Urteil des BAG vom 20.02.2008
BAG: Heimzulage, wohngemeinschaft, stellenbeschreibung, finanzielle beteiligung, geistig behinderter, körperliche behinderung, ärztliche untersuchung, anleitung, zusammenleben, gestaltung
,
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 20.2.2008, 10 AZR 597/06
Heimzulage
Leitsätze
Betreute Wohngemeinschaften, in denen vier bis sieben geistig behinderte Menschen untergebracht sind,
können Einrichtungen sein, die mit einem Heim vergleichbar sind.
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin
vom 18. Mai 2006 - 14 Sa 481/06 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über eine Heimzulage nach der Protokollnotiz Nr. 1 zum Abschnitt G des
Teils II der Anlage 1a zum BAT.
2 Der 1960 geborene Kläger ist seit dem 1. April 1986 bei der Beklagten als Angestellter in der
Tätigkeit eines Erziehers beschäftigt. Er bezieht derzeit Vergütung nach Vergütungsgruppe V b
Fallgruppe 5 Abschnitt G des Teils II der Anlage 1a zum BAT. Er war in unterschiedlichem Maße
teilzeitbeschäftigt. Im Arbeitsvertrag ist vereinbart, dass der Bundes-Angestelltentarifvertrag in der
für den Bereich des Bundes und der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) geltenden Fassung gilt.
3 Der Kläger hatte bis einschließlich September 2002 die Zulage nach der Protokollnotiz Nr. 1 zum
Abschnitt G des Teils II der Anlage 1a zum BAT erhalten. Diese lautet:
“Der Angestellte … erhält für die Dauer der Tätigkeit in einem Erziehungsheim, einem Kinder-
oder einem Jugendwohnheim oder einer vergleichbaren Einrichtung (Heim) eine Zulage in
Höhe von 120 DM monatlich, wenn in dem Heim überwiegend Behinderte im Sinne des § 39
BSHG oder Kinder oder Jugendliche mit wesentlichen Erziehungsschwierigkeiten zum
Zwecke der Erziehung, Ausbildung oder Pflege ständig untergebracht sind …”
4 Ab Oktober 2002 zahlte die Beklagte die Zulage entsprechend ihrer Ankündigung vom 18. März
2002 nicht mehr. Der Kläger machte die Weiterzahlung der Zulage ab dem 1. Oktober 2002 mit
mehreren Schreiben aus dem Oktober 2002 und November 2004 sowie Juni 2005 geltend.
5 Die Beklagte ist eine gemeinnützige GmbH, die sich der Betreuung, Erziehung und Förderung
geistig behinderter Menschen widmet. Sie betreibt und betreut seit ca. 20 Jahren
Wohngemeinschaften in Berlin. Derzeit sind es 42 Wohngemeinschaften mit insgesamt
207 Wohnplätzen für behinderte Menschen. Der Kläger ist in der Wohngemeinschaft 15 (WG 15)
gemeinsam mit einer weiteren Mitarbeiterin beschäftigt. Sie untersteht dem Leitungsbereich 18 der
Beklagten, zu dem noch acht weitere Wohngemeinschaften und eine Wohnstätte gehören.
Letztere unterliegt einer “Heimordnung” und wird von der Beklagten als Heim im tariflichen Sinne
angesehen. Die in ihr beschäftigten Mitarbeiter erhalten die Heimzulage.
6 Die Beklagte wird durch die Sozialleistungsträger öffentlich gefördert. Mit der zuständigen
Senatsverwaltung für Soziales des Landes Berlin vereinbarte die Beklagte unter dem 21. Juli 2003
eine Leistungsbeschreibung für Wohngemeinschaften für Menschen mit geistiger, körperlicher
und/oder mehrfacher Behinderung - Leistungspflicht II gem. § 93 BSHG (Dieser Vorschrift
entspricht seit dem 1. Januar 2005 § 75 Abs. 3 SGB XII). In ihr sind Inhalt, Umfang und Qualität
der Leistungen der Beklagten beschrieben. Art der Leistung ist danach die Eingliederungshilfe.
Menschen mit geistiger, körperlicher und/oder mehrfacher Behinderung, die in betreuten
Wohngemeinschaften leben, haben Anspruch auf Maßnahmen der Eingliederungshilfe gem.
§§ 39/40 BSHG, sofern die Voraussetzungen dafür vorliegen. Die Betreuung in
Wohngemeinschaften ist danach eine ambulante (sozial-)pädagogische Hilfe zum selbständigen
Wohnen und zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Eine betreute Wohngemeinschaft ist
eine Form des Zusammenlebens von vier bis sechs - in Ausnahmefällen bis zu sieben -
behinderten Menschen, die die Möglichkeit für einen befristeten als auch für einen unbefristeten
Aufenthalt der Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderungen zulässt. Das Betreuungsangebot
besteht für erwachsene Menschen mit geistiger, körperlicher und/oder mehrfacher Behinderung
beiderlei Geschlechts. Weiter heißt es:
“2.2 Art und Umfang des Betreuungsbedarfs
Es werden Angebote für Menschen mit Behinderungen vorgehalten, deren Betreuungsbedarf
Leistungen der
-
Information, Assistenz und Hilfestellung
-
der stellvertretenden Ausführung / Begleitung
umfasst und die keine Betreuung rund um die Uhr benötigen. In Teilbereichen liegen häufig
auch Bedarfe an intensiver Förderung / Anleitung und umfassender Hilfestellung vor.
Häufig ist mittelfristig eine Verselbständigung durch geeignete pädagogische Angebote
möglich. Es können jedoch aufgrund der Art und Schwere der Behinderung in verschiedenen
Hilfebereichen auch dauerhaft Hilfeleistungen erforderlich bleiben.
Der Personenkreis hat einen kontinuierlichen Bedarf an pädagogischen Hilfen in vielen der
Aktivitäts- und Hilfebereiche.
Eine täglich mehrstündige Betreuung ist erforderlich.
Der Leistungstyp umfasst die Hilfebedarfsgruppen I - IV.
In der Regel liegt eine externe Tagesstruktur vor.
Wenn bei Mehrfachbehinderungen auch eine seelische Behinderung gegeben ist, muss die
geistige und/oder körperliche Behinderung im Vordergrund stehen.
Nicht enthalten in dieser Leistung sind Hilfen zu täglichen Verrichtungen, auf die ggf. einzelne
Bewohner einen Anspruch nach § 14 SGB XI haben.
3. Ziel der Leistung
3.1 Normalisierung und Selbstbestimmung
Orientiert am Normalisierungsprinzip sollen Wohngemeinschaften Menschen mit
Behinderung eine Wohnmöglichkeit bieten, wo sie die erforderlichen Hilfen erhalten, um
möglichst weitgehend selbstbestimmt leben zu können.
3.2 Leben in der Gemeinschaft
Ziel der Betreuungsarbeit in Wohngemeinschaften ist vor allem, den Menschen mit
Behinderung ihren individuellen Möglichkeiten entsprechend zu einer größtmöglichen
Selbständigkeit zu verhelfen und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zur Teilnahme am
Leben in der Gemeinschaft zu unterstützen.
4. Inhalt und Umfang der Leistung
4.1 Betreuung als ein geplanter Prozeß
Aufbauend auf den Kompetenzen des einzelnen Menschen mit Behinderung sowie unter
Berücksichtigung seines Entwicklungsstands und seines Hilfebedarfs in den verschiedenen
Lebensbereichen wird der Prozess der Betreuung geplant und begleitet.
Gezielte, spezielle Förderangebote, die sich nach den individuellen Bedürfnissen des
einzelnen behinderten Bewohners, der einzelnen Bewohnerin mit Behinderung richten,
werden in Hilfeplänen detailliert beschrieben.
4.2 bedarfsgerechte Hilfen
Aus den Zielen der Betreuungsarbeit ergeben sich mit individuell unterschiedlicher
Schwerpunktsetzung, Intensität und Dauer Angebote der Information, Assistenz und
Hilfestellung sowie der stellvertretenden Ausführung, der Begleitung, der intensiven
Förderung / Anleitung und umfassenden Hilfestellung
-
zum Erwerb bzw. Erhalt von Fähigkeiten und Fertigkeiten im persönlichen und
lebenspraktischen Bereich, mit dem Ziel der größtmöglichen Selbständigkeit des
Bewohners, der Bewohnerin bei der alltäglichen Lebensführung und der individuellen
Basisversorgung
-
zur persönlichen Lebensgestaltung sowie zur Entwicklung und Erfüllung individueller
Bedürfnisse
-
zur Gestaltung sozialer Beziehungen innerhalb und außerhalb der Wohngemeinschaft,
-
zur Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben,
-
zur Kommunikation und Orientierung
-
zur Förderung der emotionalen und psychischen Entwicklung
-
bei der Gesundheitsförderung und -erhaltung (z.B. Sorge für regelmäßige ärztliche und
zahnärztliche Versorgung, Sicherstellung der notwendigen therapeutischen Versorgung,
Begleitung zu Ärzten und Therapeuten, Unterstützung bei der Einnahme der
verordneten Medikamente, pflegerische Assistenz etc.),
-
bei der Förderung in Arbeit oder Beschäftigung,
-
bei der Freizeitgestaltung und bei Reisen, sowohl bei gemeinschaftlichen als auch
individuellen Aktivitäten,
-
bei Behördengängen, Arztbesuchen, persönlichen Besorgungen.
Der Träger gewährleistet die Realisierung von Leistungen nach SGB XI, soweit ein Anspruch
besteht und diese durch externe Anbieter erbracht werden.”
7 Unter Punkt 4.3 heißt es:
“Den Bewohnern und Bewohnerinnen einer Wohngemeinschaft ist eine angemessene
Mitwirkung in den ihre Interessen berührenden Angelegenheiten bei der Betreuung und
Förderung einzuräumen. Eltern bzw. den gesetzlichen Betreuern/Betreuerinnen der
Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderung ist eine angemessene Mitwirkung zu
ermöglichen.”
8 Gem. Punkt 4.4 sind Dokumentationen der Arbeiten in allen wesentlichen Punkten vorzunehmen.
Nach Punkt 4.6 ergeben sich die Einzelheiten zur geplanten Ausgestaltung der
Betreuungsleistungen für eine Wohngemeinschaft aus der Konzeption, die vom Träger zu erstellen
und mit der Fachabteilung der für Soziales zuständigen Senatsverwaltung abzustimmen ist. In der
für die WG 15 erstellten Konzeption heißt es:
“1.1 Art und Ziel des Angebots
Die Wohngemeinschaft 15 der L gGmbH ist eine teilbetreute Wohngemeinschaft für
erwachsene Menschen mit vorwiegend geistiger Beeinträchtigung und hat vier
Wohnplätze. Es besteht die Möglichkeit sowohl eines befristeten als auch eines
unbefristeten Aufenthaltes. Die Betreuung in der Wohngemeinschaft ist eine ambulante
sozialpädagogische Hilfe zum selbständigen Wohnen und zur Teilnahme am Leben in
der Gemeinschaft.
Ziel der Betreuungsarbeit im Bereich der Wohngemeinschaften ist es, anknüpfend am
Hilfebedarf des/der Einzelnen, jede(n) Betreute(n) bei der Führung eines möglichst
selbstbestimmten Lebens individuell zu unterstützen.
Gleichzeitig wird durch dieses Wohnangebot die Integration in das gesellschaftliche
Leben gefördert.
Das Leben in einer Wohngemeinschaft gilt als ambulante Maßnahme der
Eingliederungshilfe. Jede/r BewohnerIn, die/der sich nicht durch sein Vermögen oder
das seiner/ihrer Eltern selbst unterhalten kann, erhält Hilfe zum Lebensunterhalt durch
das zuständige Sozialamt. Miete und Betreuungskosten werden ebenfalls, sofern
Bedürftigkeit vorliegt, übernommen.
…
2.1 Beschreibung der Zielgruppe
Die Wohngemeinschaft 15 der L gGmbH ist eine teilstationär betreute Wohneinrichtung
für erwachsene Menschen mit vorwiegend geistiger Beeinträchtigung. Die Wohnplätze
stehen für Menschen zur Verfügung, die auf regelmäßige, vor allem pädagogische und
lebenspraktische Hilfen angewiesen sind, jedoch keine Betreuung rund um die Uhr oder
ständige Pflege benötigen.
Begleitende Ursachen für den Hilfebedarf können neben der geistigen Behinderung
sein:
-
Behinderung durch soziale Umstände
-
Sprachbehinderung
-
psychische Probleme und/oder psychische Erkrankung
-
Sinnesbehinderungen
-
Anfallsleiden
-
chronische Erkrankungen
-
Körperbehinderungen
-
Verhaltensauffälligkeiten
Das Altersspektrum der Bewohner/innen ist lediglich durch das Mindestalter, in der
Regel 18 Jahre, nach unten begrenzt. Wir achten darauf, dass das zahlenmäßige
Verhältnis zwischen Männern und Frauen möglichst ausgeglichen ist. Eine weitere
Voraussetzung, die der/die Bewerber/in erfüllen sollte, ist die Anspruchsberechtigung
nach § 39/40 BSHG.
Die BewohnerInnen sollten möglichst einer Beschäftigung nachgehen oder dieses
anstreben. Sie sollten morgens, eventuell nach einer gewissen Eingewöhnungszeit,
ohne Hilfe der BetreuerInnen zurecht kommen, das bedeutet alleine aufstehen, sich
Frühstück machen und zur Arbeit gehen können. Ganz wichtig ist auch die
Bereitschaft, in einer Gruppe leben zu wollen, Betreuung anzunehmen und sich an der
Organisation des gemeinsamen Haushalts zu beteiligen.
Die Bewohner/innen der Wohngemeinschaft kommen entweder aus ihren Familien oder
aus anderen Einrichtungen. Einige haben eine gesetzliche Betreuung, andere nicht.
…
3.
Beschreibung der Leistungen, Angebote und Methoden
…
Das Betreuungsprinzip ist: Hilfestellung oder stellvertretende Ausführung nur da, wo
unbedingt notwendig, stattdessen alltagsbegleitendes Lernen, das von Ermutigung und
Motivation, konkreter praktischer Anleitung, Einüben und Hilfestellung, über die
bewusste Organisation oder Gestaltung von Lernsituationen, bis hin zu Strukturierung
und Kontrolle durch die BetreuerInnen reichen kann.
Dazu gehört auch die Förderung von sozialen und kommunikativen Fähigkeiten und die
Stärkung des Selbstwertgefühls und des Selbstbewusstseins über das Leben in der
Wohngruppe und die persönliche Auseinandersetzung mit den MitbewohnerInnen und
BetreuerInnen. Außer der konkreten praktischen Anleitung und Hilfestellung oder der
Unterstützung in Form von Begleitung bei Einkäufen, Arztbesuchen, Freizeitaktivitäten
o.ä. kommen Gruppengesprächen, vor allem aber auch Einzelgesprächen eine
besondere Bedeutung zu.
…
Wir bieten Förderung in Form von Anleitung, Hilfestellung, Unterstützung und Beratung
u.a. in folgenden Bereichen an:
3.2 Alltägliche
Lebensführung
• Anleitung und Hilfestellung bei der Zubereitung von Haupt- und
Zwischenmahlzeiten, der Planung und Durchführung des
Lebensmitteleinkaufs, der Wäschepflege, bei der Gestaltung und Reinigung
des eigenen Zimmers und der gemeinsam genutzten Räume u.a.m. Die
Teilnahme an der gemeinsamen Haushaltsführung wie Einkaufen, Kochen,
Küchendienst, Saubermachen usw. ist für alle BewohnerInnen verbindlich.
• Hilfestellung und Unterstützung beim Umgang mit Geld, z.B. in Form von
Einteilung des monatlich zur Verfügung stehenden Taschengeldes bei
Bedarf, bei der Führung des eigenen Kontos, auf dem alle Einnahmen wie
Sozialhilfe, Lohn, Bekleidungsgeld usw. eingehen und alle Ausgaben wie
Miete, Lebenshaltungskosten u.a. per Überweisung geleistet werden u.a.m.
- Hilfe und Unterstützung beim Umgang mit Institutionen, wie z.B. Hilfen bei
der Beantragung persönlicher und finanzieller Hilfen nach dem BSHG, die
stellvertretende Erledigung oder gegebenenfalls Weiterleitung von
Behördenangelegenheiten oder die Begleitung zu Terminen bei Ämtern
u.a.m.
- Zusammenarbeit mit den gesetzlichen BetreuerInnen
- Begleitung und Beratung bei Einkäufen wie z.B. Bekleidung, kleinere und
größere Anschaffungen usw.
3.3 Individuelle Basisversorgung …
3.4 Gestaltung sozialer Beziehungen …
3.5 Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben …
3.6 Kommunikation und Orientierung …
3.7 Emotionale und psychische Entwicklung …
3.8 Gesundheitsförderung und -erhaltung …
3.9 Umgang mit Krisen …
3.10 Umgang mit Süchten … ”
9 Unter Punkt 5 “Organisation der Versorgung” heißt es:
“5.2
Haushaltsführung
Was die finanzielle Haushaltsführung betrifft, beteiligt sich jede/r BewohnerIn anteilig an den
Haushaltskosten der Wohngemeinschaft und zahlt am Monatsanfang einen festgesetzten
Betrag auf das Haushaltskonto der WG ein. Die Gruppenkasse wird von den BetreuerInnen
verwaltet, Einnahmen und Ausgaben werden transparent dokumentiert.
Die Teilnahme an hauswirtschaftlichen Arbeiten wie Einkaufen, Zubereiten von warmen
Mahlzeiten, Küchendienst, Wäsche waschen, Reinigung der gemeinsam genutzten Räume
usw. ist für alle BewohnerInnen verbindlich. Die BetreuerInnen geben dabei individuelle
Hilfestellung mit dem Ziel, dass die BewohnerInnen so selbständig wie möglich werden
können, statt versorgt zu werden. Falls notwendig, werden Arbeiten, die die BewohnerInnen
nicht alleine ausführen und nicht lernen können, stellvertretend erledigt. Die Organisation des
Haushalts, die Verteilung der Aufgaben u.a.m. werden auf der wöchentlich stattfindenden
Bewohnerbesprechung besprochen.
…
6.
Regeltagesablauf
In der Wohngemeinschaft 15 gibt es keine für alle verbindlichen Aufsteh-, Schlafens- oder
Essenszeiten, sondern jede/r strukturiert seinen Tagesablauf nach individuellen Terminen
wie Arbeitszeit, Verabredungen, Elternbesuche, Besuch eines Freizeitclubs, Arzttermine
u.a.m. Dennoch findet viel Gruppenleben statt z.B. nach der Arbeit zusammensitzen und
miteinander reden, gemeinsames Abendessen in der Woche, gemeinsames Mittagessen am
Wochenende, die wöchentlich stattfindende Bewohnerbesprechung, bei der die Woche
geplant und strukturiert wird, Aufgaben und Dienste verteilt und Probleme besprochen
werden. Am Wochenende werden von den BetreuerInnen Aktivitäten angeboten wie Kino-
und Theaterbesuche, Spaziergänge, Besuch von Veranstaltungen, Tagesausflüge,
Schwimmen gehen usw., je nach Bedürfnissen und Interessen der BewohnerInnen. Einige
BewohnerInnen besuchen regelmäßig die L-Disco und die Bewohnerdelegiertenbesprechung
des WG-Bereichs der L.
Verbindlich für alle ist die Teilnahme an hauswirtschaftlichen Arbeiten wie Einkaufen,
Kochen, Küchendienst, Putzen der Gemeinschaftsräume u.a.m. Diese werden in der Regel
in der Woche an bestimmten Tagen mit individueller Unterstützung und Hilfestellung der
BetreuerInnen erledigt.
6.1
Tabellarische Darstellung eines Regeltagesablaufs
5 Uhr -
7 Uhr
Aufstehen, Frühstück machen, zur Arbeit gehen
Am Wochenende wird von ca. 11 Uhr bis 13 Uhr gekocht, danach meistens mit
allen, die Lust dazu haben, etwas unternommen wie Kaffeetrinken gehen,
Museums- oder Kinobesuch, Spazierengehen, andere WGs besuchen u.v.a.m.
ab
15.45 Uhr
Feierabend - in der WG mit den BetreuerInnen und MitbewohnerInnen
zusammensitzen, sich entspannen, Kaffee trinken, sich unterhalten,
Tageserlebnisse austauschen
ab ca.
16.15 Uhr
Erledigung von Aufgaben und Ämtern wie Küchendienst, Einkaufen gehen,
Zimmer aufräumen u.a.m.
Wahrnehmung von z.B. Arztterminen, Verabredung mit den BetreuerInnen zu
besonderen Einkäufen, Einzelgesprächen usw.
ca.
18.30 Uhr
gemeinsames Abendessen
ab ca.
19.00 Uhr
Fernsehen, Musik hören, Freund besuchen u.a.m.
6.2
Betreuungszeiten
Grundsätzlich wird der Dienstplan und die Anwesenheit der BetreuerInnen in der WG
bedarfsgerecht und flexibel gestaltet, z.B. bei Urlaub oder Arztterminen der Bewohnerinnen.
Unsere Kernarbeitszeit liegt in den Nachmittags- und Abendstunden, zwischen 13 und
19 Uhr. Zusammenhangsarbeiten wie administrative Aufgaben, Teamsitzungen, Supervision,
Kontakte zu Angehörigen und gesetzlichen BetreuerInnen u.a.m werden wenn möglich in den
Zeiten erledigt, in denen die BewohnerInnen nicht anwesend sind.
Es gibt keine BezugsbetreuerInnen und keine Nachtwache.
…”
10 Unter Punkt 7 “Personal” heißt es, dass in der WG 15 eine Diplompädagogin und ein Erzieher
arbeiten, die beide langjährige Erfahrung in der Wohngruppenbetreuung von Menschen mit
geistiger Behinderung und/oder psychischer Beeinträchtigung haben und dass anteilig zu jeder
Wohngemeinschaft eine Verwaltungskraft und eine Leitung gehört, der die Dienst- und
Fachaufsicht obliegt.
11 In Punkt 9.2 “Dienstbesprechungen” ist geregelt, dass einmal pro Woche eine Teambesprechung
stattfindet, in der alle inhaltlichen, organisatorischen und pädagogischen Fragen besprochen,
geklärt und geplant werden. Ungefähr alle sechs Wochen oder bei Bedarf nimmt die Leitung an
diesen Besprechungen zur inhaltlichen Abstimmung, Zielvereinbarung und Beratung teil.
12 In der Stellenbeschreibung für “ErzieherInnen mit staatlicher Anerkennung oder sonstige
Angestellte, die aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und ihrer Erfahrungen entsprechende
Tätigkeiten ausüben” heißt es:
“8.1.
Pädagogische/Organisatorische Aufgaben
Der/die Stelleninhaber/in
8.1.1. stellt eine angemessene Ernährung, ggf. Diät, für Menschen mit Behinderung sicher,
8.1.2. gibt den Menschen mit Behinderung die individuell notwendige Unterstützung bei der
Körperpflege
8.1.3. erledigt Einkäufe und Besorgungen für die Gruppe und bezieht individuell die
behinderten Menschen mit ein,
8.1.4. führt Reinigungs- und hauswirtschaftliche Arbeiten in seiner/ihrer Gruppe aus
8.1.5. beobachtet den Gesundheitszustand der Menschen mit Behinderung und veranlasst
in Krankheitsfällen eine ärztliche Untersuchung, begleitet sie erforderlichenfalls zum
Arzt,
8.1.6. veranlasst jährlich eine zahnärztliche sowie die Krebsvorsorgeuntersuchung,
8.1.7. verabreicht Medikamente bzw. überwacht die Einnahme von Medikamenten nach
ärztlicher Anordnung und dokumentiert diese,
8.1.8. übernimmt bei chronischen, nicht übertragbaren Erkrankungen der Menschen mit
Behinderung, deren Versorgung, soweit es keine Erkrankungen sind, die einen
Krankenhausaufenthalt erfordern,
8.1.9. stellt den Bedarf der Menschen mit Behinderung an Hilfsmitteln fest, gibt diesen
weiter zwecks Beantragung an die zivilrechtlichen Betreuer und leistet Hilfe bei der
praktischen Umsetzung der Versorgung,
8.1.10. gibt Anregung und Hilfestellung zu einer individuellen und gemeinsamen
Freizeitgestaltung, ermöglicht die Teilnahme am öffentlichen Leben, z. B. plant und
beantragt Gruppen- und ggf. Einzelreisen, begleitet die Menschen mit Behinderung
bei Bedarf zu individuellen Zielorten, geht mit ihnen spazieren, zum Sport;
8.1.11. organisiert die Beförderung der behinderten Menschen zu Arbeits- und
Beschäftigungsstellen sowie zu individuellen Zielorten nach Bedarf.
8.1.12. nimmt die Aufsichtspflicht für die Menschen mit Behinderung in seinem/ihrem
Aufgabenbereich wahr.”
13 Unter Punkt 8.3. “Pädagogik/konzeptionelle Arbeit” heißt es, dass der Stelleninhaber die
Konzeption durch ein Höchstmaß an qualifizierter Arbeit umzusetzen habe und gemeinsam mit
den Teamkollegen/innen eine Gruppenkonzeption erstelle, die auf das Konzept der Einrichtung
abzustimmen sei, und diese weiterentwickele. Punkt 8.4. “Administrative Aufgaben” regelt:
“Der/die Stelleninhaber/in
...
8.4.3.
erstellt und verwaltet den Gruppenetat zweckentsprechend
8.4.4.
verwaltet und rechnet den monatlichen Barbetrag der BewohnerInnen ab
8.4.5.
beantragt und rechnet Bekleidungsgelder ab
8.4.6.
führt ein Kassenbuch”
14 Unter Punkt 13. “Entscheidungskompetenzen des/der Stelleninhaber/in” heißt es in Punkt 13.5.
“Wahrnehmung der Aufsichtspflicht für die behinderten Menschen im Aufgabenbereich”.
15 Zwischen der Beklagen und den Bewohnern wird jeweils ein Formularvertrag “für einen Wohnplatz
in einer Wohngemeinschaft” und ein formularmäßiger Nutzungsvertrag (Untermietvertrag) für
Wohngemeinschaften vereinbart. In § 1 Ziffer 2 des Wohnplatzvertrages sind die Leistungen der
Beklagten aufgeführt. In § 9 ist vereinbart, dass sich die Vertragspartner den Grundsätzen für
Wohneinrichtungen der Beklagten in ihrer jeweiligen aktuellen Fassung verpflichtet fühlen und sich
bemühen, diese anzustreben. § 8 regelt, dass die Fachgebietsleitung aus pädagogischen oder
sonstigen schwerwiegenden Gründen unter Berücksichtigung der gesundheitlichen und sozialen
Gesichtspunkte einen Umzug veranlassen kann. Hierbei werden nach Möglichkeit die Wünsche
des/der Bewohners/in berücksichtigt.
16 In einer formularmäßigen Anlage zu § 2 des Vertrages für Wohngemeinschaften ist zwischen dem
Bewohner und der Beklagten die Höhe des einzuzahlenden Haushaltsgeldes vereinbart.
17 Der Kläger macht rückständige Zulagen für die Zeit ab dem 1. Oktober 2002 bis zum 31. Januar
2006 geltend und begehrt die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, an ihn ab dem
1. Februar 2006 die streitige Heimzulage zu zahlen.
18 Der Kläger ist der Ansicht, die WG 15 sei eine einem Heim vergleichbare Einrichtung im Sinne der
Protokollnotiz. Bereits aus der Konzeption der WG 15 ergebe sich, dass bestimmte Regeln und
eine bestimmte Konzeption einzuhalten seien. Diese seien auch verbindlich. Auf Grund ihrer
Behinderungen seien die Bewohner nicht in der Lage, eigene Regeln aufzustellen und ihr Leben
selbst zu bestimmen. Die zusätzlich von allen zu beachtenden Regeln seien:
-
Alkoholverbot bis 19 Uhr
-
Rauchverbot in den Gemeinschaftsräumen
-
vorherige Anmeldung neuer Besucher bei den Betreuern
-
Übernachtungsbesuch nur nach vorherigem Kennenlernen und nach Absprache mit
den Betreuern
-
Haushaltsdienste an festgelegten Wochentagen
-
Zuteilung des Taschengeldes durch den Betreuer
19 Weitere individuelle Regeln für einzelne Bewohner seien
- sofortige Rückkehr nach der Arbeit in die WG bzw. Meldepflicht bei Verspätungen
- tägliches Duschen
- tägliches Wechseln der Unterwäsche
- Anwesenheit in der WG spätestens ab 22 Uhr
20 Die Betreuer seien gehalten, ihre private Telefonnummer in der WG zu hinterlassen, die von
Bewohnern angerufen werde, wenn jemand etwa nachts nicht zu einer bestimmten Uhrzeit
zurückkomme.
21 Die Bewohner bedürften auf Grund der Behinderungen einer hinreichenden Kontrolle, Motivation
und Strukturierung. Nur weil sich im Laufe der Jahrzehnte eine konzeptionelle und pädagogische
Fortentwicklung der Behindertenarbeit ergeben habe, indem statt der historisch begründeten
Vorstellung eines Heimes nunmehr ein liberales und modernes Leitbild die Arbeit bestimme,
entfalle nicht der Anspruch auf die Heimzulage. Weil Tagesstrukturen, Regeln und
Konfliktlösungsmechanismen nicht mehr autoritativ durchgesetzt würden, seien die Belastungen
für die dort Beschäftigten nicht geringer.
22 Die Bewohner der WG 15 seien auf Grund teilweise fehlender Kritikfähigkeit und ihrer geistigen
Behinderung nicht in der Lage, sich mit Konflikten konstruktiv auseinanderzusetzen bzw. diese
sogar selbst zu lösen. Deshalb würden die Konflikte in der Regel immer an die Betreuer
herangetragen, um sie zu lösen. In Gesprächen mit den Beteiligten würden dann
Lösungsmöglichkeiten durch den Betreuer erarbeitet.
23 Die typischen belastenden Konflikte zwischen den wechselseitigen Ansprüchen der Behinderten
im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens zu vermitteln und die Strukturen im Sinne der
Gesamtkonzeption aufrechtzuerhalten, seien die permanenten Anforderungen an den Kläger.
Dieses entspreche wesentlich eher den Belastungen in einem Heim als bei Besuchen von zu
Betreuenden in ihrer Wohnung, um mit ihnen Termine zu verabreden sowie Ratschläge und
Hilfestellungen zu geben.
24 Ziel der Betreuung in der WG 15 sei eine Selbständigkeit der Abend- und Freizeitgestaltung bzw.
der selbständigen Planung von Aktivitäten. Dieses Ziel entspreche aber nicht der erreichten
Realität. Entscheidend sei, ob das Leben in der WG 15 eher von den Betreuern oder von den
Bewohnern bestimmt werde.
25 Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.963,24 Euro brutto nebst fünf Prozentpunkten Zinsen
über dem Basiszinssatz auf einen Betrag von 1.771,49 Euro seit dem 6. November 2005 und
auf einen Betrag von 191,75 Euro seit dem 6. April 2006 zu zahlen;
festzustellen, dass die Beklage verpflichtet ist, an ihn seit dem 1. Februar 2006 die Zulage
nach dem ersten Halbsatz der Protokollnotiz Nr. 1 zum Abschnitt G des Teils II der
Anlage 1a zum BAT zu zahlen.
26 Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag vorgetragen, die Wohngemeinschaften seien
keine Einrichtungen, die mit einem Heim vergleichbar seien. Die Bewohner seien keiner
fremdbestimmten Ordnung unterworfen. Die Konzeption und die Leistungsbeschreibung stellten
lediglich Betreuungsmöglichkeiten dar, die nicht sämtlich verwirklicht seien. In weiten Teilen
beschreibe das Konzept lediglich die tatsächliche Situation wie etwa die finanzielle Beteiligung an
der Haushaltsführung. Die Verwahrung des Geldes durch den Betreuer sei nur ein Angebot der
Beklagten. Die Wohngemeinschaft könne andere Regelungen treffen. In der Konzeption seien nur
allgemeine akzeptierte Grundbedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens wiedergegeben.
Ziel der Arbeit sei die Normalisierung, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Integration der
Behinderten. Die Bewohner seien auch tatsächlich fähig, den Anforderungen an ein Leben, das
sich durch ein gesteigertes Maß an Selbstbestimmung und Eigenverantwortung auszeichne,
gerecht zu werden. Die Betreuer sollten diesen schwierigen Prozess unterstützen, ohne ihn zu
bestimmen. Vorgaben zur persönlichen Lebensführung gebe es nicht. Die Bewohner gingen seit
Jahren einer Beschäftigung nach und verbrächten den Großteil des Tages ohne Betreuung. Sie
seien zu tiefgehenden, jahrelangen Beziehungen in der Lage. Sie könnten auch einfachste Regeln
für den täglichen Umgang und die Haushaltsführung aufstellen und einen Haushalt organisieren.
Wenn die Bewohner wie alle Menschen im Zuge des Zusammenlebens Konflikte und Probleme zu
bewältigen hätten, könne ihnen dadurch nicht ein selbstbestimmtes Leben abgesprochen werden.
Die vom Kläger behaupteten Regeln entsprächen dem Maß dessen, was ohnehin für alle am
gesellschaftlichen Leben teilnehmenden Menschen gelte. Die Bewohner gestalteten ihren
Tagesablauf frei. Wenn ein Bewohner nicht zur Arbeit gehen wolle und sich auch nach Hilfe des
Betreuers weiterhin weigere, sei das seine autonome Entscheidung. Der Betreuer habe weder die
Aufgabe noch die Mittel zur Sanktionierung. Die Entscheidungen der Bewohner seien auch im
Hinblick auf den Umgang und die Verwendung von Geld autonom. Soweit die Beklagte hierbei
Aufgaben übernehme, geschehe dies auf Grund vertraglicher Regelung. Dienstpläne gebe es
nicht. Sie seien auch nicht vom Kläger zu überwachen. Der Betreuer habe Absprachen zu fördern,
weil diese üblich und notwendig seien. Die Bewohner seien aber grundsätzlich frei in der
Entscheidung, wann sie sich wo aufhielten und wann sie die Wohngemeinschaft aufsuchten und
verließen. Auch das Mitbringen von Besuch stehe ihnen uneingeschränkt frei. Wenn die Betreuer
über bestimmte außergewöhnliche Abwesenheiten informiert würden, sei dies Folge ihres
Fürsorgeauftrags. Diesen hätten die Betreuer im Rahmen ihrer Unterstützungsleistungen
wahrzunehmen. Eine Überwachung stelle dies nicht dar. Die Beklagte habe eine klare Anweisung
erteilt, dass die Betreuer keine eigenen Ordnungsvorschriften oder Regeln in den
Wohngemeinschaften erlassen dürften. Dies widerspreche den in der Konzeption festgelegten
Prinzipien. Sofern die Bewohner eine Ordnung aufstellen wollten, könnten sie dies tun. Sofern die
Betreuer ihre Aufgaben in der Wohngemeinschaft anders interpretierten, sei dies rechtlich
unerheblich. Ihre Aufgaben seien ausschließlich durch die Stellenbeschreibung festgelegt. Die
genannte Aufsichtspflicht beziehe sich auf die der Beklagten obliegende Fürsorgepflicht. Der
Betreuer habe bei auftretendem Pflegebedarf externe Hilfe einzuschalten. Es bestehe auch die
Aufgabe, die Bewohner vor Verwahrlosung zu schützen. Wenn ein Bewohner nicht die für ein
Leben in der Wohngemeinschaft erforderliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit besitze, sei ein
Wechsel in eine andere Einrichtung zu prüfen.
27 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit
ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils. Der
Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
28 Die Revision ist unbegründet.
29 I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger erfülle alle Voraussetzungen für den
Bezug der Heimzulage, da die von ihm betreute Wohngemeinschaft eine vergleichbare Einrichtung
im Sinne der Protokollnotiz sei. Die Unterbringung der Bewohner diene mindestens einem
Erziehungszweck. Es könne dahinstehen, ob sie auch einem pflegerischen Zweck diene. Zur
Erziehung gehörten alle Bestrebungen, Vorgänge und Tätigkeiten, die den Erziehungs-
(Entwicklungs-)Vorgang beeinflussten. Erziehung sei nicht nur gegenüber Kindern und
Jugendlichen möglich. Wenn der Kläger den Bewohnern so viel Unterstützung wie nötig bei so
wenig Einflussnahme wie möglich anzubieten habe, um so bei den geistig behinderten Menschen
die Entwicklung eines Höchstmaßes an Kompetenz zu fördern, diene dies auch unter dem Aspekt
der Hilfe zur Selbsthilfe dem Entwicklungsvorgang sowie der Bildung der Entscheidungsfähigkeit
und damit der Erziehung der behinderten Menschen. Die Wohngemeinschaft sei einem
Erziehungsheim, einem Kinder- oder einem Jugendwohnheim vergleichbar. Wenn die
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darauf abstelle, dass ein Heim dadurch
gekennzeichnet sei, dass die dort in der Regel in größerer Zahl lebenden Menschen in eine nicht
durch sie selbst sondern typischerweise durch die Heimleitung gesetzte Ordnung eingebunden
seien, die darauf gerichtet sein müsse, die mit der ständigen Unterbringung verfolgten Zwecke zu
verwirklichen, verkenne dies, dass die Tarifvertragsparteien bei der Formulierung der
Protokollnotiz Nr. 1 nicht auf das Vorliegen einer fremdbestimmten Ordnung abgestellt hätten und
dieser Begriff auch nicht geeignet sei, die Vielfältigkeit der Organisationsformen der Betreuung und
Erziehung in der heutigen Zeit abschließend zu kategorisieren. Die Beklagte bemühe sich zwar,
ohne vorgegebene Ordnung im klassischen Sinne die Wohngemeinschaften zu organisieren, dies
sei aber auf Grund der beschränkten Fähigkeiten der Bewohner jedenfalls in der WG 15 gar nicht
möglich. Sowohl die Konzeption wie auch der Vertrag für einen Wohnplatz und die
Stellenbeschreibung des Klägers enthielten gewisse Ordnungselemente bzw. setzten diese
voraus. Um eine klassische Heimordnung handele es sich allerdings nicht. Allerdings sei für alle
Bewohner die Teilnahme an hauswirtschaftlichen Arbeiten verbindlich und diese Aufgaben seien in
der Regel in der Woche an bestimmten Tagen mit individueller Unterstützung und Hilfestellung der
Betreuer zu erledigen. Aufgabe des Klägers sei es, die Konzeption entsprechend seiner
Stellenbeschreibung mit einem Höchstmaß an qualifizierter Arbeit umzusetzen. Wenn er dabei
keine klassischen Sanktionen sondern “pädagogische Tricks” anwende, sei dies Teil der
qualifizierten Arbeit des Klägers. Dies sei ein Ordnungselement für das Zusammenleben. Auch
das Einzahlen der Haushaltskosten auf ein Konto und die Verwaltung der Gruppenkasse durch die
Betreuer und die Dokumentation der Einnahmen und Ausgaben stellten Ordnungselemente dar.
Selbst wenn der Maßnahme eine vertragliche Vereinbarung zugrunde liege, gehe dies deutlich
über beispielsweise die Verwalterpflichten in einer Wohnungseigentümergemeinschaft hinaus. Die
Bewohner hätten sich zudem verpflichtet, die Grundsätze für Wohneinrichtungen anzuerkennen
und sich zu bemühen, diese anzustreben. Die Beklagte habe sich Sanktionen in § 8 des
Wohnplatzvertrages vorbehalten, indem dort vereinbart sei, dass die Fachgebietsleitung aus
pädagogischen oder sonstigen schwerwiegenden Gründen einen Umzug des Bewohners
veranlassen könne. Wenn aber ein Puzzle verschiedener Ordnungselemente keine klassische
Heimordnung ergebe, müsse ein anderes Kriterium für die Annahme eines Heimes gesucht
werden. Die Geschichte der Vorschrift spreche dafür, dass die Tarifvertragsparteien ab dem
1. Januar 1991 den früher engeren Anwendungsbereich der Protokollnotiz hätten erweitern wollen
und damit anerkannt hätten, dass es zwischen klassischer Heimerziehung einerseits und dem
betreuten Einzelwohnen andererseits mittlerweile auch Wohnzwischenformen gebe, die ebenfalls
eine erhebliche zusätzliche Belastung für das pädagogische Personal darstellten. Der gewählte
offene Begriff habe den Anwendungsbereich der Protokollnotiz auch auf zukünftige Änderungen
der Betreuungsformen ausdehnen wollen. Das klassische Heim sei zweifelsfrei unter die
Protokollnotiz zu subsumieren, das echte betreute Einzelwohnen sei dies nicht. Wenn die
Zulagenberechtigung davon abhänge, dass “überwiegend” die besondere Klientel in der Wohnform
untergebracht sein müsse, müssten es zwangsläufig mindestens zwei Bewohner sein. Auch
greife beim betreuten Einzelwohnen der Zweck der Heimzulage nicht ein. Die
Wohngemeinschaften hingegen seien Teil eines Einrichtungsganzen, das in rechtlicher und
organisatorischer Hinsicht der Beklagten als Einrichtungsträger zugeordnet werden könne, die die
Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung der Hilfebedürftigen übernehme. Damit sei
der Charakter der Wohngemeinschaft eher einem Heim vergleichbar als dem betreuten
Einzelwohnen. Es sei nicht glaubhaft, wenn die Beklagte behaupte, dass die Bewohner selbst für
ihre tägliche Lebensführung verantwortlich seien. Es sei nämlich sonst nicht plausibel, dass zwei
Betreuungskräfte ausschließlich für vier Bewohner eingesetzt würden. Auch die überreichten
Unterlagen zeigten, dass die Gesamtverantwortung bei der Beklagten liege. Die Bewohner
könnten beispielsweise im Hinblick auf eine grob fahrlässige Vernachlässigung der Aufsichtspflicht
selbst kündigen oder bei Fehlverhalten von der Beklagten in eine andere Einrichtung “versetzt”
werden. Der Zweck der Heimzulage bestätige dies. Mit der Zulage sollten zusätzliche Belastungen
ausgeglichen werden, die im Gegensatz zum betreuten Einzelwohnen oder in einer ambulanten
Einrichtung in einer Dauerwohngruppe anfielen. Auch in einer Wohngemeinschaft könnten
Konfrontationen und Konflikte durch das Zusammenleben der Bewohner entstehen. Die
Tarifvorschrift enthalte kein quantitatives Moment.
30 II. Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision im Ergebnis und weiten Teilen der
Begründung stand.
31 Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Heimzulage. Die Voraussetzungen der
Protokollnotiz Nr. 1 zu Teil II G der Anlage 1a zum BAT sind erfüllt.
32 1. Der Kläger ist als Angestellter im Sozial- oder Erziehungsdienst tätig, wenn er in einer
Wohngemeinschaft mit überwiegend behinderten Menschen iSd. § 39 BSHG bzw. § 53 SGB XII
arbeitet. Die dort wohnenden Menschen sind auch zum Zwecke der Erziehung ständig
untergebracht. Nach allgemeinem Sprachgebrauch bedeutet “Erziehen” jemandes Geist und
Charakter bilden und seine Entwicklung fördern (Duden Das große Wörterbuch der deutschen
Sprache in 10 Bänden Bd. 3 Stichwort “Erziehen”) . Synonyme des Begriffs aus dem sprachlichen
Alltag sind: “leiten, anleiten, ausbilden, anlernen, einweisen, einführen, vorbereiten, vorbilden,
schulen, unterrichten, lehren, bilden, belehren, unterweisen, beleuchten, weisen, anweisen,
erklären, aufklären, einprägen, einschärfen, beibringen” (Bauer Lexikon des Sozial- und
Gesundheitswesens 2. Aufl. Bd. 1 Stichwort “Erziehen”) . Unter Erziehung kann verstanden
werden die planmäßige Tätigkeit zur körperlichen, geistigen und charakterlichen Formung junger
Menschen zu tüchtigen, mündigen Menschen, wobei unter Mündigkeit die Fähigkeit verstanden
wird, selbständig und verantwortlich die Aufgaben des Lebens zu bewältigen. Erziehung erfasst
damit alle Bestrebungen, Vorgänge und Tätigkeiten, die den Erziehungsvorgang
(Entwicklungsvorgang) beeinflussen. Zur Erziehung gehören außer der - regelmäßig im Wege des
Unterrichts dargebotenen - Wissensvermittlung die Willensbildung und die Charakterbildung
(Wissensbildung; Tätigkeiten, die darauf zielen, dass sich der Erzogene selbst zu sehen und zu
beurteilen lernt; Bildung der Entscheidungsfähigkeit; das Lernen, Entscheidungen als rationale
Akte zu steuern, Folgen zu bedenken usw.) (BFH 21. November 1974 - II R 107/68 - Rn. 8, BFHE
115, 64) . Erziehung kann auch gegenüber Erwachsenen stattfinden; auch diese können in ihrer
Persönlichkeit noch geformt und ihre Entwicklung zu einem Glied der menschlichen Gesellschaft
noch weiter gefördert werden (vgl. BAG 9. Dezember 1992 - 7 ABR 3/92 - für die Frage des § 118
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG) . Erziehung im engeren Sinne ist die im praktischen Umgang durch
Einwirkung, Übung und Gewährung bewirkte innere Formgebung des Charakters. Dem steht es
inhaltlich gleich, wenn unter “erziehen” die Bildung und Entwicklung von Geist und Charakter
verstanden wird (BAG 2. April 1981 - 2 AZR 963/78 -) .
33 Dem entsprechen die selbst gesetzten Ziele der Beklagten, die sie beispielsweise in der mit dem
Senat des Landes Berlin vereinbarten Leistungsbeschreibung niedergelegt hat. Hier ist in Ziff. 2.2
von einer mittelfristigen Verselbständigung durch geeignete pädagogische Angebote die Rede. Der
Personenkreis habe einen kontinuierlichen Bedarf an pädagogischen Hilfen in vielen der Aktivitäts-
und Hilfebereiche. Damit beschreibt die Beklagte ihr Angebot als pädagogisch, dh. die Erziehung
betreffend. Als Ziel der Leistung wird Normalisierung und Selbstbestimmung genannt sowie das
Leben in der Gemeinschaft, wonach Menschen mit Behinderung ihren individuellen Möglichkeiten
entsprechend zu einer größtmöglichen Selbständigkeit verholfen werden soll und sie in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft unterstützt werden
sollen. Dabei ist die Betreuung ein geplanter Prozess, der in Hilfeplänen individuell detailliert
beschrieben wird. Es soll dabei Hilfestellung geleistet werden zum Erwerb bzw. zum Erhalt von
Fähigkeiten und Fertigkeiten im persönlichen und lebenspraktischen Bereich, mit dem Ziel der
größtmöglichen Selbständigkeit der Bewohner bei der täglichen Lebensführung und der
individuellen Basisversorgung. Es soll Förderung/Anleitung und umfassende Hilfestellung zur
Gestaltung sozialer Beziehungen innerhalb und außerhalb der Wohngemeinschaft gegeben
werden, weiterhin zur Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, zur Kommunikation
und Orientierung und zur Förderung der emotionalen und psychischen Entwicklung. Auch in der
Konzeption heißt es, dass die Betreuung eine ambulante sozialpädagogische Hilfe zum
selbständigen Wohnen und zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft sei. Dies sind Ziele, die
die Behinderten in ihrer Entwicklung zu einem Glied der menschlichen Gesellschaft noch weiter
fördern wollen. Die Begriffsmerkmale der Erziehung sind damit erfüllt.
34 2. Der Kläger ist auch in einer vergleichbaren Einrichtung (Heim) im Sinne der Protokollnotiz Nr. 1
beschäftigt.
35 a) Die Tarifvertragsparteien haben den unbestimmten Rechtsbegriff “vergleichbare Einrichtung
(Heim)” im Sinne der Protokollnotiz Nr. 1 nicht definiert. Was sie darunter verstehen, ist durch
Auslegung des Tarifvertrages und der dazu vereinbarten Protokollnotizen zu ermitteln.
36 aa) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist
zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen
ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille
der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen
Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil
dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn
und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie
Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine
Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die
praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer
Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der
Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren
Regelung führt (st. Rspr. zB BAG 19. Januar 2000 - 4 AZR 814/98 - BAGE 93, 229, zu 3 a der
Gründe).
37 bb) Enthält ein Tarifvertrag unbestimmte Rechtsbegriffe, haben die Tatsachengerichte bei der
Subsumtion einen Beurteilungsspielraum. Das Revisionsgericht kann nur überprüfen, ob das
angefochtene Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Subsumtion des
Sachverhalts Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen
Umstände berücksichtigt hat und ob es in sich widerspruchsfrei ist (st. Rspr., BAG 23. Oktober
2002 - 10 AZR 60/02 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 35) .
38 b) Der Überprüfung nach diesen Maßstäben hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts
stand.
39 aa) Die Wohngemeinschaft, in der der Kläger tätig ist, ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch
ein “Heim”, da es sich um eine Wohnung handelt, in der jemand lebt und “zu Hause” ist und zu der
er eine gefühlsmäßige Bindung hat (st. Rspr. vgl. BAG 26. Mai 1993 - 4 AZR 130/93 - BAGE 73,
191; 23. Februar 2000 - 10 AZR 82/99 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 26) . Die Bewohner der von
der Beklagten betreuten Wohngemeinschaften wohnen dort, sie sind dort zu Hause und haben
eine gefühlsmäßige Bindung zu ihrer Wohnung. Unschädlich ist es, dass die Bewohner nicht rund
um die Uhr vollstationär versorgt werden, sondern nur zu bestimmten Tageszeiten (BAG
27. September 2000 - 10 AZR 640/99 - ZTR 2001, 177) .
40 bb) Jedoch erfüllt nicht jede beliebige Wohnstätte, sondern nur eine mit Erziehungsheimen oder
Kinder- und Jugendwohnheimen vergleichbare Einrichtung die Voraussetzungen der
Protokollnotiz. Die Tarifvertragsparteien haben mit dem Begriff der einem Heim vergleichbaren
Einrichtung ausdrücken wollen, dass damit ein Zweck verfolgt werden muss, der über die Zur-
Verfügung-Stellung einer bloßen Unterkunft hinausgeht. Das Bundesarbeitsgericht hat in ständiger
Rechtsprechung als weiteres Kriterium eines Heims gefordert, dass es sich um eine räumlich und
organisatorisch zusammenhängende Einrichtung handeln muss, in der eine - in der Regel
größere - Zahl von Menschen lebt, die in eine nicht durch sie selbst gesetzte Ordnung
eingebunden sind und die sich an Regeln halten müssen, die typischerweise durch eine
Heimleitung festgesetzt werden. Es hat dies damit begründet, dass das Erfordernis einer durch
eine Leitung vorgegebenen Ordnung der Einrichtung nicht nur aus der tariflich notwendigen
Vergleichbarkeit mit einem Erziehungsheim, Kinder- oder Jugendwohnheim folge, sondern
insbesondere auch durch den Zweck der Unterbringung bedingt sei. Erziehung, Ausbildung oder
Pflege erforderten die Verwirklichung eines von der Leitung der Einrichtung vorgegebenen
Konzepts, dessen Einhaltung organisatorisch sichergestellt werden solle. Eine Organisationsform,
mit der im Wesentlichen nur begleitende Selbsthilfe erreicht werden solle, vermöge diese
Voraussetzung nicht zu erfüllen (23. Oktober 2002 - 10 AZR 60/02 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen
Nr. 35) . Der Heimcharakter gehe dabei nicht schon dadurch verloren, dass Bewohner in kleineren
Einheiten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst versorgten und ihr Zusammenleben in
begrenztem Maße teilweise selbst organisierten (BAG 27. September 2000 - 10 AZR 640/99 -
ZTR 2001, 177) .
41 cc) An diesen Erfordernissen ist festzuhalten. Ihnen entsprechen auch die Organisation und
Konzeption der Wohngemeinschaften der Beklagten.
42 (1) Mit dem Landesarbeitsgericht ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien nach der
Neufassung der Protokollnotiz im Jahr 1991 einen offeneren Heimbegriff schaffen wollten, um
damit den Kreis der Zulagenberechtigten zu erweitern. Die Konzeptionen von Betreuung und
Erziehung behinderter Menschen sind ständig im Fluss und führen zu den verschiedensten
Formen und Einrichtungen, in denen pädagogische und soziale Konzepte umgesetzt werden.
43 Richtig ist auch, dass die Tarifvorschrift nur geringe quantitative Anforderungen stellt. Schon nach
dem allgemeinen Sprachgebrauch kann auch eine - quantitativ nicht näher definierte -
Wohngemeinschaft ein Heim sein. Erziehungsheime werden heute stärker strukturiert zum einen
als heilpädagogisches Heim, das Entwicklungsstörungen zu begegnen sucht, und zum anderen
als Wohngemeinschaft, in der eine Gruppe selbstverantwortlich in Partnerschaft mit einem
Sozialpädagogen ihr Zusammenleben gestaltet (Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl. Stichwort
“Erziehungsheim”) . Das Bundesarbeitsgericht hat in der Entscheidung vom 20. April 1994 (-
10 AZR 276/93 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11) nicht ausgeschlossen, dass es sich bei neun
zusammenlebenden Behinderten um ein Wohnheim im Sinne der Protokollnotiz handeln könne.
Wenn in den Wohngemeinschaften der Beklagten vier bis sieben Behinderte untergebracht sind,
schließt dies für sich nicht aus, dass es sich um einem Heim vergleichbare Einrichtungen handeln
kann. Aus der Tarifvorschrift geht nur hervor, dass die Zulagenberechtigung davon abhängig ist,
dass “überwiegend” die näher bestimmten Personengruppen in der Wohnform untergebracht sein
müssen.
44 Es kommt nicht allein darauf an, in welchem Maße die Bewohner behindert sind bzw. auf welchen
Gebieten sie Defizite haben. Verschiedenartige und unterschiedlich intensive Betreuung kann
jeweils in verschiedenen Einrichtungstypen ausgeübt werden, wobei aber der Charakter der
Einrichtung unterschiedlich sein kann (BAG 23. Oktober 2002 - 10 AZR 60/02 - AP BAT §§ 22, 23
Zulagen Nr. 35) . Der Umgang mit einem wegen der Art und der Schwere der Behinderung
besonders schwierigen Klientenkreis als solchem löst den Zulagenanspruch nicht aus, weil diese
Erschwernis durch die Eingruppierung bereits erfasst und vergütet wird. Dennoch können aus der
Art und Schwere der Behinderung Schlüsse auf die Fähigkeit der Bewohner gezogen werden, ihr
Leben frei bestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten.
45 (2) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, dass die typischerweise von einer Heimleitung
festgesetzte Ordnung, in die die Bewohner der Wohnstätte eingebunden sein müssen, kein
geeignetes Abgrenzungskriterium sei. Abzustellen sei vielmehr darauf, ob die Beklagte eine
Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung der Behinderten übernommen habe. Dem
Landesarbeitsgericht ist zuzugestehen, dass neuartige Konzeptionen immer wieder zu Grenzfällen
führen, in denen die bisher gefundenen Kriterien in Frage gestellt und auf ihre weitere Tauglichkeit
überprüft werden müssen.
46 Das Kriterium der Gesamtverantwortung ist aber nicht geeigneter als das der vorgegebenen
Ordnung, um ein Heim von dem betreuten Einzelwohnen abzugrenzen, für das jedenfalls kein
Zulagenanspruch bestehen kann. Der Begriff der Gesamtverantwortung ist noch weniger
subsumtionsfähig als der einer Heimordnung und führt eher zu Unschärfen als zur Klärung. Jede
Art von Betreuung schafft Verantwortung, ohne dass deren Umfang zu messen wäre und daran
die Feststellung geknüpft werden könnte, ob ein Heim vorliegt oder nicht.
47 Demgegenüber fordert die Protokollnotiz, dass die Einrichtung mit Erziehungs-, Kinder- oder
Jugendwohnheimen vergleichbar sein muss. Diese Heime sind durch mehr oder weniger strikte
Ordnungen und Regeln des Zusammenlebens geprägt. Gerade im Hinblick auf die einzuhaltende
Ordnung entstehen die Konflikte, deren Vermeidung und Lösung die besonderen Erschwernisse
verursacht, die die Zulage ausgleichen will. Daran ist festzuhalten.
48 dd) Eine Ordnung dieser Art liegt vor.
49 (1) Eine “Heimordnung” muss nicht ausdrücklich als solche bezeichnet sein. Der Senat hat immer
wieder betont, dass es sich um eine solche Ordnung handeln muss, die “typischerweise” durch
eine Heimleitung festgesetzt wird. Dies schließt nicht aus, dass in bestimmten Fällen eine
Heimleitung dies nicht vorgibt oder die Regeln so aufgestellt werden, dass sie sich aus einem
Mosaik von Vorschriften und Einschränkungen ergeben, die in verschiedenen Quellen zu finden
sind.
50 Es ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch unerheblich, ob Verhaltensvorschriften und
Aufsichts- und Kontrollrechte, die Ordnungselemente enthalten, der Fürsorgepflicht oder
vertraglichen Vereinbarungen mit den Bewohnern oder deren gesetzlichen Vertretern geschuldet
sind. Auch in klassischen Erziehungs-, Kinder- oder Jugendwohnheimen werden Ordnungen nicht
als Selbstzweck aufgestellt, sondern dienen der Fürsorge für die Bewohner und der Erfüllung der
auf welche Art auch immer geschlossenen vertraglichen Verpflichtungen der
Betreuungseinrichtung. Die Regeln sollen nicht der Schikane, sondern dem Wohl der Bewohner
dienen.
51 (2) Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts gibt es durchaus eine organisatorische
Leitungsebene, die als “Heimleitung” im klassischen Sinne angesehen werden kann. Aus den
Konzeptionen geht hervor, dass jeweils mehrere Wohngemeinschaften von einer Person geleitet
werden, die ua. nach bestimmten Verfahren über die Aufnahme und damit über die
Zusammensetzung der Wohngemeinschaft entscheidet und auch sonstige Leitungsfunktionen
erfüllt, ua. die Dienst- und Fachaufsicht über die Betreuer ausübt und regelmäßig an
Dienstbesprechungen teilnimmt, wodurch sowohl die trägerinterne Einbindung der
Wohngemeinschaft (Besprechen von die Gesamtorganisation betreffenden Themen) als auch der
Austausch mit anderen Wohngemeinschaften gewährleistet wird.
52 (3) Für eine erhebliche Beschränkung der Selbstbestimmtheit der Lebensweise der
Wohngemeinschaftsbewohner und damit eine vorgegebene Ordnung sprechen sowohl Teile der
Konzeption der Beklagten als auch die Stellenbeschreibung des Klägers und der Nutzungsvertrag
nebst Anlagen zwischen den Bewohnern und der Beklagten. Gemäß dem letzteren haben die
Betreuer die “Aufsichtspflicht” über die Bewohner wahrzunehmen. Tun sie dies nicht oder
vernachlässigen sie diese Pflicht grob fahrlässig, können Bewohner kündigen und haben
möglicherweise Schadensersatzansprüche. Auch in der Stellenbeschreibung der Erzieher ist unter
den pädagogisch/organisatorischen Aufgaben erwähnt, dass diese die Aufsichtspflicht für die
Menschen mit Behinderung in ihrem Aufgabenbereich wahrnehmen. Eine Aufsicht über
erwachsene Menschen setzt voraus, dass diese mindestens teilweise nicht in der Lage sind, ihre
Angelegenheiten selbstbestimmt zu regeln und dies auch nicht tun. Insoweit ist die Darstellung der
Beklagten, wonach die in den Wohngemeinschaften lebenden Menschen im Wesentlichen ihren
eigenen Willen verwirklichen und dabei nur Hilfe erhalten, nicht plausibel. Wäre dies der Fall, so
wären nicht zwei Betreuer während der ganzen Woche für vier Bewohner erforderlich.
53 Wenn in der Leistungsbeschreibung verlangt wird, dass den Bewohnerinnen und Bewohnern eine
angemessene Mitwirkung in den ihre Interessen berührenden Angelegenheiten bei der Betreuung
und Förderung einzuräumen sei, spricht schon dies gegen eine Selbstbestimmtheit. Jemand, der
mitwirkt - und zwar “angemessen” und nur in den seine Interessen berührenden Angelegenheiten -
, bestimmt gerade nicht selbst.
54 Ein wesentliches Ordnungselement ist, dass die Bewohner verpflichtet sind, sich an den
hauswirtschaftlichen Arbeiten wie Einkaufen, Kochen, Küchendienst, Waschen und Putzen zu
beteiligen. Das wird in den Punkten 3.2, 5.2 und 6 der Konzeption jeweils betont und stellt ein
zentrales Anliegen zur Förderung der Eingliederung der Behinderten dar. Die Bewohner müssen
nachdrücklich auf diese Verpflichtung hingewiesen werden, weil es nicht selbstverständlich ist,
dass sie sich aus eigenem Antrieb so organisieren, dass diese Aufgaben des täglichen Lebens
zwanglos erfüllt werden.
55 Außerdem hat die Fachgebietsleitung das Recht, aus pädagogischen und sonstigen
schwerwiegenden Gründen unter Berücksichtigung der gesundheitlichen und sozialen
Gesichtspunkte einen Umzug zu veranlassen. Dass diese Art der Aufsicht auch ausgeübt wird,
zeigt die von dem Kläger vorgelegte “Abmahnung” eines Bewohners. In ihr wird gerügt, dass
Absprachen und Termine nicht eingehalten worden seien und der Bewohner sich nicht an
hauswirtschaftlichen Tätigkeiten beteiligt habe.
56 Gegen die Selbstbestimmtheit des Zusammenlebens der Bewohner spricht weiterhin die
Regelung, wonach die Bewohner sich verpflichten, der für sie zuständigen Betreuungsperson ihre
Zimmer zugänglich zu machen. Dies geht über das normale Zugangsrecht des Vermieters weit
hinaus und ist dem Gedanken geschuldet, dass Aufgabe der Betreuer ua. ist, die Verwahrlosung
eines Bewohners auch in seinem eigenen nur von ihm selbst genutzten Zimmer zu verhindern.
57 Ebenfalls spricht gegen die von der Beklagten reklamierte weitgehende Selbständigkeit der
Bewohner und ihre freiwillige Regelungskompetenz ihres Zusammenlebens, dass es zu den
Aufgaben der Betreuer gehört, eine Gruppenkasse zu verwalten, in die die Bewohner laut Vertrag
verpflichtet sind, bestimmte Beträge einzuzahlen. Die Beklagte hat vorgetragen, dies sei in den
freien Willen der Bewohner gestellt. Dies widerspricht sowohl den Nutzungsverträgen als auch der
Stellenbeschreibung der Betreuer, auf die die Beklagte sonst ausschließlich abstellen möchte, um
deren Kompetenzen und Tätigkeiten zu beschreiben. In der Stellenbeschreibung ist ausdrücklich
geregelt, dass die Betreuer den monatlichen Barbetrag der Bewohner zu verwalten und
abzurechnen, ebenso Bekleidungsgelder zu beantragen und abzurechnen und ein Kassenbuch zu
führen haben. Dies sind Dinge, die in einer normalen Wohngemeinschaft selbstbestimmt
organisiert werden. Die Bewohner haben hingegen jedenfalls rechtlich gar nicht die Möglichkeit,
sich wegen ihrer finanziellen Angelegenheiten anders zu entscheiden. Ließe die Beklagte oder
ließen die Betreuer dies zu, würden sie ihre Aufsichtspflicht verletzen. Die Beklagte geht dabei
offensichtlich davon aus, dass die zu betreuenden Behinderten in finanziellen Dingen nicht völlig
verantwortungsbewusst handeln können. Dem entsprechen die vertraglichen und
dienstrechtlichen Vorgaben der Beklagten.
58 (4) Unerheblich ist es, ob die Bewohner - mit oder ohne Hilfe der Betreuer - eine sogenannte “WG-
Ordnung” ausdrücklich oder konkludent aufgestellt haben. Weder die Stellenbeschreibung noch die
Konzeption noch die Nutzungsverträge sehen eine solche WG-Ordnung vor. Allerdings wird auch
ohne eine solche Ordnung von den Bewohnern erwartet, dass sie sich telefonisch melden, wenn
sie nach 22:00 Uhr nach Hause kommen. Die Betreuer haben ihre private Telefonnummer in den
jeweiligen Wohnungen hinterlassen, damit sie benachrichtigt werden, wenn ein Bewohner nicht
oder zu spät nach Hause kommt oder Krisen entstehen. Dies macht zum einen deutlich, dass die
Aufsichtspflicht der Betreuer auch über ihre Arbeitszeit hinausgeht, und zum anderen, dass
Zweifel an der Fähigkeit der Bewohner, über ihr Leben frei selbst zu bestimmen, angebracht sind.
59 (5) Dieses Ergebnis widerspricht nicht der bisherigen Rechtsprechung des Senats. Allerdings
befinden sich die Bewohner nicht in einer zusammenhängenden Einrichtung, in der verschiedene
kleinere Einheiten, die sich in begrenzter Weise selbst verwalten, zusammenleben und einer
einheitlichen Hausordnung unterworfen sind, wie dies der Entscheidung vom 23. Oktober 2002 (-
10 AZR 60/02 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 35) zugrunde lag.
60 Der Senat hat in der Entscheidung vom 20. März 2002 (- 10 AZR 518/01 - AP BAT §§ 22, 23
Zulagen Nr. 34) Jugendwohngemeinschaften, die in von einem Heim in verschiedene
Wohngebiete ausgelagerten Wohnungen lebten, den Heimcharakter abgesprochen. Er hat
angenommen, dass solche Einheiten in eine organisatorisch zusammenhängende Einrichtung
eingebunden sein müssten, um noch als Heim im Tarifsinn gelten zu können. Die in begrenztem
Maße selbst zu setzenden Regeln fänden ihre Grenze in der für die gesamte Einrichtung
geltenden Ordnung. Erst wenn sich die vom Kläger jenes Verfahrens betreute Gruppe in einer
Wohneinheit innerhalb eines Heims befunden hätte, wären die Bewohner von weiteren Regeln als
den selbst gesetzten betroffen. Aus den unvermeidlichen Kontakten mit den übrigen
Heimbewohnern könnten mehr und andere Konflikte entstehen, als innerhalb der relativ
überschaubaren Einheit der Jugendwohngemeinschaft. Die wechselseitige soziale Kontrolle von
Heimbewohnern untereinander verbunden mit Kontrolle und Betreuung durch das Heimpersonal
unterschieden sich qualitativ von den Verhältnissen einer Wohngemeinschaft in einer separaten
Wohnung. Auf diesen Unterschieden beruhte gerade das Erziehungskonzept im dort
entschiedenen Fall. Die betreuten Personen hatten das Stadium der Heimunterbringung hinter
sich. Sie waren für reif und fähig befunden worden, ihr Leben in höherem Maße selbst zu
gestalten.
61 Auch in der Entscheidung vom 27. September 2000 (- 10 AZR 640/99 - ZTR 2001, 177) , hatte der
Senat bereits darauf hingewiesen, dass nur die überwiegende Tätigkeit im dort zu beurteilenden
Wohnheim, in dem die überwiegende Zahl der betreuten Rehabilitanden wohnte, und nicht eine
Tätigkeit in den außerhalb des Wohnheims bestehenden Wohngruppen den Zulagenanspruch
auslösen konnte. Beide Entscheidungen beruhten aber auf der Annahme, dass die außerhalb
gelegenen Wohneinheiten gerade einer selbstbestimmten Ordnung unterlagen. Die genannten
Erschwernisse können aber auch innerhalb einer Wohngemeinschaft entstehen, in der mehrere
betreuungsbedürftige Personen und ihre Betreuer Konflikten unterliegen, die durch die aufgestellte
Ordnung gelöst oder vermieden werden. Die Einhaltung dieser Ordnung sollen die Betreuer
gewährleisten.
62 (6) Das Wohnkonzept der Beklagten in ihren 42 betreuten Wohngemeinschaften ist eher
vergleichbar mit denjenigen Fällen, in denen ein Heimcharakter auch für kleinere Einheiten bejaht
worden war. Die Bewohner der Wohngemeinschaften versorgen sich zwar in begrenztem Maße
selbst und erhalten Hilfe dabei. Teilweise können Einzelne dies nicht oder nur unzulänglich und
sind daher auf verstärkte Hilfe angewiesen. Das Konzept beruht gerade darauf, dass Bewohner
mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen im Zusammenleben die Selbständigkeit anderer
fördern können, wenn sie Dinge beherrschen, die den anderen mangeln. Die Betreuer leisten dabei
Hilfe, indem sie Defizite ausgleichen und das Konzept zur Förderung der Selbständigkeit innerhalb
der gesetzten Ordnung durchsetzen. Die Bewohner sind aber noch nicht soweit - und werden es
zum Teil niemals sein -, dass sie im betreuten Einzelwohnen leben könnten. Das Konzept mag
zwar darauf abzielen, gerade dies zu ermöglichen, es ist aber deutlich, dass es noch des
betreuten und geordneten Zusammenwohnens bedarf, um dies zu erreichen.
Dr. Freitag
Marquardt
Brühler
Rudolph
Petri