Urteil des BGH vom 16.04.2003
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 123/03
Verkündet am:
10. März 2004
Heinekamp
Justizobersekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ:                    ja
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ZPO § 256 Abs. 1; BGB §§ 2333 ff.
Einer  schon  zu  Lebzeiten  des  Erblassers  gegen  ihn  erhobenen  Klage  des  Pflicht-
teilsberechtigten  auf  Feststellung,  daß  die  in  einer  letztwilligen  Verfügung  des  Erb-
lassers  unter  Bezug auf  bestimmte  Vorfälle angeordnete  Entziehung des  Pflichtteils
unwirksam  sei,  fehlt  das  rechtliche  Interesse an  alsbaldiger Feststellung  nicht  (Wei-
terführung von BGHZ 109, 306, 309).
BGH, Urteil vom 10. März 2004 - IV ZR 123/03 - OLG München
LG Traunstein
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Der  IV. Zivilsenat  des  Bundesgerichtshofes  hat  durch  den  Vorsit-
zenden  Richter  Terno,  die  Richter  Dr.  Schlichting,  Seiffert,  Wendt  und
Felsch auf die mündliche Verhandlung vom 10. März 2004
für Recht erkannt:
Auf  die  Revision  des  Klägers  wird  das  Urteil  des
3. Zivilsenats  des  Oberlandesgerichts  München  vom
16. April 2003 aufgehoben.
Die  Sache  wird  zur  neuen  Verhandlung  und  Entschei-
dung,  auch  über  die  Kosten  des  Revisionsverfahrens,
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der  Kläger,  Sohn  des  Beklagten,  begehrt  die  Feststellung,  daß
sein  Vater  nicht  berechtigt  sei,  wegen  der  in  dessen  notariellen  Testa-
menten  im  einzelnen,  nach  Ansicht  des  Klägers  aber  unzutreffend  dar-
gestellten  Sachverhalte  dem  Kläger  den  Pflichtteil  zu  entziehen.  Beide
Vorinstanzen  haben die  Klage  als  unzulässig  abgewiesen,  weil  dem  Klä-
ger  zu  Lebzeiten  des  Beklagten  ein  rechtlich  geschütztes  Interesse  an
der beantragten Feststellung fehle.
Dagegen wendet sich der Kläger mit der Revision.
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Entscheidungsgründe:
Das  Rechtsmittel  hat  Erfolg;  es  führt  zur  Aufhebung  des  Beru-
fungsurteils  und  zur  Zurückverweisung  der  Sache  an  das  Berufungsge-
richt.
1.  Nach  Ansicht  der  Vorinstanzen  kann  die  Frage,  ob  Grund  zur
Entziehung  des  Pflichtteils  besteht,  zwar  vom  (zukünftigen)  Erblasser,
grundsätzlich  aber  nicht  auch  vom  Pflichtteilsberechtigten  zum  Gegen-
stand  einer  Feststellungsklage  gemacht  werden.  Das  Berufungsgericht
meint,  der  Pflichtteilsberechtigte  habe  vor  dem  Erbfall  keine  Möglichkeit,
über  sein  Pflichtteilsrecht  irgend  welche  rechtlich  erheblichen  Verfügun-
gen  zu  treffen.  Er  habe  auch  keinen  Einfluß  darauf,  ob  beim  Erbfall
überhaupt  eine  Erbmasse  vorhanden  sei  und  ein  Pflichtteilsanspruch
durchgesetzt  werden  könne.  Die  Ungeduld  naher  Angehöriger  im  Hin-
blick auf Feststellungen, die für sie erst nach dem Erbfall fühlbare recht-
liche Folgen haben könnten, reiche nicht aus.
Der vorliegende Fall weise auch keine Besonderheiten auf, die ein
Feststellungsinteresse  ausnahmsweise  rechtfertigen  könnten.  Daß  die
Parteien  zerstritten  seien,  sei  in  Fällen  dieser  Art  nichts  Besonderes.
Auch  wenn  der  Kläger  den  Erblasser  überlebe  und  möglicherweise  we-
gen  Grundstücksübertragungen  des  Beklagten  Auskunfts-  und  Pflicht-
teilsergänzungsansprüche  gegen  seine  Schwester  geltend  machen  müs-
se,  genüge  dies  weder  für  sich  genommen  noch  unter  Berücksichtigung
von  Beweisschwierigkeiten  infolge  Zeitablaufs.  Denn  für  das  Bestehen
eines  Pflichtteilsentziehungsgrundes  sei  nicht  der  Kläger  als  Pflichtteils-
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berechtigter  beweispflichtig,  sondern  gemäß  § 2336  Abs. 3  BGB  derjeni-
ge, der die Entziehung geltend mache.
2. Dem folgt der Senat nicht.
a)  In  der  Rechtsprechung  des  Bundesgerichtshofs  anerkannt  ist
zunächst, daß das Pflichtteilsrecht der Abkömmlinge, des Ehegatten und
der  Eltern  eines  Erblassers  (als  Quelle,  aus  der  mit  dem  Erbfall  ein
Pflichtteilsanspruch  entstehen  kann,)  ein Rechtsverhältnis ist,  das  schon
zu  Lebzeiten  des  Erblassers  besteht,  rechtliche  Wirkungen  äußert  und
gerichtlich  festgestellt  werden  kann.  Aus  diesem  Rechtsverhältnis  er-
wächst  unter  den  in  §§ 2333 ff.  BGB  angeführten  Voraussetzungen  die
Befugnis  des  Erblassers,  den  Pflichtteil  zu  entziehen.  Dieses  in  § 2337
Satz 1  BGB  ausdrücklich  als  Recht  zur  Entziehung  des  Pflichtteils  be-
zeichnete  Recht  ist  ein  gegenwärtiges  und  nicht  etwa  ein  vom  Tod  des
Erblassers abhängiges zukünftiges Recht. Mit der Klage auf Feststellung
des Bestehens eines Rechtsverhältnisses (§ 256 Abs. 1 ZPO) kann nicht
nur  die  Feststellung  des  Bestehens  des  Rechtsverhältnisses  im  ganzen,
sondern  auch  die  Feststellung  einzelner, aus  dem  umfassenden  Rechts-
verhältnis  hervorgehender  Berechtigungen  verlangt  werden  wie  des
Rechts,  den  Pflichtteil  zu  entziehen.  Nichts  anderes  gilt  für  eine  Klage
auf  Feststellung  des  Nichtbestehens  eines  Pflichtteilsentziehungsrechts,
wie  sie  hier  vorliegt  (vgl.  BGHZ  28,  177,  178;  BGH,  Urteil  vom  1. März
1974  - IV  ZR  58/72 -  NJW  1974,  1085  unter  1;  BGHZ  109,  306,  308 f.;
BGH,  Urteil  vom  20. Januar  1993  - IV  ZR  139/91 -  NJW-RR  1993,  391
unter 4).
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b)  Für  die  Zulässigkeit  einer  solchen  Feststellungsklage  ist  nach
§ 256 Abs. 1 ZPO weiterhin ein rechtliches Interesse des Klägers an als-
baldiger  Feststellung  erforderlich  (vgl.  Senatsurteil  vom  11. Oktober
1989  - IVa  ZR  208/87 -  NJW-RR  1990,  130 f.).  Für  die  positive  Feststel-
lungsklage eines Testators gegen einen Pflichtteilsberechtigten auf Fest-
stellung  eines  Rechts  zur  Entziehung  des  Pflichtteils  hat  der  Senat  ein
solches  Feststellungsinteresse  bejaht,  weil  die  Klärung  der  Grenzen  der
Testierfreiheit  im  allgemeinen  keinen  größeren  Aufschub  vertrage  (Urteil
vom  1. März  1974  aaO,  BGHZ  109,  306,  309).  Für  die  Klage  eines
Pflichtteilsberechtigten  auf  Feststellung  des  Nichtbestehens  eines
Pflichtteilsentziehungsrechts  hat  der  Senat  das  Bestehen  eines  Interes-
ses  an  alsbaldiger  Feststellung  dagegen  grundsätzlich  offengelassen,
weil  dem  Interesse  ungeduldiger  Angehöriger  an  der  Feststellung  einer
Rechtsstellung,  die  erst  nach  dem  Erbfall  für  sie  fühlbare  rechtliche  Fol-
gen  habe,  nicht  das  gleiche  Gewicht  zukomme  wie  dem  Interesse  des
Erblassers an der Klärung der Grenzen seiner Testierfreiheit. Wenn aber
in  demselben  Verfahren  das  Bestehen  eines  von  dem  vorverstorbenen
Elternteil entzogenen Pflichtteilsrechts zu klären sei, rechtfertige der Ge-
sichtspunkt  der  Prozeßökonomie  auch  die  gegenüber  dem  am  Verfahren
beteiligten  überlebenden  Elternteil  und  zukünftigen  Erblasser  beantragte
Feststellung,  daß  derselbe  tatsächliche  Vorgang  kein  Recht  zur  Pflicht-
teilsentziehung  begründet  habe  (BGHZ  109,  306,  309 f.;  kritisch  dazu
Leipold, JZ 1990, 700).
c)  Das  Fortbestehen  eines  Pflichtteilsrechts  trotz  einer  Entziehung
des Erblassers ist für den Pflichtteilsberechtigten jedoch nicht nur für die
Zeit  nach  dem  Erbfall  von  Bedeutung:  Der  Pflichtteilsberechtigte  kann
schon  vor  dem  Erbfall  einen  Vertrag  mit  anderen  gesetzlichen  Erben
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über  seinen  Pflichtteil  abschließen  (§ 311b  Abs. 5  BGB).  Er  kann  ferner
durch  Vertrag  mit  dem  Erblasser,  der  meist  zu  Gegenleistungen  bereit
ist,  auf  sein  Pflichtteilsrecht  verzichten  (§ 2346  Abs. 2  BGB).  Dies  gilt,
obwohl vor Eintritt des Erbfalles nicht ausgeschlossen werden kann, daß
etwa  wegen  Überschuldung  des  Nachlasses  kein  Pflichtteilsanspruch
entsteht. Auch wenn die Feststellungsklage im Einzelfall nicht der Vorbe-
reitung  einer  derartigen  Verfügung  über  das  Pflichtteilsrecht  dient,  be-
steht  ein  rechtliches  Interesse  an  einer  alsbaldigen  Feststellung,  daß
dieses  Recht  nicht  durch  letztwillige  Verfügung  des  Erblassers  wirksam
entzogen sei. Erst nach einer solchen Feststellung hat der Pflichtteilsbe-
rechtigte  wieder  konkrete  Chancen,  seine  schon  vor  dem  Erbfall  beste-
henden  Verfügungsmöglichkeiten  zu  nutzen.  Für  das  Interesse  des
Pflichtteilsberechtigten  kann  hier  nichts  anderes  gelten  als  sonst  bei  ei-
ner gegenwärtigen Gefahr oder Ungewißheit für die Rechtsposition eines
Klägers,  etwa  durch  deren  Verletzung  oder  auch  nur  deren  ernstliches
Bestreiten (BGH, Urteil vom 7. Februar 1986 - V ZR 201/84 - NJW  1986,
2507  unter  II  1;  Urteil  vom  10. Oktober  1991  - IX  ZR  38/91 -  NJW  1992,
436  unter  1;  Urteil  vom  22. März  1995  - XII  ZR  20/94 -  NJW  1995,  2032
unter 3 a). Darauf weist die Revision mit  Recht hin. Im vorliegenden Fall
hat  der  Beklagte  das  Entziehungsrecht  bereits  in  seinen  notariellen  Te-
stamenten  ausgeübt.  Jedenfalls  bei  einer  solchen  Sachlage  kann  das
Feststellungsinteresse des Pflichtteilsberechtigten nicht zweifelhaft sein.
d)  Demgegenüber  überzeugt  das  Argument  nicht,  der  Erblasser
müsse  zu  seinen  Lebzeiten  vor  einer  Auseinandersetzung  über  seinen
Nachlaß  geschützt  werden  (so  etwa  AnwK-BGB/Herzog,  § 2333
Rdn. 27). Das mag wünschenswert und dem Pflichtteilsberechtigten etwa
dann  zu  empfehlen  sein,  wenn  zu  hoffen  ist,  daß  der  Erblasser  die  Vor-
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fälle,  die  er  zum  Anlaß  einer  Pflichtteilsentziehung  genommen  hat,  nach
Ablauf  einer  gewissen  Zeit  gelassener  beurteilen  wird.  Andererseits
greift der Erblasser durch die Pflichtteilsentziehung in eine schon zu sei-
nen  Lebzeiten  bestehende  Rechtsstellung  des  Pflichtteilsberechtigten
ein.  Dessen  Abwehr  muß  der  Erblasser  hinnehmen.  Er  ist  zur  Verteidi-
gung seines Standpunkts aufgrund seiner Sachkenntnis oft besser in der
Lage als der Erbe nach Eintritt des Erbfalles.
Daß  der  Pflichtteilsberechtigte  nicht  die  Beweislast  für  das  Vorlie-
gen  von  Entziehungsgründen  trägt  (§ 2336  Abs. 3  BGB),  ändert  grund-
sätzlich nichts an der Gefahr, daß ihm günstige Gegenbeweismittel durch
Zeitablauf  verloren  gehen  oder  entwertet  werden  können.  Soweit  die
persönliche Glaubwürdigkeit von Zeugen eine Rolle spielt oder eine Par-
teivernehmung  in  Betracht  kommt,  können  später  verwertbare  Feststel-
lungen  selbst  in  einem  Beweissicherungsverfahren  nicht  getroffen  wer-
den.  Hier  hat  sich  der  Kläger  für  seine  Gegendarstellung  der  Vorgänge,
die  der  Pflichtteilsentziehung  zugrunde  liegen,  unter  anderem  auf  das
Zeugnis  seiner  Lebensgefährtin  und  seiner  Schwester  sowie  auf  eine
Vernehmung  des  Beklagten  als  Partei  bezogen.  Die  infolge  des  Zeitab-
laufs  bis  zum  Erbfall  möglicherweise  drohenden  Beweisschwierigkeiten
rechtfertigen  ebenfalls  das  Interesse  an  alsbaldiger  Feststellung  (BGH,
Urteil  vom  9. März  1961  - VII  ZR  145/60 -  NJW  1961,  1165  unter  II  1  b
cc).
e)  Danach ist  das rechtliche  Interesse  auch  des  Pflichtteilsberech-
tigten an einer alsbaldigen negativen Feststellung noch zu Lebzeiten des
Erblassers,  daß  ein  Recht  zur  Pflichtteilsentziehung  nicht bestehe, in  al-
ler  Regel  zu  bejahen  (so  auch  OLG  Saarbrücken  NJW   1986,  1182;  Lan-
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ge/Kuchinke,  Erbrecht  5. Aufl.  § 37  III  1  b  S. 871 f.;  MünchKomm/
Leipold,  BGB  3. Aufl.  § 1922  Rdn. 80;  MünchKomm/Frank,  aaO  § 2333
Rdn. 2a;  Palandt/Edenhofer,  BGB  63. Aufl.  § 2336  Rdn. 1;  Zöller/
Greger, ZPO  24. Aufl.  § 256  Rdn. 11;  Schneider,  ZEV  1996,  56,  57;  a.A.
Staudinger/Olshausen,  BGB  [1998]  vor  § 2333  Rdn. 19;  Soergel/Dieck-
mann,  BGB  13. Aufl.  vor  § 2333  Rdn. 4).  Auch  dem  Kläger  des  vorlie-
genden  Verfahrens  kommt  ein  berechtigtes  Interesse  an  der  begehrten
Feststellung zu.
Terno                                    Dr. Schlichting                              Seiffert
Wendt                                                 Felsch