Urteil des BAG vom 29.09.2011
Restitutionsklage - nachträglicher Urkundenbeweis - Wiederaufnahme der Ermittlungen nach staatsanwaltschaftlicher Einstellungsverfügung und anschließende strafgerichtliche Verurteilung als Restitutionsgrund
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 29.9.2011, 2 AZR 674/10
Restitutionsklage - nachträglicher Urkundenbeweis - Wiederaufnahme der Ermittlungen nach
staatsanwaltschaftlicher Einstellungsverfügung und anschließende strafgerichtliche Verurteilung
als Restitutionsgrund
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen
Landesarbeitsgerichts vom 11. Februar 2010 - 6 (5) Sa 224/09 - wird auf
seine Kosten zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil geschlossenen
Verfahrens im Wege der Restitutionsklage.
2 Der 1962 geborene Kläger war bei dem Beklagten seit Mai 2001 als EDV-Betreuer tätig.
Das Arbeitsverhältnis der Parteien war zunächst bis zum 30. April 2002 und danach bis
zum 30. April 2005 befristet. Mit Schreiben vom 21. Oktober 2003 kündigte der Beklagte das
Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. November 2003. Mit Schreiben vom 15. Dezember
2003 kündigte er - vorsorglich - außerordentlich fristlos.
3 Die gegen beide Kündigungen gerichtete Kündigungsschutzklage wies das
Landesarbeitsgericht durch Urteil vom 19. Januar 2005 ab. Zur Begründung führte es aus,
das Arbeitsverhältnis sei durch die ordentliche Kündigung aufgelöst worden. Der Kläger
habe pflichtwidrig Strafanzeige gegen den - damaligen - Vorstandsvorsitzenden des
Beklagten erstattet. Mit zwei Anzeigen vom 13. August 2003 habe er nicht nur
staatsbürgerliche Pflichten wahrgenommen. Vielmehr sei es ihm vornehmlich darum
gegangen, dem Vorstandsvorsitzenden, mit dem er im Streit über den Ausgleich von
Überstunden gestanden habe, Schaden zuzufügen. Eine Berechtigung der Anzeigen sei
nicht feststellbar. Ein gegen den Vorstandsvorsitzenden wegen des Vorwurfs der Untreue
eingeleitetes, zunächst nach § 170 Abs. 2 StPO eingestelltes Ermittlungsverfahren (- 350 Js
42379/02 -) sei zwar nach dem Anruf des Klägers bei der Staatsanwaltschaft vom
13. August 2003 und Übermittlung diverser vertraulicher Unterliegen wieder aufgenommen
worden. Zwischenzeitlich sei es aber erneut eingestellt worden. Ein weiteres
Ermittlungsverfahren (- 350 Js 41235/03 -) sei bis dato ergebnislos verlaufen. Angesichts
dessen sei dem Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar. Die
Revision gegen sein Urteil ließ das Landesarbeitsgericht nicht zu. Dagegen erhob der
Kläger Nichtzulassungsbeschwerde, die das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom
23. August 2005 (- 2 AZN 632/05 -) als unzulässig verwarf. Eine Verfassungsbeschwerde
des Klägers wurde gemäß Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Oktober
2005 (- 1 BvR 2076/05 -) nicht zur Entscheidung angenommen.
4 Ende des Jahres 2005 wurde das zweite gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden
des Beklagten geführte Ermittlungsverfahren teilweise eingestellt. Auf Beschwerde des
Klägers wurden die Ermittlungen Anfang 2006 wieder aufgenommen und unter neuem
Aktenzeichen (- 350 Js 8379/06 -) fortgeführt. Am 7. Dezember 2007 verurteilte das
Amtsgericht Chemnitz (- 6 Ds 350 Js 8379/06 -; verbundenes Verfahren: - 6 Cs 350 Js
41235/03 -) den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden wegen versuchter veruntreuender
Unterschlagung und versuchter bzw. vollendeter Nötigung zu einer Gesamtgeldstrafe von
150 Tagessätzen zu je 50,00 Euro. Mit Urteil vom 3. April 2009 (- 6 Ns 350 Js 8379/06 -)
verwarf das Landgericht Chemnitz dessen Berufung unter Herabsetzung der Strafe auf
120 Tagessätze.
5 Am 30. April 2009 hat der Kläger beim Landesarbeitsgericht Restitutionsklage mit dem Ziel
erhoben, das rechtskräftige Urteil vom 19. Januar 2005 zu beseitigen. Er hat die Auffassung
vertreten, er könne nunmehr mittels Urkunden - der Strafurteile - belegen, dass er im
Kündigungszeitpunkt berechtigterweise von einem strafbaren Verhalten des
Vorstandsvorsitzenden ausgegangen sei und keineswegs pflichtwidrig Anzeige erstattet
habe. Darüber hinaus stehe aufgrund des landgerichtlichen Urteils rechtskräftig fest, dass
das Ermittlungsverfahren 350 Js 41235/03 nicht ergebnislos verlaufen sei und die
Ermittlungen im Verfahren 350 Js 42379/02 wieder aufgenommen worden seien. Letzteres
belegten auch die Akten der Staatsanwaltschaft.
6 Der Kläger hat beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 - 5 (10) Sa
313/04 - aufzuheben und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien
weder durch die Kündigung vom 21. Oktober 2003 noch durch die Kündigung vom
15. Dezember 2003 aufgelöst worden ist.
7 Der Beklagte hat - sinngemäß - beantragt, die Restitutionsklage abzuweisen, hilfsweise, die
Kündigungsschutzklage abzuweisen, hilfsweise dazu, das Arbeitsverhältnis der Parteien
gegen Zahlung einer Abfindung - deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird,
allerdings einen Betrag von 1.000,00 Euro nicht übersteigen sollte - zum 30. November
2003 aufzulösen. Er hat die Auffassung vertreten, die Restitutionsklage sei unzulässig. Sie
sei zumindest unbegründet; ein Restitutionsgrund liege nicht vor.
8 Der Kläger hat beantragt, den Auflösungsantrag abzuweisen.
9 Das Landesarbeitsgericht hat die Restitutionsklage abgewiesen. Mit der vom Senat
zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
10 Die zulässige Revision ist unbegründet. Die Restitutionsklage (§ 578 Abs. 1 ZPO iVm.
§ 580 ZPO) bleibt im Ergebnis erfolglos.
11 I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Restitutionsklage sei bereits
unzulässig - ohne dies im Tenor durch ihre Verwerfung (§ 589 Abs. 1 Satz 2 ZPO)
auszudrücken. Es fehle an der schlüssigen Darlegung eines Restitutionsgrundes. Dem
folgt der Senat nicht. Die Restitutionsklage ist zulässig.
12 1. Gemäß § 79 Satz 1 ArbGG iVm. § 589 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist von Amts wegen zu prüfen,
ob die Restitutionsklage an sich statthaft und in der gesetzlichen Form und Frist erhoben
worden ist. Diese Voraussetzungen, deren Überprüfung auch noch in der
Revisionsinstanz vorzunehmen ist (BAG 25. November 1980 - 6 AZR 210/80 - zu I der
Gründe, BAGE 34, 275), sind erfüllt.
13 a) Die Restitutionsklage ist an sich statthaft. Sie richtet sich gegen das rechtskräftige Urteil
des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005, durch das der Kläger beschwert ist
(§ 578 Abs. 1 ZPO).
14 b) Die Restitutionsklage ist rechtzeitig erhoben worden. Sie ist, wie nach § 586 Abs. 1 und
Abs. 2 ZPO erforderlich, vor Ablauf der Notfrist von einem Monat nach Kenntnis des
Klägers von dem behaupteten Restitutionsgrund und nicht später als fünf Jahre nach der
Rechtskraft des Urteils eingelegt worden.
15 aa) Der Kläger stützt seine Anfechtung im Wesentlichen auf das rechtskräftige Urteil des
Landgerichts Chemnitz vom 3. April 2009 und auf ihm im Zusammenhang mit dessen
Verkündung bekannt gewordene Tatsachen. Die Restitutionsklage ist am 30. April 2009
beim zuständigen Landesarbeitsgericht (§ 584 Abs. 1 Alt. 2 ZPO) eingegangen. Die
Zustellung an den Beklagten erfolgte am 13. Mai 2009 und damit „demnächst“ iSv. § 167
ZPO (vgl. BGH 10. Februar 2011 - VII ZR 185/07 - Rn. 8, NJW 2011, 1227).
16 bb) Der Einhaltung der Monatsfrist des § 586 Abs. 1 ZPO steht nicht entgegen, dass der
ehemalige Vorstandsvorsitzende des Beklagten seine Berufung gegen das Urteil des
Amtsgerichts, soweit er wegen versuchter Nötigung verurteilt worden war, schon vor
Verkündung des landgerichtlichen Urteils zurückgenommen hatte. Anhaltspunkte dafür,
dass dieser Umstand dem Kläger vor dem 3. April 2009 bekannt geworden wäre, liegen
nicht vor.
17 cc) Die Restitutionsklage wahrt die fünfjährige Ausschlussfrist des § 586 Abs. 2 Satz 2
ZPO. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 ist erst mit Zustellung des
die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers zurückweisenden Beschlusses des
Bundesarbeitsgerichts vom 23. August 2005 rechtskräftig geworden (vgl. BAG
26. November 2009 - 2 AZR 185/08 - Rn. 12, BAGE 132, 293; BGH 19. Oktober 2005 -
VIII ZR 217/04 - Rn. 8, BGHZ 164, 347). Die Zustellung erfolgte am 7. September 2005.
18 2. Zur Zulässigkeit der Restitutionsklage gehört die Darlegung eines gesetzlichen
Restitutionsgrundes (BAG 20. Juni 1958 - 2 AZR 231/55 - zu II 1 c der Gründe, BAGE 6,
95). Der Restitutionskläger muss, um dieser Anforderung zu genügen, einen
Anfechtungsgrund iSv. § 580 ZPO nachvollziehbar behaupten. Ob er mit dem geltend
gemachten Grund durchzudringen vermag, ist dagegen eine Frage der Begründetheit der
Restitutionsklage (BAG 22. Januar 1998 - 2 AZR 455/97 - zu II 2 a der Gründe, AP ArbGG
1979 § 79 Nr. 3 = EzA ZPO § 580 Nr. 3; BGH 6. Juli 1979 - I ZR 135/77 - zu II 1 der
Gründe, NJW 1980, 1000). Diesen Voraussetzungen wird das Vorbringen des Klägers
insoweit gerecht, wie der Anfechtungsgrund des § 580 Nr. 6 ZPO angesprochen ist.
19 a) Unzureichend ist das Vorbringen des Klägers, soweit dieser sich auf eine Anfechtung
nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO stützt. Das hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei
erkannt.
20 aa) Gemäß § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO findet die Restitutionsklage statt, wenn die Partei
eine „andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr
günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde“. Dazu muss die Urkunde zu einem
Zeitpunkt errichtet sein, in dem sie in dem früheren Verfahren noch hätte geltend gemacht
werden können. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO findet grundsätzlich nur auf solche Urkunden
Anwendung, die zum Zeitpunkt des früheren Verfahrens bereits existent waren (BAG
22. Januar 1998 - 2 AZR 455/97 - zu II 2 c der Gründe, AP ArbGG 1979 § 79 Nr. 3 = EzA
ZPO § 580 Nr. 3). Um solche, im Zeitpunkt des früheren Verfahrens bereits existente
Urkunden handelt es sich bei den Strafurteilen nach dem eigenen Vorbringen des Klägers
nicht.
21 bb) Ausnahmsweise sind auch nachträglich errichtete Urkunden als Restitutionsgrund
anzuerkennen. Eine solche Ausnahme kommt für nachträglich errichtete
Personenstandsurkunden, etwa eine Geburtsurkunde (BGH 28. Mai 1951 - IV ZR 6/50 -
BGHZ 2, 245), oder den Bescheid des Versorgungsamts in Betracht, mit dem nach
Rechtskraft eines die Kündigungsschutzklage abweisenden Urteils die
Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zum Kündigungszeitpunkt festgestellt wird (BAG
15. August 1984 - 7 AZR 558/82 - zu I 5 b der Gründe, AP SchwbG § 12 Nr. 13 = EzA ZPO
§ 580 Nr. 2). Die Anerkennung dieser Ausnahmetatbestände beruht darauf, dass es sich
bei den bezeichneten Urkunden um solche handelt, die ihrer Natur nach nicht in zeitlichem
Zusammenhang mit den durch sie bezeugten Tatsachen errichtet werden können und die
deshalb, wenn sie - später - errichtet werden, notwendig Tatsachen beweisen, die einer
zurückliegenden Zeit angehören (BAG 15. August 1984 - 7 AZR 558/82 - aaO; BGH 6. Juli
1979 - I ZR 135/77 - zu III der Gründe, NJW 1980, 1000). Für einen erst nachträglich
errichteten Strafbefehl oder ein nachträglich ergangenes Strafurteil treffen diese
Überlegungen nicht in vergleichbarer Weise zu (BAG 22. Januar 1998 - 2 AZR 455/97 -
AP ArbGG 1979 § 79 Nr. 3 = EzA ZPO § 580 Nr. 3; BGH 7. November 1990 - IV ZR
218/89 - zu 2 b der Gründe, NJW-RR 1991, 380; 8. Februar 1984 - IVa ZR 203/81 -
VersR 1984, 453; 6. Juli 1979 - I ZR 135/77 - aaO; für ein nachträglich ergangenes Urteil
des Disziplinargerichts: BVerwG 27. Januar 1994 - 2 C 12.92 - BVerwGE 95, 86). Der
Kläger legt nicht dar, weshalb gleichwohl im Streitfall von einem Ausnahmetatbestand
auszugehen sein soll.
22 b) Der Kläger hat einen Restitutionsgrund ausreichend schlüssig behauptet, soweit sein
Vorbringen auf eine Anfechtung nach § 580 Nr. 6 ZPO zielt.
23 aa) Nach § 580 Nr. 6 ZPO ist eine Restitutionsklage statthaft, wenn das Urteil ua. eines
ordentlichen Gerichts, auf welches das anzufechtende Urteil gegründet ist, durch ein
anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist. Der Kläger hat sinngemäß die Auffassung
vertreten, die Vorschrift sei auf die mit Erlass des landgerichtlichen Strafurteils
entstandene Konstellation zur Anwendung zu bringen. Das Landesarbeitsgericht habe - im
Ausgangsverfahren - seine die Kündigungsschutzklage abweisende Entscheidung
maßgeblich auf den ergebnislosen Verlauf der Ermittlungsverfahren gegen den
ehemaligen Vorstandsvorsitzenden gegründet und dabei insbesondere auf die Einstellung
des Verfahrens 350 Js 42379/02 abgestellt. Später seien die Ermittlungen jedoch
fortgeführt worden und hätten zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt. Der Kläger hat
in diesem Zusammenhang vorgebracht, ihm sei ein Grund erwachsen, der den
Anforderungen des § 580 Nr. 6 ZPO entspreche. Darin liegt ein den
Zulässigkeitsanforderungen genügender Vortrag. Ob die Auffassung des Klägers -
zumindest bei extensiver Auslegung des Anfechtungsgrundes - sachlich zutrifft, ist im
Rahmen der Begründetheit zu klären (vgl. BAG 20. Juni 1958 - 2 AZR 231/55 - zu II 1 c der
Gründe, BAGE 6, 95).
24 bb) Einer Berufung des Klägers auf den Anfechtungsgrund des § 580 Nr. 6 ZPO steht nicht
entgegen, dass er in seiner Klageschrift ausdrücklich nur die Regelung des § 580 Nr. 7
Buchst. b ZPO angeführt hat. Nach § 588 Abs. 1 Nr. 1 ZPO soll zwar die Bezeichnung des
Anfechtungsgrundes bereits in der Klageschrift enthalten sein. Das erfordert aber nicht
eine numerisch zutreffende Benennung einer der gesetzlichen Alternativen, sondern die
Angabe von Tatsachen, die sich einer der Alternativen jedenfalls inhaltlich zuordnen
lassen. Im Übrigen ist selbst dies keine unabdingbare prozessuale Voraussetzung einer
Restitutionsklage. Die für die Schlüssigkeit der Klage erforderlichen Angaben können
grundsätzlich noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nachgeholt werden (vgl.
Musielak ZPO 8. Aufl. § 588 Rn. 1, 2; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 586 Rn. 6).
25 3. Der Kläger war ohne sein Verschulden außerstande, den behaupteten
Restitutionsgrund in dem früheren Verfahren geltend zu machen (§ 582 ZPO). Die
strafgerichtliche Verurteilung, auf die er seine Klage stützt, erfolgte erst nach Schluss der
mündlichen Verhandlung im Kündigungsschutzprozess. Dem Kläger kann auch nicht
entgegengehalten werden, er habe es versäumt, die Aussetzung des Verfahrens nach
§ 148 ZPO zu beantragen. Dazu war er nicht gehalten (vgl. BAG 15. August 1984 - 7 AZR
558/82 - zu I 4 b der Gründe, AP SchwbG § 12 Nr. 13 = EzA ZPO § 580 Nr. 2;
25. November 1980 - 6 AZR 210/80 - zu II 1 der Gründe, BAGE 34, 275).
26 II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich im Ergebnis gleichwohl als
zutreffend dar (§ 561 ZPO). Die Restitutionsklage ist unbegründet. § 580 Nr. 6 ZPO greift
nicht ein. Andere Anfechtungsgründe liegen nicht vor.
27 1. Die Voraussetzungen einer Restitution nach § 580 Nr. 6 ZPO liegen nicht vor.
28 a) Eine Wiederaufnahme des Ursprungsverfahrens setzt nach dieser Bestimmung dreierlei
voraus: (erstens) ein präjudizielles Urteil, auf dem (zweitens) das mit der Restitutionsklage
angegriffene Urteil beruht, und (drittens) ein weiteres - rechtskräftiges - Urteil, durch das
das präjudizielle Urteil aufgehoben wurde (BAG 17. Juni 1998 - 2 AZR 519/97 - zu II 1 der
Gründe; 25. November 1980 - 6 AZR 210/80 - zu II 2 der Gründe, BAGE 34, 275;
Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 580 Nr. 13; Musielak ZPO 8. Aufl. § 580 Rn. 12). Die
gegenteilige Auffassung des Landesarbeitsgerichts, eine Restitutionsklage könne nur
Erfolg haben, wenn das mit ihr angegriffene Urteil durch ein anderes rechtskräftiges Urteil
aufgehoben worden sei, widerspricht dem eindeutigen Wortlaut des § 580 Nr. 6 ZPO und
würde eine Restitution unnötig machen.
29 b) Im Streitfall liegen nur zwei Urteile vor: das im Ausgangsverfahren ergangene Urteil des
Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 und - je nach Gegenstand der Verurteilung -
das rechtskräftige Strafurteil des Landgerichts Chemnitz vom 3. April 2009 bzw. das
teilweise in Rechtskraft erwachsene Urteil des Amtsgerichts Chemnitz vom 7. Dezember
2007. Das angegriffene Urteil gründet nicht auf ein anderes - präjudizielles - Urteil,
sondern auf den - seinerzeit - ergebnislosen Verlauf zweier Ermittlungsverfahren und eine
damit im Zusammenhang stehende Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft. Diese
ist kein Urteil. Eine direkte Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO scheidet damit aus.
30 c) § 580 Nr. 6 ZPO ist nicht entsprechend anzuwenden. Eine staatsanwaltschaftliche
Einstellungsverfügung nach § 170 Abs. 2 StPO und erst recht der „ergebnislose“ Verlauf
eines Ermittlungsverfahrens stehen einem präjudiziellen „Urteil“ im Sinne der Regelung
nicht gleich.
31 aa) Der Wiederaufnahmegrund des § 580 Nr. 6 ZPO findet, wie alle übrigen
Restitutionsgründe, seine Berechtigung in der Notwendigkeit, das Vertrauen in die
Rechtspflege zu sichern und die Autorität der Gerichte zu wahren (BAG 15. August 1984 -
7 AZR 558/82 - zu I 5 b der Gründe, AP SchwbG § 12 Nr. 13 = EzA ZPO § 580 Nr. 2). Die
in § 580 ZPO geregelten Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass die Fehlerhaftigkeit des
vorangehenden Urteils nachträglich evident geworden ist und die materielle Gerechtigkeit
eine Aufhebung dieses Urteils verlangt. Sie sind zwar trotz ihres Ausnahmecharakters
grundsätzlich einer erweiternden Auslegung zugänglich (vgl. BAG 15. August 1984 -
7 AZR 558/82 - aaO; BFH 27. September 1977 - VII K 1/76 - BFHE 123, 310). Dabei muss
aber berücksichtigt werden, dass es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers ist, einen
Widerstreit zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit einerseits und der Forderung nach
materieller Gerechtigkeit andererseits - Grundsätzen, die beide aus dem
Rechtsstaatsprinzip folgen - zum Ausgleich zu bringen (BVerfG 19. Oktober 2006 - 2 BvR
1486/06 - zu 1 der Gründe, NVwZ 2007, 77; 8. November 1967 - 1 BvR 60/66 - zu B II 2
der Gründe, BVerfGE 22, 322; vgl. ferner BAG 28. Januar 2010 - 2 AZR 985/08 - Rn. 33,
BAGE 133, 149; BVerwG 24. Juni 1994 - 6 B 29.93 - Buchholz 330 ZPO § 580 Nr. 4). Mit
Rücksicht auf die Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) kann
eine analoge Anwendung der Anfechtungsgründe des § 580 ZPO nur in engen Grenzen in
Betracht kommen.
32 bb) Eine analoge Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO wird dementsprechend befürwortet mit
Blick auf solche Entscheidungen, die ihrer Bedeutung nach einem Urteil gleichkommen
und (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 69. Aufl. § 580 Rn. 9; Zöller/Greger
ZPO 28. Aufl. § 580 Rn. 13). In diesem Sinne wurde einem Urteil gleichgestellt etwa ein
Zurückweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO, der vom Bundesverfassungsgericht
aufgehoben worden war (vgl. BGH 23. November 2006 - IX ZR 141/04 - MDR 2007, 600).
Auch die Aufhebung eines Schiedsspruchs (§ 1055 ZPO) kann einen Restitutionsgrund
iSv. § 580 Nr. 6 ZPO bilden (BGH 17. Januar 2008 - III ZR 320/06 - Rn. 13, MDR 2008,
460).
33 cc) Als Restitutionsgrund iSv. Nr. 6 kommt zudem die Aufhebung eines Verwaltungsakts in
Betracht, auf den das mit der Restitutionsklage angegriffene Urteil gegründet ist (statt
vieler: Musielak ZPO 8. Aufl. § 580 Rn. 12; Rosenberg/Schwab/Gottwald ZPO 17. Aufl.
§ 160 Rn. 20; Zöller/Greger ZPO 28. Aufl. § 580 Rn. 13; offengelassen von BGH
21. Januar 1988 - III ZR 252/86 - zu 2 a der Gründe, BGHZ 103, 121). Im Schrifttum
bestehen dabei unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Anforderungen an das
Zustandekommen und den Inhalt eines solchen Verwaltungsakts zu stellen sind
(Haueisen NJW 1965, 1214; MünchKommZPO/Braun 3. Aufl. § 580 Rn. 37, 38 mwN). Das
Bundesarbeitsgericht geht vom Vorliegen eines Restitutionsgrundes aus, wenn ein
Verwaltungsakt, der Wirksamkeitsvoraussetzung für eine rechtsgeschäftliche
Willenserklärung ist - wie gemäß § 85 SGB IX die vorherige Zustimmung des
Integrationsamts zur Kündigung eines Schwerbehinderten -, durch Urteil aufgehoben wird
und hierdurch die Grundlage für eine arbeitsgerichtliche Entscheidung über die
Wirksamkeit der Willenserklärung entfällt (BAG 17. Juni 1998 - 2 AZR 519/97 - zu II 1 der
Gründe). Dies beruht auf dem Gedanken der Einheit der rechtsprechenden Gewalt.
Divergierende Entscheidungen der verschiedenen Zweige der Gerichtsbarkeit sollen
vermieden werden. § 580 Nr. 6 ZPO drückt seit der Novellierung der Zivilprozessordnung
im Jahre 1933 (RGBl. I S. 783), die den Restitutionsgrund der Nr. 6 neben
strafgerichtlichen Urteilen auf die dort weiter genannten Entscheidungen erstreckt hat, den
Grundsatz aus, es müssten Urteile trotz ihrer Rechtskraft angegriffen werden können,
wenn ihre Richtigkeit so sehr in Frage steht, dass es nicht angeht, dies auf sich beruhen
zu lassen. Die Restitutionsklage soll verhindern, dass rechtskräftige Urteile nicht mehr
überprüft werden können, obwohl ihre Grundlagen für jedermann erkennbar in einer für
das allgemeine Rechtsempfinden unerträglichen Weise erschüttert sind. Dieser Grundsatz
verlangt Geltung auch für einen Verwaltungsakt, von dem die Wirksamkeit einer privaten
Willenserklärung abhängt (BAG 17. Juni 1998 - 2 AZR 519/97 - aaO; 25. November 1980 -
6 AZR 210/80 - zu II 2 b der Gründe, BAGE 34, 275).
34 dd) Der „ergebnislose Verlauf“ eines Ermittlungsverfahrens, auf den sich das angegriffene
Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 ua. stützt, kann solchen Fällen nicht
gleichgestellt werden. Dies gilt selbst dann, wenn das Nichtbetreiben eines
Ermittlungsverfahrens auf einer bewussten Entscheidung der Staatsanwaltschaft beruhen
sollte. Ungeachtet ihrer Zulässigkeit fehlt einer solchen „Entscheidung“ jedwede
Förmlichkeit und die Fähigkeit, in Bestands- oder gar Rechtskraft zu erwachsen, wie sie
für eine „urteilsgleiche“ Entscheidung iSv. § 580 Nr. 6 ZPO zwingend zu verlangen ist.
35 ee) Die förmliche Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 ZPO
stellt ebenso wenig eine „urteilsgleiche“ Entscheidung iSv. § 580 Nr. 6 ZPO dar. Sie gibt
lediglich das rechtliche Ergebnis der Ermittlungen zu einem bestimmten Stand wieder und
beruht auf einer negativen Prognose der Staatsanwaltschaft darüber, ob sie nach dem
aktuellen Sachstand am Ende einer Hauptverhandlung zum Antrag auf Verurteilung
gelangen wird. Eine Einstellung ist zudem aus Gründen der Opportunität möglich. Ihr
kommt keinerlei formelle Bindung zu. Eine Wiederaufnahme der Ermittlungen oder eine
Anklageerhebung ist nicht an das Vorliegen äußerer Umstände - etwa das Bekanntwerden
neuer Tatsachen oder Beweismittel - gebunden, sondern ist jederzeit möglich. Es genügt
die andere Beurteilung der rechtlichen oder tatsächlichen Lage durch einen anderen oder
auch den bisherigen Dezernenten (Graalmann-Scheerer in Löwe/Rosenberg StPO
26. Aufl. § 170 Rn. 50 mwN). Ein Vertrauen auf den Bestand der Einstellungsverfügung ist
demnach nicht berechtigt. Auch irgendeine materielle Rechtskraftwirkung scheidet aus;
insbesondere geht mit einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO kein Strafklageverbrauch
einher (BAG 5. April 2001 - 2 AZR 217/00 - zu II 2 c der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht
strafbarer Handlung Nr. 34 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 10;
20. August 1997 - 2 AZR 620/96 - zu II 1 c der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer
Handlung Nr. 27 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 7). Mit ihr ist keine
Aussage darüber verbunden, ob Gründe für eine vorausgegangene Anzeigenerstattung
vorlagen. Soweit Arbeitsgerichte mit denselben Fragen befasst sind, kann die
Einstellungsverfügung allenfalls eine Entscheidungshilfe bieten; die tatsächlichen und
rechtlichen Umstände sind von den Gerichten für Arbeitssachen im Rahmen ihrer
Aufklärungspflicht selbständig auf ihre Wahrheit und Richtigkeit hin zu prüfen. In der
Wiederaufnahme der Ermittlungen und einem nachfolgenden, zur Verurteilung führenden
Strafurteil liegt deshalb keine „rechtskräftige“, ex tunc wirkende „Aufhebung“ der
vorausgegangenen staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung, von der § 580 Nr. 6
ZPO spricht. Die gegenteilige Auffassung würde die vom Gesetzgeber mit dieser Vorschrift
zugunsten des Prinzips der Rechtssicherheit getroffene Regelung unter Verstoß gegen
Art. 20 Abs. 3 GG gleichsam außer Kraft setzen.
36 ff) Es kommt nicht darauf an, ob das Landesarbeitsgericht in dem mit der Restitutionsklage
angegriffenen Urteil die Sach- und Rechtslage zutreffend beurteilt hat, insbesondere
seiner Verpflichtung, den ihm unterbreiteten Kündigungssachverhalt eigenständig zu
bewerten und umfassend aufzuklären, ausreichend nachgekommen ist. Gegen solche
Rechtsfehler kann Abhilfe nur im ordentlichen Rechtsmittelverfahren gesucht werden.
Allein der Umstand, dass sich nachträglich bessere Erkenntnismöglichkeiten ergeben
haben mögen, ändert daran nichts. Es mag unter den im Streitfall gegebenen Umständen
schwerfallen, das angegriffene Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005
hinzunehmen. Die spätere strafgerichtliche Verurteilung des ehemaligen
Vorstandsvorsitzenden des Beklagten ist aus den dargelegten Gründen gleichwohl kein
Fall des § 580 Nr. 6 ZPO.
37 2. Für das Vorliegen sonstiger Restitutionsgründe fehlt es an Anhaltspunkten. Auf sein
Vorbringen, der ehemalige Vorstandsvorsitzende habe das Urteil des
Landesarbeitsgerichts vom 19. Januar 2005 durch wahrheitswidrigen Vortrag erwirkt, ist
der Kläger in der Revision nicht mehr zurückgekommen. Die Würdigung des
Landesarbeitsgerichts, insoweit fehle es schon an der schlüssigen Darlegung eines
Anfechtungsgrundes iSv. §§ 580 Nr. 4, 581 Abs. 1 ZPO, lässt keinen Rechtsfehler
erkennen.
38 III. Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Kreft
Rachor
Berger
Nielebock
Dr. Roeckl