätten sie nicht
unverzüglich die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Eine Schadens-
ersatzpflicht der Beklagten bestehe gleichwohl nicht, da die Klägerin nicht dar-
getan habe, dass ihr durch das Verhalten der Beklagten ein Schaden entstan-
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den sei. Dass ohne den Verstoß der Beklagten gegen ihre Insolvenzantrags-
pflicht aus § 64 Abs. 1 GmbHG a.F. Insolvenzgeld seitens der Klägerin nicht zu
zahlen gewesen wäre, gehöre zu den anspruchsbegründenden Tatsachen und
sei deshalb von der Klägerin darzulegen und zu beweisen. Zugunsten der Klä-
gerin kämen weder generelle Beweiserleichterungen nach den Grundsätzen
zum Vortrag einer Reserveursache oder eines rechtmäßigen Alternativverhal-
tens in Betracht noch unter dem Gesichtspunkt, dass die vorzutragenden Tat-
sachen außerhalb ihrer Wahrnehmungssphäre gelegen hätten. Die maßgebli-
chen Tatsachen seien in der Regel - so auch hier - aus den im Insolvenzverfah-
ren erstellten Berichten unschwer zu ersehen, die der Klägerin als Insolvenz-
gläubigerin zugänglich gewesen seien. Dies betreffe auch die Frage, ob bei
rechtzeitiger Antragstellung die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse als-
bald beendet worden wären oder die Forderungen der Arbeitnehmer noch aus
Mitteln der Gesellschaft hätten befriedigt werden können, so dass es zur Zah-
lung von Insolvenzgeld durch die Klägerin nicht gekommen wäre. Dass nach
Stellung des Insolvenzantrages im Jahre 2003 kein vorläufiger Insolvenzverwal-
ter bestellt und die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der
Gesellschaft im September 2003 mangels Masse abgelehnt worden sei, lasse
keine sicheren Schlüsse auf deren wirtschaftliche Lage Mitte des Jahres 2002
zu. Damals sei die Gesellschaft trotz ihrer Überschuldung noch in der Lage ge-
wesen, bis Oktober 2002 an sämtliche Arbeitnehmer die geschuldeten Löhne
zu zahlen. Die Klägerin könne sich auch nicht darauf berufen, dass im Zeitpunkt
des Eintritts der Insolvenzreife keine Lohnrückstände bestanden hätten. Der
Insolvenzverwalter sei nämlich nicht verpflichtet, die Masse vorrangig zur Be-
friedigung der Lohnansprüche zu verwenden. Er könne die Arbeitnehmer nur
dann nicht auf die Zahlung von Insolvenzgeld verweisen, wenn die Masse zur
Begleichung sämtlicher Verbindlichkeiten der Schuldnerin ausreiche, was die
Klägerin ebenfalls nicht hinreichend dargelegt habe.
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II.
Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.
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1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der
Geschäftsführer einer GmbH, der durch eine Insolvenzverschleppung einen
nicht vom Schutzbereich des § 64 GmbHG a.F. (vgl. jetzt § 15a Abs. 1 InsO)
abgedeckten Vermögensschaden der Arbeitsverwaltung verursacht, grundsätz-
lich aus § 826 BGB zum Schadensersatz verpflichtet sein kann (vgl. BGHZ 175,
58, 62; 108, 134, 141 ff.; BGH, Urteil vom 1. Juli 1991 - II ZR 180/90 - NJW-RR
1991, 1312, 1315; OLG Frankfurt NZG 1999, 947, 948; OLG Saarbrücken ZIP
2007, 328; OLG Stuttgart ZInsO 2004, 1150).
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2. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht eine
Haftung der Beklagten mit Recht verneint, weil die Klägerin nicht hinreichend
dargetan hat, dass ihr infolge der verzögerten Insolvenzantragstellung durch die
Zahlung von Insolvenzgeld ein Schaden entstanden ist.
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a) Nimmt die Agentur für Arbeit den Geschäftsführer einer in Insolvenz
geratenen GmbH wegen verspäteter Insolvenzantragstellung auf Ersatz von ihr
geleisteten Insolvenzgeldes aus § 826 BGB in Anspruch, so stellt sich nach der
Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteil BGHZ 175, 58, 63)
der - im Streitfall erhobene - Einwand der Beklagten, Insolvenzgeld hätte auch
bei rechtzeitiger Antragstellung gezahlt werden müssen, als qualifiziertes Be-
streiten der Schadensentstehung dar, für welche die Agentur darlegungs- und
beweispflichtig ist; der Einwand ist nicht nach den Grundsätzen zu behandeln,
die beim Vortrag einer Reserveursache oder eines rechtmäßigen Alternativver-
haltens gelten.
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b) Ein wegen verspäteter Insolvenzantragstellung verursachter Schaden
der Klägerin im Sinne der §§ 249, 826 BGB lässt sich nicht schon daraus herlei-
ten, dass die Klägerin den Arbeitnehmern der GmbH Insolvenzgeld gezahlt hat.
Die Verpflichtung der Arbeitsverwaltung zur Zahlung von Insolvenzgeld ergibt
sich aus § 183 SGB III. Soweit die sozialrechtlichen Voraussetzungen vorlie-
gen, ist Insolvenzgeld auch zu zahlen, wenn der Insolvenzantrag entsprechend
den in § 64 GmbHG a.F. genannten Erfordernissen rechtzeitig gestellt wurde.
Ein Schaden ist der Klägerin durch die verspätete Stellung des Insolvenzantra-
ges folglich nur dann entstanden, wenn eine rechtzeitige Antragstellung dazu
geführt hätte, dass Insolvenzgeld nicht oder in geringerem Umfang hätte ge-
zahlt werden müssen. Hierzu fehlt es - wie das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei
ausgeführt hat - an einem konkreten Sachvortrag der Klägerin.
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c) Entgegen der Auffassung der Revision begründet nicht schon die Tat-
sache, dass die GmbH nach Eintritt der Insolvenzreife noch Arbeitsentgelt ge-
zahlt hat, eine tatsächliche Vermutung oder ein hinreichendes Indiz dafür, dass
bei einer zu diesem Zeitpunkt erfolgten Antragstellung genügend Mittel auch für
Löhne und Gehälter vorhanden gewesen wären. Der erkennende Senat hat in
seinem Urteil BGHZ 175, 58, 66 einen beweispflichtigen Vortrag der Agentur für
die Frage erforderlich erachtet, ob bei rechtzeitiger Antragstellung die beste-
henden Beschäftigungsverhältnisse alsbald beendet worden wären oder die
Forderungen der Arbeitnehmer noch aus Mitteln der Gesellschaft hätten befrie-
digt werden können, so dass es zur Zahlung von Insolvenzgeld nicht gekom-
men wäre. Im Regelfall führt der Insolvenzantrag nicht zur sofortigen Einstel-
lung der Geschäftstätigkeit und zur Auflösung der Arbeitsverhältnisse, sondern
zum Versuch, das Unternehmen bis zur Entscheidung über den Insolvenzan-
trag fortzuführen, sofern nicht eine Stilllegung des Betriebs zur Vermeidung ei-
ner weiteren Vermögensminderung erforderlich ist (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO).
Soweit die Voraussetzungen des § 183 SGB III für eine Zahlung von Insolvenz-
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geld vorliegen, muss der vorläufige Insolvenzverwalter die noch vorhandenen
Mittel nicht bevorzugt zur Zahlung des Arbeitsentgelts einsetzen. Es handelt
sich beim Insolvenzgeld um eine umlagenfinanzierte Sozialleistung, die der Si-
cherung der Arbeitsentgeltansprüche der Arbeitnehmer des insolventen Unter-
nehmens dient und zugleich das in der Insolvenz fortgeführte Unternehmen von
den Lohn- und Gehaltsansprüchen seiner Arbeitnehmer entlasten soll (vgl. BT-
Drs. 14/5680, S. 25). Die Lohn- und Gehaltsansprüche der weiterbeschäftigten
Arbeitnehmer sind Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO und,
soweit die Masse nicht ausreicht, können die Arbeitnehmer für die Dauer von
längstens drei Monaten auf die Inanspruchnahme von Insolvenzgeld verwiesen
werden. Allein der Umstand, dass in diesem Zusammenhang nach der vorge-
nannten Senatsentscheidung ein ersatzfähiger Schaden der Klägerin bei Fort-
zahlung des Arbeitsentgelts nach Entstehung der Antragspflicht vorliegen kann,
besagt entgegen der Auffassung der Revision noch nicht, dass er auch tatsäch-
lich entstanden ist. Die Verpflichtung der Klägerin, Insolvenzgeld nach § 183
Abs. 1 Satz 1 SGB III zu zahlen, setzt nicht voraus, dass Ansprüche auf Ar-
beitsentgelt aus der Insolvenzmasse nicht mehr befriedigt werden können.
d) Es besteht auch kein Anlass für Beweiserleichterungen unter dem Ge-
sichtspunkt, dass die vorzutragenden Tatsachen außerhalb der Wahrneh-
mungssphäre der Klägerin lägen. Der Senat hat insoweit bereits in seinem Ur-
teil BGHZ 175, 58, 65 darauf hingewiesen, dass die maßgeblichen Tatsachen
im Regelfall aus den im Insolvenzverfahren erstellten Berichten unschwer zu
ersehen sind, welche der Agentur als Insolvenzgläubigerin zugänglich sind. Vor-
trag der Klägerin und entsprechende tatrichterliche Feststellungen sind deshalb
zu der Frage möglich, ob bei rechtzeitiger Antragstellung die bestehenden Be-
schäftigungsverhältnisse alsbald beendet worden wären oder die Forderungen
der Arbeitnehmer noch aus Mitteln der Gesellschaft hätten befriedigt werden
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können, so dass es zur Zahlung von Insolvenzgeld durch die Klägerin nicht ge-
kommen wäre.
Soweit die Revision meint, der damaligen Entscheidung habe ein ande-
rer Sachverhalt zugrunde gelegen, weil das Insolvenzverfahren dort antrags-
gemäß eröffnet, hier die Eröffnung aber mangels Masse abgelehnt worden sei,
kann dem bereits nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen
nicht beigetreten werden. Das Berufungsgericht hat nämlich ausgeführt, die
maßgeblichen Tatsachen seien in der Regel - "so auch hier" - aus den im Insol-
venzverfahren erstellten Berichten unschwer zu ersehen, die der Klägerin als
Insolvenzgläubigerin zugänglich seien. Die Revision zeigt hierzu keinen über-
gangenen Sachvortrag der Klägerin auf, welche konkreten Tatsachen sie den
Akten über das Insolvenzverfahren nicht entnehmen konnte und über die sich
die Beklagten nach den Grundsätzen über die sekundäre Darlegungslast zu
äußern hätten. Die Revisionserwiderung weist insoweit zutreffend darauf hin,
dass das Insolvenzgericht auch vor seiner Entscheidung über eine Ablehnung
der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 16 InsO zu prüfen hat, ob ein
Eröffnungsgrund gegeben ist. Der Insolvenzschuldner hat vor der Entscheidung
über die Eröffnung des Verfahrens nach § 20 Abs. 1 Satz 1 InsO "dem Insol-
venzgericht die Auskünfte zu erteilen, die zur Entscheidung über den Antrag
erforderlich sind, und es auch sonst bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unter-
stützen". Hierunter fällt die Vorlage eines Verzeichnisses der Gläubiger und der
Schuldner sowie einer Übersicht der Insolvenzmasse (vgl. etwa BGHZ 156, 92,
94; HK-Kirchhof, InsO, 4. Aufl., § 20 Rdn. 10; FK-InsO/Schmerbach, 5. Aufl.,
§ 20 Rdn. 6; Braun/Kind, InsO, 3. Aufl., § 20 Rdn. 8), wozu nach § 36 Abs. 2
Nr. 1 InsO auch die Geschäftsbücher gehören. Insoweit besteht keine Veran-
lassung, den vorliegenden Fall hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast der
Klägerin abweichend von den Grundsätzen des Senatsurteils BGHZ 175, 58 zu
beurteilen; auch dem dort zitierten Beschluss des IV. Zivilsenats vom 5. April
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2006 - IV AR (VZ) 1/06 - ZIP 2006, 1154 ff. lag eine Ablehnung der Eröffnung
des Insolvenzverfahrens mangels Masse zugrunde (vgl. auch OLG Saarbrü-
cken ZIP 2007, 328).
Galke
Zoll
Wellner
Diederichsen
Stöhr
Vorinstanzen:
LG Trier, Entscheidung vom 14.01.2008 - 6 O 215/07 -
OLG Koblenz, Entscheidung vom 06.11.2008 - 6 U 193/08 -