Urteil des BAG vom 19.06.2007

BAG: Auslegung eines Sozialplans, Ausschlussfrist des § 24 HTV DRK Östliche Altmark, abfindung, fälligkeit, verzicht, beendigung, arbeitsbedingungen, anschluss, betriebsrat, geschäftsführung

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 19.6.2007, 1 AZR 541/06
Auslegung eines Sozialplans - Ausschlussfrist des § 24 HTV DRK Östliche Altmark
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Sachsen-Anhalt vom 12. April 2006 - 7 (10) Sa 628/05 - aufgehoben.
2. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stendal
vom 19. Juli 2005 - 3 Ca 1413/04 - wird zurückgewiesen.
3. Der Beklagte hat auch die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über eine Abfindung.
2 Der Beklagte ist ein Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes. Er beschäftigte im Jahr 2004
etwa 550 Mitarbeiter. Im Auftrag des Landkreises S betrieb er dort den Rettungsdienst. Der Kläger
war bei ihm unter Anrechnung einer Betriebszugehörigkeit ab dem 1. Dezember 1968 als
Rettungssanitäter beschäftigt. Dessen Bruttomonatsgehalt betrug zuletzt 2.472,89 Euro. Nach dem
Arbeitsvertrag vom April 1992 „bestimmt sich (das Arbeitsverhältnis) nach dem DRK-
Tarifvertrag/DRK-Arbeitsbedingungen in der für den Arbeitgeber jeweils geltenden Fassung“. Ein
zwischen dem Beklagten und dem Deutschen Handels- und Industrieangestellten-Verband im
Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands (DHV) geschlossener Haustarifvertrag vom
14. Januar 2003 (HTV) sieht in § 24 vor, dass „alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis …
innerhalb von einem Monat nach dem Zeitpunkt ihres Entstehens schriftlich geltend gemacht
werden (müssen)“.
3 Der an den Beklagten vergebene Auftrag zum Rettungsdienst war bis zum 31. Dezember 2004
befristet. Im Rahmen der Neuausschreibung gab der Beklagte im Frühjahr 2004 ein Angebot ab,
welches der Landkreis im September 2004 negativ beschied. Am 11. Juni 2004 hatte der Beklagte
mit dem bei ihm gewählten Betriebsrat eine „Betriebsvereinbarung über Regelungen eines
Interessenausgleiches/Sozialplanes” (BV) geschlossen. Darin heißt es:
„Im Zusammenhang mit den erforderlichen betriebsbedingten Kündigungen von Mitarbeitern
des Bereiches Rettungsdienst zum 31.12.2004 wird folgender Interessenausgleich vereinbart:
1.
Begründung zur Notwendigkeit einer betriebsbedingten Kündigung der Mitarbeiter im
Bereich Rettungsdienst
Die Genehmigung zur Durchführung der Aufgaben des Landkreises S im Rettungsdienst …
ist bis zum 31.12.2004 befristet. Da gegenwärtig ein Ergebnis der laufenden Ausschreibungen
… nicht bekannt sein kann, muss der (Beklagte) zur Vermeidung erheblicher negativer
betriebswirtschaftlicher Auswirkungen und unter Einhaltung der überwiegend sechsmonatigen
Kündigungsschutzfristen betriebsbedingte Kündigungen zum 31.12.2004 bis zum 30.06.2004
aussprechen. Eine namentliche Aufstellung der zu kündigenden Mitarbeiter ist als Anlage
beigefügt.
3.
Angebot einer Abfindung
Im Sinne des modifizierten § 1a Kündigungsschutzgesetz wird allen Mitarbeitern, die durch
Verstreichenlassen der dreiwöchigen Klagefrist keine Kündigungsschutzklage erheben, eine
Abfindung nach der Berechnungsformel 50 % des letzten Bruttogehaltes x anerkannter
Betriebsjahre für den Fall, dass eine Weiterbeschäftigung ab dem 01.01.2005 nicht möglich ist,
gezahlt.
Sollte im Ergebnis der laufenden Ausschreibung ein Mitbewerber gekündigte Arbeitnehmer
des DRK-Rettungsdienstes übernehmen oder der betroffene Arbeitnehmer direkt im
Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Tätigkeit gefunden haben,
wird an diese Mitarbeiter keine Abfindung gezahlt. Im Falle der Inanspruchnahme dieses
Angebotes wird sich der betreffende Arbeitnehmer mit einem Antrag an die Geschäftsführung
wenden. In die daraufhin abzuschließende Vereinbarung wird als Zahlungsziel für die
Abfindung ein Zeitraum von vier Wochen vereinbart.
Ansprüche aus dem Sozialplan werden erst mit Abschluss eines möglichen
Kündigungsschutzverfahrens erfüllt.”
4 Nr. 4 BV enthält für den Fall des Erfolgs bei der Neuvergabe des Rettungsdienstes eine
Wiedereinstellungszusage.
5 Der Beklagte kündigte die Arbeitsverhältnisse von 65 Arbeitnehmern im Rettungsdienst zum Ende
des Jahres 2004. Mit Schreiben vom 15. Juni und 22. September 2004 kündigte er auch das
Arbeitsverhältnis des Klägers. Dagegen erhob dieser rechtzeitig Klage. Er erweiterte sie mit einem
dem Beklagten am 2. Februar 2005 zugestellten Schriftsatz um einen Antrag auf Zahlung einer
Abfindung in Höhe von 45.784,65 Euro. Am 9. März 2005 einigten sich die Parteien außergerichtlich
darauf, dass der Beklagte eine Abfindung in Höhe von 25.000,00 Euro zahlen würde und der Kläger
nach Zahlungseingang „die Klagen gegen die Kündigungen vom 15.06.2004 und 22.09.2004 vor
dem Arbeitsgericht“ zurücknähme. Nach Zahlung des Abfindungsbetrags nahm der Kläger die
Kündigungsschutzklage zurück.
6 Sein Zahlungsbegehren verfolgt der Kläger in rechnerisch korrigierter Höhe weiter. Er hat die
Auffassung vertreten, ihm stehe der weitergehende Abfindungsanspruch nach Nr. 3 BV zu. Ein für
den Fall der Erhebung einer Kündigungsschutzklage vorgesehener Ausschluss von
Sozialplanansprüchen sei rechtsunwirksam. Die Verfallfrist in § 24 HTV komme wegen unzulässig
kurzer Dauer, wegen seiner Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft ver.di und mangels Tariffähigkeit
des DHV nicht zur Anwendung.
7 Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 19.512,02 Euro zu zahlen.
8 Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Ansicht vertreten, Nr. 3 BV sei keine
anspruchsbegründende Sozialplanregelung, sondern eine bloße Absichtserklärung im Rahmen
eines Interessenausgleichs. Ein Anspruchsausschluss für den Fall der Klageerhebung sei deshalb
zulässig. Im Übrigen verhalte sich der Kläger treuwidrig. Er verstoße jedenfalls gegen den Geist der
außergerichtlichen Vereinbarung vom 9. März 2005 und habe außerdem einen ihm im Dezember
2004 angebotenen Arbeitsplatz als Hilfspfleger ausgeschlagen.
9 Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit
seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Dem
Kläger steht der erhobene Anspruch zu.
11 I. Der Klageanspruch ist entstanden. Er folgt aus Nr. 3 BV iVm. § 112 Abs. 1 Satz 3, § 77 Abs. 4
BetrVG.
12 1. Nr. 3 BV ist keine Absichtsbekundung, sondern eine Regelung in einem Sozialplan, die
unmittelbare normative Ansprüche begründet.
13 a) Die Auslegung eines Sozialplans richtet sich wegen der normativen Wirkung seiner Regelungen
(§ 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG) nach den Grundsätzen der Tarif- und Gesetzesauslegung. Deren
Anwendung setzt nicht voraus, dass die Normqualität der auszulegenden Bestimmungen bereits
feststünde. Es geht darum, wie Dritte - Normunterworfene und Gerichte - die Bestimmungen zu
verstehen haben. Die Frage nach ihrem Inhalt und die Frage, ob es sich um Normen handelt,
lassen sich nicht trennen. Beide sind nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung zu
beantworten (BAG 3. Mai 2006 - 1 ABR 2/05 - Rn. 32, AP BetrVG 1972 § 99 Eingruppierung Nr. 31
= EzA BetrVG 2001 § 99 Umgruppierung Nr. 3, zu B II 2 c aa (2) (a) der Gründe mwN) .
14 Auszugehen ist vom Wortlaut der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn.
Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn ist der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von
ihnen beabsichtigte Zweck der betrieblichen Regelungen zu berücksichtigen, sofern und soweit sie
im Regelungswerk ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den
Gesamtzusammenhang der Regelung, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der
Betriebsparteien liefern kann. Bleiben im Einzelfall gleichwohl Zweifel, können die Gerichte ohne
Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien zurückgreifen, etwa auf die
Entstehungsgeschichte und die bisherige Anwendung der Regelung in der Praxis. Auch die
Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt
derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, gesetzeskonformen
und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr., BAG 3. Mai 2006 - 1 ABR 2/05 - Rn. 33, aaO
mwN) .
15 b) Danach ist Nr. 3 BV eine Sozialplanregelung mit normativer Wirkung.
16 aa) Dafür spricht schon der Wortlaut. Die Regelungen der BV stehen sämtlich unter der
Überschrift „Betriebsvereinbarung über Regelungen eines Interessenausgleiches/Sozialplanes“,
zudem werden nach Nr. 3 Satz 5 BV „Ansprüche aus dem Sozialplan“ erfüllt. Aus der Wortwahl
wird deutlich, dass die Betriebsparteien über die geplante Betriebsänderung - die Entlassung von
mehr als 60 bei insgesamt rund 550 Arbeitnehmern - Interessenausgleichs- und
Nachteilsausgleichsregelungen nach §§ 111, 112 BetrVG treffen wollten. Darin vorgesehene
Ansprüche sollten den Status von kollektiven Nachteilsausgleichsansprüchen erhalten.
17 Dem steht der Einleitungssatz der BV nicht entgegen. Nach seinem Wortlaut wird zwar „folgender
Interessenausgleich vereinbart“. Die Formulierung beruht aber erkennbar auf Nachlässigkeit.
Schon am 7. Mai 2004 hatten die Betriebsparteien eine Vereinbarung getroffen, die sie mit
„Interessenausgleich“ überschrieben haben. Sie enthält denselben Einleitungssatz. Bei der
späteren Ergänzung der Vereinbarung um Regelungen eines „Sozialplanes“ ist der Einleitungssatz
- obwohl sachlich auch aus Sicht der Betriebsparteien nicht mehr zutreffend - unverändert
geblieben. Er nimmt deshalb einem anschließend vorgesehenen Nachteilsausgleich nicht den
Charakter eines Sozialplananspruchs.
18 Nr. 3 Satz 1 BV sieht Nachteilsausgleichsansprüche für die Arbeitnehmer vor. Nach dieser
Bestimmung „wird allen Mitarbeitern … eine Abfindung … gezahlt“, wenn sie die Frist zur
Erhebung einer Kündigungsschutzklage verstreichen lassen. Eine solche Formulierung drückt
nicht eine noch unverbindliche Zahlungsabsicht, sondern eine feste Zahlungszusage aus.
19 bb) Dem entsprechen auch Sinn und Zweck der BV. Die Beteiligung des Betriebsrats ist nur zur
Begründung normativer Ansprüche der Arbeitnehmer erforderlich. Zudem wird nur durch die
Vereinbarung solcher Ansprüche das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 112 Abs. 4
BetrVG verbraucht. Hätten die Betriebsparteien in Nr. 3 Satz 1 BV nicht kollektivrechtliche,
normative Ansprüche begründet, könnte der Betriebsrat weiterhin den Abschluss eines
Sozialplans nach § 112 BetrVG verlangen und gegebenenfalls mit Hilfe der Einigungsstelle
durchsetzen. Das entspräche weder den Interessen der Belegschaft noch denen des Beklagten.
20 cc) Diesem Auslegungsergebnis stehen systematische Gesichtspunkte nicht entgegen. Zwar ist
in der Überschrift zu Nr. 3 BV von dem „Angebot einer Abfindung“ die Rede und heißt es in Satz 3
der Regelung, „im Falle der Inanspruchnahme dieses Angebotes“ werde sich der Arbeitnehmer
„mit einem Antrag an die Geschäftsführung wenden“. Auf diese Weise soll aber dem Beklagten
lediglich die Möglichkeit verschafft werden zu prüfen, ob die negativen Voraussetzungen für den
Abfindungsanspruch nach Nr. 3 Satz 2 BV - keine Übernahme durch „Mitbewerber“, kein neuer
Arbeitsplatz im unmittelbaren Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses - erfüllt sind.
Diese Verfahrensweise schließt einen normativen Status des Abfindungsanspruchs nach Nr. 3
Satz 1 BV nicht aus.
21 2. Der Umstand, dass der Kläger gegen die Kündigung vom 15. Juni 2004 Klage erhoben hat,
steht dem Zahlungsanspruch nicht entgegen. Die Entstehung des Sozialplananspruchs aus Nr. 3
Satz 1 BV war - anders als das Landesarbeitsgericht und offenbar die Parteien selbst gemeint
haben - nicht dadurch bedingt, dass innerhalb der Dreiwochenfrist des § 4 Satz 1 KSchG eine
Klage gegen die Kündigung nicht erhoben würde. Hätten die Betriebsparteien den Anspruch auf
Abfindung von der Nichterhebung einer Kündigungsschutzklage abhängig gemacht, hätten sie
insoweit eine wegen Verstoßes gegen § 75 Abs. 1 BetrVG unwirksame Regelung getroffen. Eine
solche Bedingung enthält Nr. 3 BV nicht.
22 a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dürfen Ansprüche auf
Leistungen aus Sozialplänen iSv. § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, die dem Ausgleich oder der
Milderung von wirtschaftlichen Nachteilen aus einer Betriebsänderung dienen, nicht vom Verzicht
auf die Erhebung einer Kündigungsschutzklage abhängig gemacht werden. Mit einer solchen
Regelung verstießen die Betriebsparteien gegen die Grundsätze von Recht und Billigkeit und den
ihnen innewohnenden betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz iSv. § 75
Abs. 1 BetrVG. Durch den Anspruchsausschluss würden Arbeitnehmer, die gegen ihre Kündigung
Klage erheben, schlechter gestellt als diejenigen, die von einer gerichtlichen Überprüfung der
Wirksamkeit der Kündigung absehen. Diese Ungleichbehandlung ist bei Wirksamkeit der
Kündigung nach Sinn und Zweck eines Sozialplans sachlich nicht gerechtfertigt. Daran hat sich
durch die am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Regelung des § 1a KSchG nichts geändert (BAG
31. Mai 2005 - 1 AZR 254/04 - BAGE 115, 68, 72 ff., zu II 1 b der Gründe) . Zulässig ist es
dagegen, die bloße Fälligkeit von Sozialplanansprüchen davon abhängig zu machen, dass der
Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage nicht erhebt oder im Kündigungsschutzprozess
rechtskräftig unterliegt (BAG 31. Mai 2005 - 1 AZR 254/04 - BAGE 115, 68, 73, zu II 1 b bb der
Gründe mwN) .
23 b) Die Betriebsparteien haben in Nr. 3 Satz 1 BV lediglich eine Fälligkeitsregelung getroffen. Dies
ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang von Nr. 3 Satz 1 BV und Nr. 3 Satz 5 BV
und dem Grundsatz der gesetzeskonformen Auslegung.
24 aa) Wenn die Erhebung einer Kündigungsschutzklage nach Nr. 3 Satz 1 BV dazu führte, dass
Abfindungsansprüche der klagenden Arbeitnehmer gar nicht erst entstünden, ergäbe Nr. 3 Satz 5
BV keinen Sinn. Dort heißt es, „Ansprüche aus dem Sozialplan (würden) erst mit Abschluss eines
möglichen Kündigungsschutzverfahrens erfüllt“. Für diese Bestimmung gäbe es keinen
Anwendungsbereich, wenn die Einleitung eines Kündigungsschutzverfahrens notwendig einen
Anspruchsausschluss zur Folge hätte. Sie setzt vielmehr voraus, dass trotz Klageerhebung
Ansprüche erfüllt werden müssen. Dass die Betriebsparteien eine inhaltsleere Regelung hätten
treffen wollen, kann nicht angenommen werden.
25 bb) Demgegenüber erweist sich Nr. 3 BV dann als widerspruchsfreie Regelung, wenn der Verzicht
auf eine Klageerhebung nicht als Voraussetzung für die Entstehung, sondern als Voraussetzung
für die Fälligkeit des Abfindungsanspruchs angesehen wird. Mit dem Wortlaut von Nr. 3 Satz 1 BV
ist diese Auslegung vereinbar. Er lässt es zu, die Bestimmung dahin zu verstehen, dass
Mitarbeiter, die keine Kündigungsschutzklage erheben, eine Abfindung „sofort“ erhalten, während
andernfalls die „Ansprüche aus dem Sozialplan“ gemäß Nr. 3 Satz 5 BV erst mit Abschluss des
Kündigungsschutzverfahrens erfüllt werden.
26 cc) Nr. 3 Sätze 3 und 4 BV stehen einem solchen Verständnis nicht entgegen. Diese
Bestimmungen regeln lediglich das Zustandekommen einer Abwicklungsvereinbarung für den Fall
der Nichterhebung einer Kündigungsschutzklage und geben dem Beklagten insoweit eine
bestimmte Frist zur Leistung der Abfindung vor. Erhebt der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage,
wird eine entsprechende Vereinbarung nicht getroffen. Die Regelungen schließen es nicht aus, den
Verzicht auf die Klageerhebung iSv. Nr. 3 Satz 1 BV als bloße Fälligkeitsvoraussetzung
anzusehen.
27 dd) Nach dem Grundsatz der gesetzeskonformen Auslegung untergesetzlicher Rechtsnormen ist
diejenige Auslegung einer Betriebsvereinbarung geboten, die ohne unüberwindbare Widersprüche
etwa zum Wortsinn der Bestimmung zu einer mit höherrangigem Recht zu vereinbarenden
Regelung führt. Auch unter diesem Aspekt ist in der Bedingung des Klageverzichts in Nr. 3 Satz 1
BV lediglich eine Fälligkeitsregelung zu sehen.
28 3. Der Kläger erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen für die Entstehung des
Abfindungsanspruchs. Eine Weiterbeschäftigung ab dem 1. Januar 2005 iSv. Nr. 3 Satz 1 BV war
nicht möglich. Dem steht das Angebot des Beklagten vom Dezember 2004, den Kläger ab dem
1. Januar 2005 als Hilfspfleger zu beschäftigen, nicht entgegen. Nach Nr. 3 Satz 1 BV hindert nicht
jedwede Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers den Abfindungsanspruch. Zum
Anspruchsausschluss führt allenfalls eine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung zu unveränderten
Bedingungen. Dies ergibt die Auslegung. Zwar lässt der Wortlaut ein anderes Verständnis zu. Es
wäre jedoch gänzlich ungewöhnlich, wenn die Betriebsparteien ohne Rücksicht auf die bisherigen
Arbeitsbedingungen und den erworbenen Besitzstand eines Arbeitnehmers jedes
Arbeitsplatzangebot durch den Beklagten für ausreichend angesehen hätten,
Nachteilsausgleichsansprüche auszuschließen. Mit der betreffenden Bedingung in Nr. 3 Satz 1 BV
haben die Betriebsparteien offensichtlich den Fall bedacht, dass der Beklagte noch vor Ablauf der
Kündigungsfrist den Zuschlag zur weiteren Durchführung des Rettungsdienstes erhielte. Dies zeigt
die Regelung in Nr. 4 BV, wonach bei einem späteren Zuschlag eine „zeitnahe Wiedereinstellung“
erfolgen sollte. Auch dabei geht es um eine Weiterbeschäftigung zu den bisherigen Bedingungen.
Trotz anderer - und möglicherweise schlechterer - Arbeitsbedingungen ist ein Abfindungsanspruch
gem. Nr. 3 Satz 2 BV nur dann ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer im unmittelbaren
Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Beklagten eine neue Tätigkeit
„gefunden“ hat. Das ist nur der Fall, wenn er freiwillig in schlechtere Arbeitsbedingungen
eingewilligt hat.
29 II. Der Klageanspruch ist nicht erloschen.
30 1. Der Anspruch ist nicht nach § 24 HTV verfallen. Dafür kommt es nicht darauf an, ob es sich bei
dieser Bestimmung um eine wirksame und auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anzuwendende
tarifvertragliche Regelung handelt. Auch wenn dies zugunsten des Beklagten unterstellt wird, ist
der Anspruch nicht verwirkt.
31 a) Zwar hat der Kläger seine Forderung nicht innerhalb eines Monats „nach dem Zeitpunkt ihres
Entstehens“ schriftlich geltend gemacht. Der Anspruch auf Abfindung entsteht regelmäßig mit der
rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Diese trat im Streitfall mit Ablauf des
31. Dezember 2004 ein. Der den Anspruch erstmals erhebende Schriftsatz des Klägers aus dem
Januar 2005 wurde dem Beklagten am 2. Februar 2005 und damit mehr als einen Monat nach
Anspruchsentstehung zugestellt. Die Klageerhebung ersetzt die schriftliche Erhebung des
Anspruchs nur, wenn sie innerhalb der Frist zugestellt wird. § 167 ZPO findet mangels
Erforderlichkeit einer Klage keine Anwendung (BAG 8. März 1976 - 5 AZR 361/75 - AP ZPO § 496
Nr. 4, zu 3 der Gründe mwN) . § 24 HTV ist jedoch dahin auszulegen, dass die Ausschlussfrist
auch dann, wenn der Anspruch schon entstanden ist, erst mit dessen Fälligkeit beginnt. Das folgt
aus dem Sinn der Worte „geltend machen“. Sie bedeuten, den Anspruchsgegner aufzufordern, den
nach Grund und Höhe bestimmten Anspruch zu erfüllen. Eine solche Zahlungsaufforderung macht
keinen Sinn, wenn der Anspruchsgegner noch nicht zur Zahlung verpflichtet ist (BAG 19. April
2005 - 9 AZR 160/04 - AP TVG § 1 Tarifverträge: Bewachungsgewerbe Nr. 12 = EzA TVG § 4
Ausschlussfristen Nr. 178, zu II 2 a der Gründe mwN) . Der Lauf einer Ausschlussfrist beginnt
nicht vor Fälligkeit und damit dem Zeitpunkt, zu welchem der Gläubiger vom Schuldner die
Leistung auch verlangen (§ 271 BGB) und gegebenenfalls im Klagewege durchsetzen kann (BAG
9. August 1990 - 2 AZR 579/89 - AP BGB § 615 Nr. 46 = EzA TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 88,
zu B II 2 f der Gründe) .
32 b) Die Frist von einem Monat nach Fälligkeit des Abfindungsanspruchs war bei Zustellung der
Klageerweiterung am 2. Februar 2005 noch nicht abgelaufen. Der Abfindungsanspruch wurde
vielmehr erst mit der späteren Rücknahme der Kündigungsschutzklage fällig. Dies steht der
Rechtzeitigkeit nicht entgegen. Zur Wahrung einer tariflichen Ausschlussfrist ist eine
Anspruchserhebung vor Fälligkeit jedenfalls dann ausreichend, wenn der Anspruch schon
entstanden ist. Der Warnfunktion der Ausschlussklausel ist auch in diesem Fall genügt (BAG
26. September 2001 - 5 AZR 699/00 - AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 160 = EzA TVG § 4
Ausschlussfristen Nr. 144, zu I 2 der Gründe mwN) .
33 2. Der Klageanspruch ist nicht durch den außergerichtlichen Vergleich vom 9. März 2005 gemäß
§ 779 Abs. 1, § 397 Abs. 1 BGB erloschen. Vom Wortlaut des Vergleichs werden der Anspruch
auf Zahlung einer Abfindung und die darauf gerichtete Klage nicht erfasst. Auch in der
Verständigung auf die Zahlung einer Abfindung in Höhe von 25.000,00 Euro liegt nicht konkludent
zugleich der Verzicht auf eine weitergehende Forderung. Anhaltspunkte für eine unzulässige
Rechtsausübung durch den Kläger sind entgegen der Ansicht des Beklagten nicht gegeben. Im
Übrigen wäre ein Anspruchsverzicht des Klägers wegen § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG
rechtsunwirksam. Arbeitnehmer können auf Rechte aus einer Betriebsvereinbarung wirksam nur
mit Zustimmung des Betriebsrats verzichten. Sie wurde hier nicht erteilt.
34 III. Der Anspruch ist auch der Höhe nach begründet. Dem Kläger steht nach Nr. 3 Satz 1 BV bei
einer Betriebszugehörigkeit von insgesamt 36 vollen Jahren eine Abfindung in Höhe von
44.512,02 Euro zu. Die Klageforderung entspricht dem vom Beklagten noch nicht geleisteten
Teilbetrag.
Schmidt
Linsenmaier
Kreft
Rath
Hayen