Urteil des BAG vom 19.06.2007

BAG: Außerordentliche Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes, ablauf der frist, fristlose kündigung, fristablauf, zugang, zustellung, form, fristversäumnis, bekanntgabe, rückzahlung

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 19.6.2007, 2 AZR 226/06
Außerordentliche Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamtes
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
München vom 9. November 2005 - 10 Sa 532/05 - wird auf Kosten des
Beklagten zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten in der Revision noch über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.
2 Der Kläger war seit 1971 als Rettungsassistent bei dem Beklagten angestellt. Er war zuletzt als
sog. Wachleiter tätig, dem auch die Führung der Schichtpläne oblag. Der Kläger ist anerkannter
Schwerbehinderter. Wegen des Vorwurfs der Manipulation der Schichtpläne und der Erschleichung
von Arbeitsentgelt für nicht geleistete Dienste beantragte der Beklagte unter dem 20. September
2002 die Zustimmung des Integrationsamtes zu einer fristlosen Kündigung des Klägers. Diesem
Antrag wurde vom Integrationsamt nicht stattgegeben. Erst durch verwaltungsgerichtliches Urteil
vom 2. August 2005 wurde inzwischen auf diesen Antrag hin die Zustimmung erteilt.
3 Mit Schreiben vom 11. November 2002 - Zugang beim Integrationsamt am 14. November 2002 -
beantragte der Beklagte erneut die Zustimmung zur fristlosen Kündigung. In einem vom
Prozessbevollmächtigten des Beklagten mit dem zuständigen Mitarbeiter des Integrationsamtes
am 28. November 2002 geführten Gespräch erklärte dieser: “Wir lassen die Sache verfristen”. Mit
Schreiben vom 28. November 2002 - dem Kläger am selben Tage zugegangen - kündigte der
Beklagte daraufhin das Arbeitsverhältnis fristlos. Mit Schreiben vom 29. November 2002 wies das
Integrationsamt die Parteien schriftlich darauf hin, innerhalb der Frist des § 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX
sei keine Entscheidung getroffen worden. Auf den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers
hat der Widerspruchsausschuss mit Bescheid vom 18. Juni 2004 den Antrag des Beklagten vom
11. November 2002 auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Klägers abgelehnt.
Ausweislich des Widerspruchsbescheids hatte das Schreiben des Integrationsamtes vom
29. November 2002 folgenden Wortlaut:
“Der BRK Kreisverband A - Land - hat mit dem am 14.11.2002 eingegangenen Schreiben
die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des mit Herrn G bestehenden
Arbeitsverhältnisses beantragt. Wir haben innerhalb zwei Wochen nach Eingang des
Antrags darüber zu entscheiden (§ 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Wird innerhalb dieser Frist
eine Entscheidung nicht getroffen, gilt die Zustimmung kraft Gesetzes als erteilt (§ 91 Abs. 3
Satz 2 SGB IX). Die Frist zur Entscheidung ist am Donnerstag, den 28.11.2002 abgelaufen.
Da innerhalb dieser Frist keine Entscheidung ergangen ist, gilt die Zustimmung zur
außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses als erteilt (Zustimmungsfiktion).”
4 Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben. Die Kündigung sei schon wegen der im
Kündigungszeitpunkt fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes unwirksam. Zudem sei die
Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe der
unrichtigen Arbeitsaufschreibung seien unberechtigt. Er habe nur in zwei Fällen einer kurzfristigen
Änderung von Schichteinsätzen, die er tatsächlich selbst nicht vorgenommen habe, die Eintragung
der entsprechenden Änderung vergessen. Dies sei auf hohen Stress und Arbeitsbelastung
zurückzuführen gewesen. Soweit in diesem Zusammenhang Überzahlungen vorgekommen seien,
sei er zur Rückzahlung bereit.
5 Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung des
Beklagten vom 28. November 2002 nicht aufgelöst wurde.
6 Der Beklagte hat zur Stützung seines Klageabweisungsantrags behauptet, der Kläger habe in einer
Reihe von Fällen für sich Dienste abgerechnet, ohne diese tatsächlich geleistet zu haben. Die
Dienste seien von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleistet worden, die der Kläger aus eigenen Mitteln
oder aus der Wachkasse, die private Gelder der Mitarbeiter enthalten habe, bezahlt habe.
Insgesamt habe der Kläger einen Betrag von ca. 1.500,00 Euro zu Unrecht erhalten, den der
Beklagte widerklagend geltend gemacht hat.
7 Die Zustimmung des Integrationsamtes habe bei Ausspruch der Kündigung vorgelegen. Das
Kündigungsschreiben sei am 28. November 2002 erst nach der Mitteilung des Integrationsamtes,
man werde die Sache verfristen lassen, dem Kläger übergeben worden.
8 Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr
auf die Berufung des Klägers stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen
Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision ist unbegründet. Die Kündigung des Beklagten ist rechtsunwirksam, weil sie ohne
vorherige Zustimmung des Integrationsamtes iSv. §§ 85, 91 SGB IX erklärt worden ist.
10 I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Kündigung sei wegen fehlender Zustimmung
des Integrationsamtes unwirksam. Eine ausdrückliche Zustimmung habe am 28. November 2002
noch nicht vorgelegen; der Hinweis, man wolle die Sache verfristen lassen, genüge dem nicht. Die
Zweiwochenfrist des § 91 Abs. 3 SGB IX sei erst mit Ablauf des 28. November abgelaufen, so
dass bei Zugang des Kündigungsschreibens bereits im Laufe des 28. November die
Zustimmungserklärung auch noch nicht als erteilt gegolten habe.
11 II. Dem folgt der Senat im Ergebnis und auch in der Begründung. Die Kündigung vom
28. November 2002, mit der der Beklagte das Arbeitsverhältnis des schwerbehinderten Klägers
außerordentlich beenden wollte, ist nach § 134 BGB nichtig. Ihr mangelt es an der gesetzlich
vorgeschriebenen Zustimmung des Integrationsamtes nach § 91 Abs. 1, § 85 SGB IX. Im
Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung lag weder eine Zustimmungserklärung des
Integrationsamtes nach § 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX vor noch war eine solche wegen
Fristversäumnis nach § 91 Abs. 3 Satz 2 SGB IX zu fingieren.
12 1. Das Integrationsamt hat der Kündigung bis zum Zugang des Kündigungsschreibens am
28. November 2002 nicht zugestimmt. Eine Entscheidung des Inhalts, der Kündigung werde
zugestimmt, ist innerhalb der Zweiwochenfrist nach § 91 Abs. 3 SGB IX vom Integrationsamt
gerade nicht getroffen worden.
13 a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Arbeitgeber eine
außerordentliche Kündigung bereits dann erklären, wenn die Zustimmungsentscheidung vom
Integrationsamt iSd. § 91 Abs. 3 SGB IX “getroffen” ist und das Integrationsamt sie dem
Arbeitgeber innerhalb der gesetzlichen Zweiwochenfrist mündlich oder fernmündlich bekannt
gegeben hat. Anders als bei einer ordentlichen Kündigung bedarf es der Zustellung der -
schriftlichen - Entscheidung des Integrationsamtes vor dem Zugang der Kündigungserklärung
nicht. § 91 SGB IX enthält eine von § 88 SGB IX abweichende, speziellere Regelung (zuletzt BAG
12. Mai 2005 - 2 AZR 159/04 - AP SGB IX § 91 Nr. 5 = EzA SGB IX § 91 Nr. 2 mwN) . Dabei ist
nicht einmal erforderlich, dass die Zustimmungsentscheidung schon zum Zeitpunkt ihrer
Bekanntgabe an den Arbeitgeber in schriftlicher Form vorliegt. Die nach § 88 Abs. 2 SGB IX
erforderliche Zustellung an beide Parteien ist nur insoweit von Bedeutung, als von ihr der Beginn
der verwaltungsprozessualen Widerspruchsfrist abhängt (vgl. BAG 15. November 1990 - 2 AZR
255/90 - AP SchwbG 1986 § 21 Nr. 6 = EzA SchwbG 1986 § 21 Nr. 3) . So reicht es etwa aus,
dass die Zustimmung zur Kündigung durch das Integrationsamt im Verhandlungstermin mündlich
erteilt wird (BAG 12. Mai 2005 - 2 AZR 159/04 - aaO) .
14 b) Stets ist jedoch nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut erforderlich, dass das Integrationsamt
die Zustimmung zur Kündigung vor Kündigungsausspruch erteilt, dh. eine entsprechende
Entscheidung “getroffen” hat. Beschränkt sich das Integrationsamt darauf, gerade keine
zustimmende Entscheidung iSv. § 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX zu treffen, sondern den Fristablauf
nach § 91 Abs. 3 Satz 2 SGB IX abzuwarten, stellt dies nicht die nach § 91 SGB IX erforderliche
Zustimmungsentscheidung dar. Das bloße Verstreichenlassen der Frist führt lediglich - allerdings
erst nach Fristablauf - dazu, dass eine tatsächlich nicht getroffene Zustimmungsentscheidung
fingiert wird.
15 c) Zutreffend geht das Landesarbeitsgericht davon aus, das Integrationsamt habe der Kündigung
des Klägers bis zum Kündigungsausspruch am 28. November 2002 nicht, auch nicht mündlich
zugestimmt. Wenn der Sachbearbeiter des Integrationsamtes dem Prozessbevollmächtigten des
Beklagten telefonisch erklärt hat: “Wir lassen die Sache verfristen”, so stellt dies gerade keine dem
Kündigungsantrag des Arbeitgebers stattgebende Entscheidung dar. Durch die bloße
Ankündigung, es sei beabsichtigt, die Frist des § 91 Abs. 3 SGB IX verstreichen zu lassen, wird
im Gegenteil klargestellt, dass das Integrationsamt innerhalb der Frist des § 91 Abs. 3 SGB IX
keine positive Entscheidung über den Zustimmungsantrag des Arbeitgebers treffen will. Noch
deutlicher ergibt sich dies aus dem Schreiben vom 29. November 2002, mit dem das
Integrationsamt unter der nach § 88 Abs. 2, § 91 Abs. 1 SGB IX erforderlichen Zustellung den
Beteiligten bekannt gibt, dass innerhalb der Frist des § 91 Abs. 3 SGB IX keine Entscheidung
getroffen worden ist und deshalb mit Fristablauf die Fiktion einer Zustimmung eingetreten ist.
16 2. Bei Ausspruch der Kündigung am 28. November 2002 lagen auch die Voraussetzungen für die
Fiktion einer Zustimmung gem. § 91 Abs. 3 Satz 2 SGB IX nicht vor. Das Gesetz lässt die
Zustimmungsfiktion erst mit Ablauf der Frist des § 91 Abs. 3 SGB IX eintreten. Die Frist lief hier
aber erst am 28. November 2002 um Mitternacht ab, die Kündigung ist dem Kläger hingegen
schon vorher zugegangen.
17 Zu Unrecht geht die Revision davon aus, dass insoweit die mündliche Ankündigung des
Sachbearbeiters des Integrationsamtes ausreichen müsse, man werde die Frist verstreichen
lassen. Diese mündliche Stellungnahme eines Sachbearbeiters stellt lediglich einen Hinweis dar,
wie das Integrationsamt auf den Zustimmungsantrag des Beklagten zu reagieren beabsichtigte.
Sie nimmt nicht auf eine bereits getroffene positive Entscheidung über den Zustimmungsantrag
Bezug. Insoweit ist der vorliegende Fall mit dem Ausgangsfall der Senatsentscheidung vom
12. Mai 2005 (- 2 AZR 159/04 - AP SGB IX § 91 Nr. 5 = EzA SGB IX § 91 Nr. 2) nicht
vergleichbar. Im vorliegenden Fall war aus der telefonischen Erklärung des Sachbearbeiters klar,
dass am 28. November 2002 eine positive Entscheidung über den Zustimmungsantrag nicht
getroffen worden war, eine solche auch nicht erfolgen sollte und eine Zustimmungsfiktion erst nach
Fristablauf eintreten würde. Eine solche Erklärung berechtigte den Beklagten nicht, noch vor
Fristablauf zu kündigen.
Rost
Bröhl
Schmitz-Scholemann
J. Lücke
Torsten Falke