Urteil des BAG vom 29.03.2017

Mehrurlaub - Zusatzurlaub - Vertrauensschutz

Siehe auch:
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 23.3.2010, 9 AZR 128/09
Mehrurlaub - Zusatzurlaub - Vertrauensschutz
Leitsätze
1. Der Schwerbehindertenzusatzurlaub aus § 125 Abs 1 Satz 1 SGB IX ist ebenso wie der Mindesturlaub
nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses abzugelten, wenn der Zusatzurlaub nicht gewährt werden
konnte, weil der Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt war.
2. Die deutschen Gerichte sind nach Art. 20 Abs. 3 GG gehalten, den Grundsatz des
Vertrauensschutzes zu beachten. Die langjährige Rechtsprechung der Urlaubssenate des
Bundesarbeitsgerichts, die seit 1982 vom Verfall von Urlaubs(-abgeltungs)ansprüchen bei bis zum Ende
des Übertragungszeitraums fortdauernder Arbeitsunfähigkeit ausging, war geeignet, Vertrauen der
Arbeitgeberseite auf den Fortbestand dieser Rechtsprechung zu begründen. Mit Ablauf der
Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996 trat eine
wesentliche Änderung ein. Danach entfiel die Vertrauensgrundlage. Seit dem 24. November 1996 war
das Vertrauen von Arbeitgebern auf die Fortdauer der bisherigen, zum nationalen Recht ergangenen
Rechtsprechung nicht länger schutzwürdig.
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Düsseldorf vom 2. Februar 2009 - 12 Sa 486/06 - teilweise aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf
vom 7. März 2006 - 3 Ca 7906/05 - unter Zurückweisung der Berufung im
Übrigen teilweise abgeändert und im Hauptausspruch zur Klarstellung
insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Urlaubsabgeltung von 8.054,00 Euro
brutto nebst Zinsen von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
1. Oktober 2005 und Zusatzurlaubsabgeltung von 2.013,54 Euro brutto nebst
Zinsen von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 4. Oktober 2005
zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Revision der Beklagten und die Anschlussrevision des
Klägers werden zurückgewiesen.
Der Kläger hat 29,49 % der Kosten erster Instanz zu tragen, die Beklagte
70,51 %.
Der Kläger hat 28,57 % der Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, die
Beklagte 71,43 %.
Der Kläger hat 66,67 % der Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen, die
Beklagte 33,33 %.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten noch über die Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs und des
Schwerbehindertenzusatzurlaubs für die Jahre 2004 und 2005.
2 Der 1949 geborene Kläger war seit 1971 - zuletzt im Außendienst - in der Fünftagewoche für die
beklagte Rentenversicherung und ihre Rechtsvorgängerin tätig. Der Kläger erzielte in
Vergütungsgruppe II ein monatliches Gehalt von 4.362,67 Euro. Die Beklagte ist als
bundesunmittelbare Versicherungsträgerin eine rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts.
3 Die Parteien verwiesen im Arbeitsvertrag auf den Manteltarifvertrag für die Angestellten der
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 24. Oktober 1961 und die diesen ergänzenden
oder ändernden Tarifverträge (MTAng-BfA). Der MTAng-BfA vom 24. Oktober 1961 idF des
64. Änderungstarifvertrags vom 31. Januar 2003 lautet auszugsweise:
(1) Der Angestellte erhält in jedem Urlaubsjahr Erholungsurlaub unter Zahlung der
Urlaubsvergütung. Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.
(2) Als Urlaubsvergütung werden die Vergütung (§ 26) und die Zulagen, die in
Monatsbeträgen festgelegt sind, weitergezahlt. …
(3) Der Urlaubsanspruch kann erst nach Ablauf von sechs Monaten … nach der
Einstellung geltend gemacht werden, es sei denn, dass der Angestellte vorher
ausscheidet.
(7) Der Urlaub ist spätestens bis zum Ende des Urlaubsjahres anzutreten.
Kann der Urlaub bis zum Ende des Urlaubsjahres nicht angetreten werden, ist er bis
zum 30. April des folgenden Urlaubsjahres anzutreten. Kann der Urlaub aus
dienstlichen Gründen oder wegen Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum 30. April angetreten
werden, ist er bis zum 30. Juni anzutreten. War ein innerhalb des Urlaubsjahres für
dieses Urlaubsjahr festgelegter Urlaub auf Veranlassung der
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in die Zeit nach dem 31. Dezember des
Urlaubsjahres verlegt worden und konnte er wegen Arbeitsunfähigkeit nicht nach Satz 2
bis zum 30. Juni angetreten werden, ist er bis zum 30. September anzutreten.
Urlaub, der nicht innerhalb der genannten Fristen angetreten ist, verfällt.
(1) Der Erholungsurlaubsanspruch des Angestellten, dessen durchschnittliche
regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf fünf Arbeitstage in der Kalenderwoche verteilt
ist (Fünftagewoche), beträgt in der Vergütungsgruppe … I b bis X Kr. IX bis Kr. I …
nach vollendetem 40. Lebensjahr 30 Arbeitstage.
(3) Die Dauer des Erholungsurlaubs einschließlich eines etwaigen Zusatzurlaubs mit
Ausnahme des Zusatzurlaubs nach dem SGB IX vermindert sich für jeden vollen
Kalendermonat eines Sonderurlaubs nach § 50 oder eines Ruhens des
Arbeitsverhältnisses nach § 59 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 5 um ein Zwölftel. …
(6) Beginnt oder endet das Arbeitsverhältnis im Laufe des Urlaubsjahres, so beträgt der
Urlaubsanspruch ein Zwölftel für jeden vollen Beschäftigungsmonat. Scheidet der
Angestellte wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 59) oder Erreichens der
Altersgrenze (§ 60) aus dem Arbeitsverhältnis aus, so beträgt der Urlaubsanspruch
sechs Zwölftel, wenn das Arbeitsverhältnis in der ersten Hälfte, und zwölf Zwölftel,
wenn es in der zweiten Hälfte des Urlaubsjahres endet. …
(1) Ist im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Urlaubsanspruch noch
nicht erfüllt, ist der Urlaub, soweit dies dienstlich oder betrieblich möglich ist, während
der Kündigungsfrist zu gewähren und zu nehmen. Soweit der Urlaub nicht gewährt
werden kann oder die Kündigungsfrist nicht ausreicht, ist der Urlaub abzugelten.
Entsprechendes gilt, wenn das Arbeitsverhältnis durch Auflösungsvertrag (§ 58) oder
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 59) endet oder wenn das Arbeitsverhältnis
nach § 59 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 5 zum Ruhen kommt.
Ist dem Angestellten wegen eines vorsätzlich schuldhaften Verhaltens außerordentlich
gekündigt worden oder hat der Angestellte das Arbeitsverhältnis unberechtigterweise
gelöst, wird lediglich derjenige Urlaubsanspruch abgegolten, der dem Angestellten nach
gesetzlichen Vorschriften bei Anwendung des § 48 Abs. 6 Satz 1 noch zustehen
würde.
(2) Für jeden abzugeltenden Urlaubstag werden bei der Fünftagewoche 3/65, bei der
Sechstagewoche 1/26 der Urlaubsvergütung gezahlt, die dem Angestellten
zugestanden hätte, wenn er während des ganzen Kalendermonats, in dem er
ausgeschieden ist, Erholungsurlaub gehabt hätte. …
(1) Wird durch den Bescheid eines Rentenversicherungsträgers festgestellt, dass der
Angestellte erwerbsgemindert ist, so endet das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des
Monats, in dem der Bescheid zugestellt wird, sofern der Angestellte eine außerhalb der
gesetzlichen Rentenversicherung bestehende Versorgung durch die
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte oder durch eine Versorgungseinrichtung
erhält, zu der die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Mittel beigesteuert hat. …
Das Arbeitsverhältnis endet nicht, wenn nach dem Bescheid des
Rentenversicherungsträgers eine befristete Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit gewährt wird. In diesem Falle ruht das Arbeitsverhältnis mit allen
Rechten und Pflichten von dem Tage an, der auf den nach Satz 1 oder 3 maßgebenden
Zeitpunkt folgt, bis zum Ablauf des Tages, bis zu dem die befristete Rente bewilligt ist,
längstens jedoch bis zum Ablauf des Tages, an dem das Arbeitsverhältnis endet.
…“
4 Der mit einem Grad von 60 schwerbehinderte Kläger musste sich seit 1995 wegen eines
schweren Bandscheibenleidens einer Vielzahl von Operationen unterziehen. Er war mehrfach
arbeitsunfähig krank. Vom 8. September 2004 bis 30. September 2005 war er durchgehend
arbeitsunfähig erkrankt.
5 Der Kläger beantragte im Mai 2005, ihm ab 1. Juni 2005 den Urlaub aus dem Jahr 2004 zu
gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Personalärztliche Dienst
müsse feststellen, dass der Kläger arbeitsfähig sei.
6 Die Beklagte stellte als Rentenversicherungsträgerin durch im September 2005 zugestellten
Bescheid fest, dass der Kläger erwerbsgemindert sei. Sie bewilligte ihm rückwirkend ab 1. März
2005 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Das Arbeitsverhältnis endete
aufgrund dieser Feststellung am 30. September 2005 nach § 59 MTAng-BfA.
7 Mit seiner der Beklagten im November 2005 zugestellten Klage hat der Kläger verlangt, jeweils
35 Urlaubstage aus den Jahren 2004 und 2005 abzugelten.
8 Der Kläger meint, seine Ansprüche auf Abgeltung des übergesetzlichen tariflichen Urlaubs und
des Schwerbehindertenzusatzurlaubs für die Jahre 2004 und 2005 bestünden wegen seiner
Arbeitsunfähigkeit - ebenso wie die Ansprüche auf Abgeltung des Mindesturlaubs - fort.
9 Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 14.094,78 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 1. Oktober 2005 zu zahlen.
10 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie ist der Ansicht, die Ansprüche auf
Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs von zehn Tagen jährlich und des
Schwerbehindertenzusatzurlaubs von fünf Tagen pro Jahr seien verfallen.
11 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.
12 Das Landesarbeitsgericht hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (heute:
Gerichtshof der Europäischen Union) um Vorabentscheidung ersucht. Der EuGH hat mit Urteil
vom 20. Januar 2009 ua. erkannt, dass „Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 einzelstaatlichen
Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen für nicht genommenen Jahresurlaub am Ende des
Arbeitsverhältnisses keine Vergütung gezahlt wird, wenn der Arbeitnehmer während des
gesamten Bezugszeitraums und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils davon
krankgeschrieben bzw. im Krankheitsurlaub war und deshalb seinen Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub nicht ausüben konnte“ (- C-350/06 und C-520/06 - [Schultz-Hoff], AP Richtlinie
2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1). Die Entscheidung des EuGH
behandelt nur den von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG (sog. Arbeitszeitrichtlinie, ABl. EU Nr. L 299
vom 18. November 2003 S. 9) gewährleisteten Mindesturlaubsanspruch.
13 Das Landesarbeitsgericht hat das erstinstanzliche Urteil in der Folge teilweise abgeändert. Es hat
die Beklagte verurteilt, 12.081,00 Euro brutto nebst Verzugszinsen seit 1. Oktober 2005 zu zahlen.
Sie schulde Abgeltung von jeweils 20 Tagen Mindesturlaub und jeweils fünf Tagen
Schwerbehindertenzusatzurlaub für die Jahre 2004 und 2005 sowie von zehn Tagen
Tarifmehrurlaub für 2005. Die weitergehende Berufung des Klägers hinsichtlich des tariflichen
Mehrurlaubs für das Jahr 2004 hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Die Beklagte hat
ihre vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision auf die Verurteilung zur Abgeltung des
Schwerbehindertenzusatzurlaubs für 2004 und 2005 sowie des tariflichen Mehrurlaubs für 2005
nebst Zinsen beschränkt. Die Verurteilung zur Abgeltung des Mindesturlaubs nebst Zinsen hat sie
hingenommen. Der Kläger verfolgt mit seiner Anschlussrevision das Ziel der zusätzlichen
Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs für 2004.
Entscheidungsgründe
14 A. Die auf den tariflichen Mehrurlaub für 2005 und den Schwerbehindertenzusatzurlaub für 2004
und 2005 beschränkte Revision der Beklagten ist nur hinsichtlich des tariflichen Mehrurlaubs für
das Jahr 2005 begründet. Die Anschlussrevision des Klägers (§ 554 ZPO), die den Anspruch auf
Abgeltung des übergesetzlichen Tarifurlaubs für 2004 zum Gegenstand hat, ist in der Sache
erfolglos. Ansprüche des Klägers auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs bestehen nicht. Der
Anspruch auf Abgeltung des Mehrurlaubs aus dem Jahr 2004 ist nicht entstanden. Der
Abgeltungsanspruch für den Mehrurlaub aus 2005 ist verfallen, weil er am 30. Juni 2006 nicht
erfüllbar war. Die 2004 und 2005 nicht erfüllten Ansprüche auf Schwerbehindertenzusatzurlaub
sind nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten.
15 I. Die Ansprüche des Klägers auf vollen tariflichen Mehrurlaub von jeweils zehn Tagen für die
Jahre 2004 und 2005 entstanden jeweils mit Jahresbeginn (§ 47 Abs. 1, Abs. 3, § 48 Abs. 1
MTAng-BfA). Der Mehrurlaubsanspruch für 2005, in dem das Arbeitsverhältnis vor dem Ende
des Urlaubsjahres am 30. September 2005 endete, unterlag nicht der anteiligen Kürzung des § 48
Abs. 6 Satz 1 MTAng-BfA. Der tarifliche Vollurlaubsanspruch bleibt nach § 48 Abs. 6 Satz 2
MTAng-BfA unberührt, wenn der Arbeitnehmer - wie hier - in der zweiten Jahreshälfte wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit ausscheidet. Die tariflichen Mehrurlaubsansprüche verfallen im
Unterschied zu den Ansprüchen auf Mindesturlaub auch bei Arbeitsunfähigkeit, wenn der Urlaub
nicht bis zum 30. Juni des Folgejahres angetreten werden kann (§ 47 Abs. 7 Unterabs. 2 Satz 2,
Abs. 7 Unterabs. 4 MTAng-BfA). Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestanden deswegen
keine erfüllbaren Mehrurlaubsansprüche, die nach § 51 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2
Satz 1 MTAng-BfA hätten abgegolten werden können.
16 1. Nach § 47 Abs. 7 Unterabs. 4 MTAng-BfA verfällt Urlaub, der nicht innerhalb der in § 47 Abs. 7
Unterabs. 2 MTAng-BfA genannten Fristen angetreten ist. § 51 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 und 3
MTAng-BfA sieht vor, dass Urlaub, der vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen
bestimmter Beendigungs- oder Ruhenstatbestände nicht gewährt werden kann, abzugelten ist.
17 2. Der Kläger konnte den Urlaub für das Jahr 2004 nicht bis 30. Juni 2005 und den Urlaub für
2005 nicht bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2005 antreten. Er war vom
8. September 2004 bis 30. September 2005 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und in dieser
Zeit nicht imstande, seine vertragsgemäße Arbeitsleistung zu erbringen. Der Kläger hat
hinsichtlich des tariflichen Mehrurlaubs für 2005 auch nicht behauptet, er sei bis zum Ende des
Übertragungszeitraums am 30. Juni 2006 (§ 47 Abs. 7 Unterabs. 2 Satz 2 2. Alt. MTAng-BfA)
wieder arbeitsfähig geworden. Hierfür ist er darlegungs- und beweisbelastet (vgl. Senat 27. Mai
1997 - 9 AZR 337/95 - zu I 2 d der Gründe, BAGE 86, 30). Der Anspruch auf Mehrurlaub für 2005
wäre bis zum Ende des tariflichen Übertragungszeitraums nicht erfüllbar gewesen (vgl. für die st.
Rspr. des Bundesarbeitsgerichts vor EuGH Schultz-Hoff, die daraus schloss, auch der
Abgeltungsanspruch sei nicht erfüllbar, Senat 7. September 2004 - 9 AZR 587/03 - zu I 2 a der
Gründe, EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 12).
18 3. Für das Jahr 2004 entstand bereits kein Anspruch auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs,
weil der Kläger am 30. Juni 2005 arbeitsunfähig war und den Urlaub deshalb nicht antreten
konnte. Der Mehrurlaubsanspruch aus 2004 verfiel mit dem 30. Juni 2005 und konnte sich mit
Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2005 nicht mehr in einen
Abgeltungsanspruch umwandeln. Der mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses am 30. September
2005 entstandene Abgeltungsanspruch für das Jahr 2005 verfiel mit dem 30. Juni 2006, weil der
Kläger an diesem Tag nach wie vor arbeitsunfähig war.
19 4. Die Tarifvertragsparteien können Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von
Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten
Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln (vgl. zu vertraglichen
Mehrurlaubsansprüchen Senat 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 81 ff., AP BUrlG § 7 Nr. 39 =
EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15; ebenso Bauer/Arnold Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 39 zu 3;
Krieger/Arnold NZA 2009, 530, 532; Liebscher öAT 2010, 11, 13; Schlachter RdA 2009
Sonderbeilage Heft 5, 31, 35; Sedlmeier EuZA 2010, 88, 98; Subatzus DB 2009, 510, 512; wohl
auch Genenger Anm. LAGE BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 22 zu IV 1 d; aA mit Blick auf die im
Unionsrecht gewährleisteten Grundrechtspositionen der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit
Abele RdA 2009, 312, 316 f.). Die Regelungsmacht der Tarifpartner ist nicht durch die für
gesetzliche Urlaubsansprüche gegenüber öffentlichen Arbeitgebern eintretende unmittelbare
Wirkung von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie oder die im Privatrechtsverkehr erforderliche
richtlinienkonforme Fortbildung des § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG beschränkt (zu dieser
richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ausführlich Senat 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 -
Rn. 44 ff., aaO; methodisch ablehnend und für eine richtlinienkonforme Auslegung Kamanabrou
SAE 2009, 233, 236). Einem tariflich angeordneten Verfall des übergesetzlichen
Urlaubsanspruchs und seiner Abgeltung steht nach dem klaren Richtlinienrecht und der
gesicherten Rechtsprechung des EuGH kein Unionsrecht entgegen (vgl. zu den Erfordernissen
einer eigenen Auslegung des Unionsrechts durch das nationale Gericht, dessen Entscheidungen
nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, EuGH
6. Dezember 2005 - C-461/03 - [Gaston Schul Douane-Expéditeur] Rn. 15 ff., Slg. 2005, I-10513;
15. September 2005 - C-495/03 - [Intermodal Transports] Rn. 33 ff., Slg. 2005, I-8151; 6. Oktober
1982 - Rechtssache 283/81 - [C.I.L.F.I.T.] Rn. 13 ff., Slg. 1982, 3415). Eine Vorlagepflicht nach
Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht nach Ansicht des Senats nicht.
20 a) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter iSv. Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG für die Auslegung des Unionsrechts. Den Parteien wird deswegen der gesetzliche Richter
entzogen, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV, den EuGH zur
Vorabentscheidung anzurufen, nicht nachkommt (vgl. für die st. Rspr. des
Bundesverfassungsgerichts 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 15 mwN, NZA 2010, 439).
21 aa) Das Bundesverfassungsgericht hat für die Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im
Zusammenhang mit der Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EG (jetzt: Art. 267 Abs. 3 AEUV)
beispielhaft Fallgruppen entwickelt. Die Vorlagepflicht wird in verfassungswidriger Weise
gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches einzelstaatliches Gericht eine Vorlage an den EuGH
überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl die unionsrechtliche Frage nach seiner Auffassung
entscheidungserheblich ist und es selbst Zweifel daran hat, wie die Frage richtig zu beantworten
ist (sog. grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt, wenn das letztinstanzliche
Gericht bewusst von der Rspr. des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und
dennoch nicht oder nicht erneut vorlegt (sog. bewusstes Abweichen von der Rspr. des
Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft). Gibt es zu einer entscheidungserheblichen Frage des
Unionsrechts noch keine einschlägige Rspr. des EuGH, hat der Gerichtshof die Frage
möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der
Rspr. des EuGH nicht nur als entfernte Möglichkeit (sog. Unvollständigkeit der Rspr.), wird
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm
zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat. In diesem
Zusammenhang ist zu prüfen, ob sich das innerstaatliche Gericht des Unionsrechts ausreichend
kundig gemacht hat. Sonst verkennt es regelmäßig die Bedingungen der Vorlagepflicht. Das
Gericht hat zudem Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am
Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfG 25. Februar 2010 - 1 BvR
230/09 - Rn. 18 f. mwN, NZA 2010, 439).
22 bb) Die dem EuGH durch Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse haben im Wesentlichen zum
Ziel, eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte zu
gewährleisten (vgl. noch zu Art. 234 Abs. 3 EG EuGH 6. Dezember 2005 - C-461/03 - [Gaston
Schul Douane-Expéditeur] Rn. 21 f., Slg. 2005, I-10513). Art. 267 Abs. 3 AEUV soll verhindern,
dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rspr. herausbildet, die mit den Normen des
Unionsrechts nicht in Einklang steht. Durch die Zusammenarbeit der mit der Anwendung des
Unionsrechts betrauten innerstaatlichen Gerichte mit dem Gerichtshof der Europäischen Union
soll die ordnungsgemäße Anwendung und die einheitliche Auslegung des Unionsrechts in allen
Mitgliedstaaten sichergestellt werden (vgl. zu Art. 234 Abs. 3 EG EuGH 15. September 2005 - C-
495/03 - [Intermodal Transports] Rn. 29 und 38, Slg. 2005, I-8151; noch zu Art. 177 Abs. 3 EWG-
Vertrag 6. Oktober 1982 - Rechtssache 283/81 - [C.I.L.F.I.T.] Rn. 7, Slg. 1982, 3415).
23 b) Der Zweck der Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV zeigt zugleich ihre Grenzen.
24 aa) Eine Vorlage ist sinnlos, wenn es eine gesicherte Rspr. des EuGH gibt, durch die die
betreffende Rechtsfrage gelöst ist (sog. acte éclairé). Das gilt selbst dann, wenn die strittigen
Fragen nicht vollkommen identisch sind (vgl. grundlegend EuGH 6. Oktober 1982 - Rechtssache
283/81 - [C.I.L.F.I.T.] Rn. 14, Slg. 1982, 3415; fortgeführt von EuGH 15. September 2005 - C-
495/03 - [Intermodal Transports] Rn. 33, Slg. 2005, I-8151; 6. Dezember 2005 - C-461/03 -
[Gaston Schul Douane-Expéditeur] Rn. 16, Slg. 2005, I-10513; siehe auch BVerfG 25. Februar
2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 20, NZA 2010, 439).
25 bb) Die richtige Anwendung des Unionsrechts kann ferner offenkundig sein, wenn keinerlei Raum
für einen vernünftigen Zweifel an der Beantwortung der entscheidungserheblichen Frage ist (sog.
acte clair). Das innerstaatliche Gericht darf jedoch nur dann von einer offenkundigen
Beantwortung ausgehen, wenn es davon überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen
Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde (vgl. EuGH 6. Dezember 2005 -
C-461/03 - [Gaston Schul Douane-Expéditeur] Rn. 16, Slg. 2005, I-10513; 15. September 2005 -
C-495/03 - [Intermodal Transports] Rn. 33, Slg. 2005, I-8151; 6. Oktober 1982 - Rechtssache
283/81 - [C.I.L.F.I.T.] Rn. 16, Slg. 1982, 3415; BVerfG 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 20,
NZA 2010, 439). Ob ein solcher Fall gegeben ist, muss unter Berücksichtigung der Eigenheiten
des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr
voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Europäischen Union beurteilt
werden. Nimmt das letztinstanzlich entscheidende innerstaatliche Gericht eine offenkundige
Auslegung des Unionsrechts an, braucht es den EuGH nicht um Vorabentscheidung zu
ersuchen. Das nationale Gericht darf die Frage in eigener Verantwortung beantworten (vgl. EuGH
15. September 2005 - C-495/03 - [Intermodal Transports] Rn. 33 und 35, aaO).
26 c) Aus Sicht des Senats ist Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen, dass diese
Regelung tarifliche Ansprüche auf Abgeltung des Mehrurlaubs offenkundig nicht erfasst.
Jedenfalls ist der bestehenden Rechtsprechung des EuGH zu entnehmen, dass das Unionsrecht
einem tariflich angeordneten Verfall des Urlaubs(-abgeltungs)anspruchs, der den von Art. 7
Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie gewährleisteten Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigt,
nicht entgegensteht.
27 aa) Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie bestimmt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen
Maßnahmen treffen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier
Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält,
die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen
Gepflogenheiten vorgesehen sind. Die Richtlinie bindet ausdrücklich nur den von ihr
gewährleisteten Mindestjahresurlaubsanspruch von vier Wochen an die von den nationalen
Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten vorgesehenen Modalitäten.
28 bb) Nach Art. 15 der Richtlinie 2003/88/EG berührt diese nicht das Recht der Mitgliedstaaten, für
die Sicherheit und den Gesundheitsschutz günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften
anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den
Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen
den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten. Adressat der Regelung sind nach Art. 29 der
Arbeitszeitrichtlinie die Mitgliedstaaten. Art. 15 der Arbeitszeitrichtlinie lässt die Regelungsmacht
der Tarifvertragsparteien ausdrücklich unberührt.
29 cc) Die Arbeitszeitrichtlinie enthält im Unterschied zur sog. Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG
(ABl. EG Nr. L 348 vom 28. November 1992 S. 1) auch keine Regelung, die
Mehrurlaubsansprüche erfasst (Senat 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 81 ff., AP BUrlG § 7
Nr. 39 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15; ebenso Subatzus DB 2009, 510, 512; aA Abele RdA
2009, 312, 316 f., der die Vertragsfreiheit und die Privatautonomie als Unionsgrundrechte versteht
und sie für den vertraglichen Mehrurlaub heranzieht).
30 (1) Nach Art. 8 Abs. 1 der Mutterschutzrichtlinie treffen die Mitgliedstaaten „die erforderlichen
Maßnahmen, um sicherzustellen, dass den Arbeitnehmerinnen … ein Mutterschaftsurlaub von
mindestens 14 Wochen ohne Unterbrechung gewährt wird“. Art. 11 Nr. 2 Buchst. a der
Mutterschutzrichtlinie verlangt, dass „die mit dem Arbeitsvertrag der Arbeitnehmerinnen im Sinne
des Artikels 2 verbundenen anderen Rechte als die unter dem nachstehenden Buchstaben b)
genannten“ gewährleistet sein müssen. Art. 11 Nr. 2 Buchst. b der Mutterschutzrichtlinie
bestimmt, dass „die Fortzahlung eines Arbeitsentgelts und/oder der Anspruch auf eine
angemessene Sozialleistung für die Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 2“ gewährleistet
sein müssen.
31 (2) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich in der Entscheidung Merino Gómez zum
Verhältnis der Urlaubsregelung in Art. 7 Abs. 1, Art. 15 der Arbeitszeitrichtlinie und der
Bestimmung in Art. 11 Nr. 2 Buchst. a der Mutterschutzrichtlinie 92/85/EWG geäußert (vgl.
EuGH 18. März 2004 - C-342/01 - Rn. 42 bis 45, Slg. 2004, I-2605).
32 (a) Der EuGH hat seine Auffassung, wonach ein Anspruch auf längeren Jahresurlaub von der
Mutterschutzrichtlinie erfasst werde, wenn sich ein Mitgliedstaat für eine längere als die von Art. 7
Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie verbürgte Dauer des Mindestjahresurlaubs entschieden habe,
ausdrücklich auf Art. 11 Nr. 2 Buchst. a der Mutterschutzrichtlinie gestützt. Voraussetzung ist,
dass sich die Frauen während der Zeit des Jahresurlaubs der gesamten Belegschaft im
Mutterschaftsurlaub befanden (vgl. EuGH 18. März 2004 - C-342/01 - [Merino Gómez] Rn. 44,
Slg. 2004, I-2605).
33 (b) Die Arbeitszeitrichtlinie enthält abweichend von der Mutterschutzrichtlinie keine solche
Regelung, die vertraglich begründete andere Rechte als die von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie
gewährleisteten Rechte verbürgt. Die bisherige Rspr. des EuGH ist demnach nicht unvollständig.
Die vom Gerichtshof in der Sache Merino Gómez entschiedene Auslegungsfrage braucht nicht
völlig identisch mit der nun zu beantwortenden Rechtsfrage zu sein, um eine gesicherte Rspr.
des EuGH annehmen zu können (vgl. EuGH 6. Dezember 2005 - C-461/03 - [Gaston Schul
Douane-Expéditeur] Rn. 16, Slg. 2005, I-10513; 15. September 2005 - C-495/03 - [Intermodal
Transports] Rn. 33, Slg. 2005, I-8151; 6. Oktober 1982 - Rechtssache 283/81 - [C.I.L.F.I.T.]
Rn. 14, Slg. 1982, 3415; siehe auch BVerfG 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 20, NZA
2010, 439).
34 5. Der Senat hat die hier zu beurteilenden tariflichen Vorschriften deshalb anhand des
innerstaatlichen Rechts auszulegen. Diese Auslegung ergibt, dass der Anspruch des Klägers auf
Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs für 2004 schon nicht entstanden ist. Der Anspruch auf
Abgeltung des Tarifmehrurlaubs für 2005 ist verfallen.
35 a) Der Senat hat in st. Rspr. die Auslegungsregel aufgestellt, für einen Regelungswillen, der
zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen vertraglichen Ansprüchen unterscheide, müssten
deutliche Anhaltspunkte bestehen (vgl. für die Auslegung einer kirchlichen Arbeits- und
Vergütungsordnung nach §§ 133, 157 BGB zuletzt 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 84 f., AP
BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15; aA ArbG Berlin 22. April 2009 - 56 Ca
21280/08 - zu I 2.1.2 der Gründe, NZA-RR 2009, 411; Bauer/Arnold Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 39
zu 3; Kamanabrou SAE 2009, 233, 237; Krieger/Arnold NZA 2009, 530, 532; Sedlmeier EuZA
2010, 88, 98). Der Senat hält an diesem Auslegungsansatz fest.
36 b) Die Kritik an der Senatsrechtsprechung zum einzelvertraglichen Mehrurlaub entzündet sich
daran, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt zu bestimmen sei.
37 aa) Der Senat hat das Regel-Ausnahme-Verhältnis von unterbleibendem Verfall oder Untergang
der vertraglichen Mehrurlaubsansprüche dahin austariert, dass die Vertragsparteien nur
ausnahmsweise vom Gesetzesrecht abweichen wollen. Für einen abweichenden, durch
Auslegung nach §§ 133, 157 BGB zu ermittelnden übereinstimmenden Willen müssen deutliche
Anhaltspunkte bestehen (24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 84, AP BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA
BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15; ebenso Kohte/Beetz jurisPR-ArbR 25/2009 Anm. 1 zu C 3;
Mestwerdt jurisPR-ArbR 27/2009 Anm. 2 zu C; Rummel AuR 2009, 217; wohl auch Rehwald AiB
2010, 59, 60; differenzierend Gaul/Josten/Strauf BB 2009, 497, 498 f.; aA Bauer/Arnold Anm. AP
BUrlG § 7 Nr. 39 zu 3; Dornbusch/Ahner NZA 2009, 180, 183; Kamanabrou SAE 2009, 233, 237;
Krieger/Arnold NZA 2009, 530, 532; Sedlmeier EuZA 2010, 88, 98). Regel ist der „Gleichlauf“ der
Ansprüche. Ausnahme ist ihr unterschiedliches rechtliches Schicksal.
38 bb) Dieser Auslegungsregel ist ein Teil der Rspr. entgegengetreten (vgl. ArbG Berlin 22. April
2009 - 56 Ca 21280/08 - zu I 2.1.2 der Gründe, NZA-RR 2009, 411).
39 (1) Diese Auffassung nimmt an, das Regel-Ausnahme-Verhältnis sei - auch für Tarifverträge -
anders zu bestimmen. Es sei nicht nach Anhaltspunkten dafür zu suchen, dass sich die
Unverfallbarkeit des Mindesturlaubsanspruchs nicht auch auf den Mehrurlaub erstrecke.
Vielmehr sei danach zu fragen, ob es Anhaltspunkte dafür gebe, dass arbeitsunfähige
Arbeitnehmer über das gesetzlich zwingende Maß hinaus bessergestellt werden sollten als
andere Arbeitnehmer.
40 (2) Diese Ansicht dürfte im Hinblick auf die zitierte Senatsrechtsprechung einem Missverständnis
unterliegen (vgl. das Zitat in ArbG Berlin 22. April 2009 - 56 Ca 21280/08 - zu I 2.1.2 der Gründe,
NZA-RR 2009, 411).
41 (a) Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 7. September 2004 in Fortführung seiner
bisherigen Rechtsprechung angenommen, § 7 Abs. 4 BUrlG sei auch für tarifliche
Urlaubsabgeltungsansprüche maßgeblich, soweit die Tarifvertragsparteien keine zugunsten der
Arbeitnehmer wirkenden, davon abweichenden Sonderregelungen getroffen hätten (- 9 AZR
587/03 - zu I 2 a der Gründe, EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 12).
42 (b) Der Senat hat diese Aussage nur getroffen, um die Surrogatstheorie für den
Abgeltungsanspruch aus § 7 Abs. 4 BUrlG zu stützen. Arbeitsunfähige, aus dem
Arbeitsverhältnis ausscheidende Arbeitnehmer sollten durch eine tarifliche Abfindung nicht
bessergestellt werden als im Arbeitsverhältnis verbleibende arbeitsunfähige Arbeitnehmer. Die
Surrogatstheorie konnte für Abgeltungsansprüche bei bis zum Ende des Übertragungszeitraums
fortdauernder Arbeitsunfähigkeit in der Folge der Entscheidung Schultz-Hoff des EuGH vom
20. Januar 2009 (- C-350/06 und C-520/06 - AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-Vertrag
1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1) nicht aufrechterhalten werden. Für die Frage, welche
Auslegungsregeln seitdem für den Verfall von Mindest- und Mehrurlaubs(-
abgeltungs)ansprüchen anzuwenden sind, hat die zitierte frühere Erwägung des Senats keine
Bedeutung.
43 (3) Der Senat stimmt der These auch inhaltlich nicht zu, es sei nach Anhaltspunkten dafür zu
suchen, ob arbeitsunfähige Arbeitnehmer bessergestellt werden sollten als arbeitsfähige
Arbeitnehmer (vgl. ArbG Berlin 22. April 2009 - 56 Ca 21280/08 - zu I 2.1.2 der Gründe, NZA-RR
2009, 411). Für die Ungleichbehandlung arbeitsfähiger und arbeitsunfähiger Arbeitnehmer besteht
ein sachlicher Grund. Urlaubsansprüche arbeitsfähiger Arbeitnehmer sind im Unterschied zu
Urlaubsansprüchen arbeitsunfähiger Arbeitnehmer erfüllbar. Der mit Beendigung des
Arbeitsverhältnisses entstehende Anspruch auf Abgeltung des Mindesturlaubs gleicht den
Nachteil der fehlenden Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs aus und kapitalisiert den nicht zu
verwirklichenden Freistellungsanspruch (ähnlich Mestwerdt jurisPR-ArbR 27/2009 Anm. 2 zu C).
44 cc) Die weitere Kritik an der Senatsrechtsprechung zum einzelvertraglichen Mehrurlaub besteht
darin, dass das angenommene Regel-Ausnahme-Verhältnis im Fall sog. Altverträge unrichtig sei
(vgl. nur Bauer/Arnold Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 39 zu 3; Kamanabrou SAE 2009, 233, 237;
Krieger/Arnold NZA 2009, 530, 532; Sedlmeier EuZA 2010, 88, 98).
45 (1) Die Kritiker im Schrifttum meinen, vor der Entscheidung des EuGH in der Sache Schultz-Hoff
vom 20. Januar 2009 (- C-350/06 und C-520/06 - AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-
Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1) seien die Arbeitsvertrags- und Tarifvertragsparteien davon
ausgegangen, dass für (tarif-)vertraglich eingeräumten Mehrurlaub die damaligen
höchstrichterlichen Grundsätze zum Erlöschen von Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen
anzuwenden seien. Mangels anderweitiger Anhaltspunkte sei der übereinstimmende Parteiwille in
Altverträgen dahin gegangen, dass sich übergesetzliche Urlaubsansprüche und ihre Abgeltung
nach den bisherigen Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts richteten (vgl.
nur Bauer/Arnold Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 39 zu 3; in Richtung einer ergänzenden
Vertragsauslegung Kamanabrou SAE 2009, 233, 237).
46 (2) Der Senat hält auch für tarifliche Ansprüche auf Abgeltung von Mehrurlaub an seinen
Auslegungsüberlegungen fest (vgl. zu einzelvertraglich vereinbartem Mehrurlaub 24. März 2009 -
9 AZR 983/07 - Rn. 84 f., AP BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15).
47 (a) Für einen Regelungswillen, der zwischen Ansprüchen auf Abgeltung von Mindest- und
Mehrurlaub unterscheidet, müssen auch bei Tarifverträgen, die vor der Entscheidung des EuGH
in der Sache Schultz-Hoff (20. Januar 2009 - C-350/06 und C-520/06 - AP Richtlinie 2003/88/EG
Nr. 1 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1) geschlossen wurden, deutliche
Anhaltspunkte bestehen. Diese deutlichen Anhaltspunkte müssen sich aus Tarifwortlaut, -
zusammenhang und -zweck sowie ggf. aus der Tarifgeschichte ergeben.
48 (b) Die an der Senatsrechtsprechung geäußerte Kritik unternimmt den Versuch, im Bereich (tarif-
)vertraglichen Mehrurlaubs eine Art Vertrauensschutz durch eine nach Alt- und Neuverträgen
differenzierende Vertrags- oder Tarifvertragsauslegung zu begründen. Sie will nicht an die
objektive Rechtslage, sondern an den „irrtumsanfälligen Akt der Rechtserkenntnis“ durch die
höchstrichterliche Rechtsprechung anknüpfen.
49 (aa) Gegen einen solchen Auslegungsansatz spricht, dass eine Rechtsprechungsänderung als
solche nicht gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstößt. Höchstrichterliche Urteile sind kein
Gesetzesrecht und erzeugen keine vergleichbare Rechtsbindung (vgl. für die st. Rspr. des
Bundesverfassungsgerichts 15. Januar 2009 - 2 BvR 2044/07 - Rn. 85, BVerfGE 122, 248;
26. Juni 1991 - 1 BvR 779/85 - zu C I 2 b und c der Gründe, BVerfGE 84, 212; siehe auch BAG
23. März 2006 - 2 AZR 343/05 - Rn. 33, BAGE 117, 281). Den Vertrags- oder
Tarifvertragsparteien kann daher weder regelmäßig noch ohne konkrete Anhaltspunkte der Wille
unterstellt werden, sie legten ihren Vereinbarungen nicht die objektive Rechtslage, sondern die
höchstrichterliche Rechtsanwendung zugrunde. Sowohl der Sechste als auch der Achte Senat
haben nach der ersten Rechtsprechungswende im Jahr 1982, als der Sechste Senat abweichend
von der vorangegangenen Rspr. des Fünften Senats den Verfall des Urlaubs(-
abgeltungs)anspruchs bei Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Übertragungszeitraums
angenommen hatte, keine Anknüpfung der Tarifvertragsparteien an die aufgegebene Rspr.
diskutiert (vgl. beispielhaft BAG 31. Oktober 1986 - 8 AZR 244/84 - zu I 2 und II der Gründe
mwN, BAGE 53, 304; zu der durch das Urteil des Sechsten Senats vom 13. Mai 1982 [- 6 AZR
360/80 - zu II 2 bis 4 der Gründe, BAGE 39, 53] aufgegebenen Rspr. des Fünften Senats für den
gesetzlichen Urlaub grundlegend 13. November 1969 - 5 AZR 82/69 - zu 2 der Gründe,
BAGE 22, 211; fortgeführt von der Entscheidung vom 21. Juli 1973 - 5 AZR 105/73 - AP BUrlG
§ 7 Übertragung Nr. 3 = EzA BUrlG § 7 Nr. 15, die den Verfall übergesetzlichen tariflichen
Urlaubs auch bei Arbeitsunfähigkeit für unbedenklich hielt).
50 (bb) Das von den Kritikern der Senatsrechtsprechung geforderte umgekehrte Regel-Ausnahme-
Verhältnis für Altverträge ist zudem nicht erforderlich, um die Interessen beider Seiten im
Rahmen der Auslegung angemessen zu berücksichtigen. Deutliche Anhaltspunkte für einen
Regelungswillen der Vertrags- oder Tarifvertragsparteien, der zwischen gesetzlichen und
übergesetzlichen Urlaubs(-abgeltungs)ansprüchen unterscheidet, sind schon dann anzunehmen,
wenn sich die (Tarif-)Vertragsparteien in weiten Teilen vom gesetzlichen Urlaubsregime lösen
und stattdessen eigene Regeln aufstellen. Im Fall einer solchen eigenständigen,
zusammenhängenden und in sich konsistenten Regelung ist ohne entgegenstehende
Anhaltspunkte idR davon auszugehen, dass die (Tarif-)Vertragsparteien Ansprüche nur
begründen und fortbestehen lassen wollen, soweit eine gesetzliche Verpflichtung besteht (für eine
Unterscheidung zwischen konstitutiven und deklaratorischen Regelungen Rehwald AiB 2010, 59,
60). Eine ausdrückliche Differenzierung zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen
Ansprüchen ist dann nicht notwendig.
51 c) Die Voraussetzungen einer Abweichung der Tarifvertragsparteien vom Gesetzesrecht sind
hier nach Tarifwortlaut, -zusammenhang, -zweck und -geschichte erfüllt. Der Anspruch des
Klägers auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs für das Jahr 2004 ist nicht entstanden, sein
Anspruch auf Abgeltung des Tarifmehrurlaubs für 2005 ist verfallen (§ 47 Abs. 7 Unterabs. 2
Satz 2 2. Alt., Abs. 7 Unterabs. 4 MTAng-BfA).
52 aa) Die Tarifvertragsparteien haben in § 47 MTAng-BfA ein weitgehend vom Gesetzesrecht
gelöstes Urlaubsregime geschaffen. Das hebt die Beklagte zu Recht hervor. § 47 MTAng-BfA
regelt sowohl die Anspruchsvoraussetzungen als auch die Rechtsfolge des Verfalls bei
Fristversäumnis. § 48 MTAng-BfA trifft Aussagen über die Dauer des Urlaubsanspruchs. Im
Unterschied zu § 7 Abs. 3 Satz 1 und 3 BUrlG stellt § 47 Abs. 7 MTAng-BfA nicht darauf ab,
dass der Urlaub im Urlaubsjahr oder Übertragungszeitraum gewährt und genommen wird. Ein
Anspruchsuntergang wird bereits durch einen Antritt des Urlaubs im Urlaubsjahr oder
Übertragungszeitraum vermieden. § 47 Abs. 7 Unterabs. 4 MTAng-BfA ordnet über die Regelung
in § 7 BUrlG hinaus ausdrücklich den Verfall des Urlaubsanspruchs an. In §§ 48a, 49 und 50
MTAng-BfA finden sich Regelungen über den Zusatzurlaub für Wechselschichtarbeit,
Schichtarbeit und Nachtarbeit, Zusatz- und Sonderurlaub.
53 bb) Die Tarifgeschichte ist seit Langem durch ein eigenständiges Urlaubsregime gekennzeichnet.
54 (1) Mit dem 35. Änderungstarifvertrag zum MTAng-BfA vom 3. Dezember 1979 wurde in § 47
Abs. 7 Unterabs. 4 MTAng-BfA ausdrücklich der Verfall des nicht rechtzeitig angetretenen
Urlaubs angeordnet. Dieser Verfall bezog sich auch auf Fälle der Arbeitsunfähigkeit. Damit
machten die Tarifvertragsparteien von ihrem Gestaltungsspielraum Gebrauch, den ihnen die
Rspr. des Fünften Senats 1973 auch in Fällen der Arbeitsunfähigkeit für übergesetzliche tarifliche
Urlaubs(-abgeltungs)ansprüche eröffnet hatte (vgl. zu § 47 Abs. 7 BAT 21. Juli 1973 - 5 AZR
105/73 - AP BUrlG § 7 Übertragung Nr. 3 = EzA BUrlG § 7 Nr. 15).
55 (2) § 47 Abs. 7 Unterabs. 2 Satz 2 MTAng-BfA idF vom 3. Dezember 1979 enthielt außerdem
eine auf die Besonderheiten des tariflichen Systems zugeschnittene Lösung: Konnte der
Angestellte den Urlaub wegen Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum 30. April antreten, hatte er ihn
innerhalb von drei Monaten nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit anzutreten, spätestens
jedoch bis zum Ablauf des zweiten auf die Entstehung des Anspruchs folgenden Urlaubsjahres.
56 cc) § 48 Abs. 6 Satz 2 und § 51 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 und 3 MTAng-BfA idF vom 31. Januar
2003 deuten nicht auf einen von den Tarifvertragsparteien bezweckten „Gleichlauf“ der
gesetzlichen sowie der übergesetzlichen Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche bei
Arbeitsunfähigkeit hin.
57 (1) Nach § 48 Abs. 6 Satz 2 MTAng-BfA bleibt es beim vollen Urlaubsanspruch, wenn das
Arbeitsverhältnis in der zweiten Hälfte des Urlaubsjahres wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
(§ 59 MTAng-BfA) endet. § 51 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 und 3 MTAng-BfA sieht vor, dass der
Urlaub abzugelten ist, wenn das Arbeitsverhältnis durch Auflösungsvertrag (§ 58 MTAng-BfA)
oder wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 59 MTAng-BfA) endet oder wenn das
Arbeitsverhältnis nach § 59 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 5 MTAng-BfA zum Ruhen kommt.
58 (2) § 48 Abs. 6 Satz 2 MTAng-BfA enthält für bestimmte Beendigungstatbestände eine
Zwölftelungsregelung. § 51 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 und 3 MTAng-BfA knüpft den
Abgeltungsanspruch an ausgewählte Beendigungstatbestände und - über die Regelung in § 7
Abs. 4 BUrlG hinaus - an einen Ruhenstatbestand (zu einer ähnlichen Tarifvorschrift Senat
7. September 2004 - 9 AZR 587/03 - zu I 2 b bb der Gründe, EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 12).
Beide Tarifnormen regeln nicht den absoluten Umfang des Urlaubsabgeltungsanspruchs. § 51
Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 und 3 MTAng-BfA legt vielmehr bestimmte Abgeltungstatbestände
fest. Der Fall der Arbeitsunfähigkeit ist nicht geregelt. Die Begriffe der Arbeitsunfähigkeit und der
verminderten Erwerbsfähigkeit iSv. § 59 MTAng-BfA decken sich nicht (vgl. zu ähnlichen
Tarifbestimmungen Senat 10. Mai 2005 - 9 AZR 253/04 - zu III 2 b der Gründe, EzA BUrlG § 7
Abgeltung Nr. 13; 7. September 2004 - 9 AZR 587/03 - zu I 2 b bb der Gründe, aaO). § 48 Abs. 6
Satz 2 1. Alt. MTAng-BfA zwölftelt den Abgeltungsanspruch, ohne seinen Gesamtumfang zu
bestimmen.
59 dd) Die Tarifvertragsparteien unterscheiden in § 51 Abs. 1 Unterabs. 2 MTAng-BfA ausdrücklich
zwischen der Abgeltung des gesetzlichen und des übergesetzlichen Urlaubsanspruchs.
60 (1) Danach wird lediglich derjenige Urlaubsanspruch abgegolten, der dem Angestellten nach
gesetzlichen Vorschriften bei Anwendung des § 48 Abs. 6 Satz 1 MTAng-BfA noch zustünde,
wenn dem Angestellten wegen eines vorsätzlich schuldhaften Verhaltens außerordentlich
gekündigt worden ist oder der Angestellte das Arbeitsverhältnis unberechtigterweise gelöst hat.
61 (2) Die Tarifnorm lässt den tariflichen Mehrurlaubsanspruch ausdrücklich nur bei einer
außerordentlichen Arbeitgeberkündigung aufgrund vorsätzlich schuldhaften Verhaltens des
Angestellten oder einer ungerechtfertigten Eigenkündigung des Arbeitnehmers entfallen. Daraus
kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, die Tarifvertragsparteien hätten in allen anderen
Fällen den „Gleichlauf“ von gesetzlichen und übergesetzlichen Abgeltungsansprüchen
beabsichtigt. Für eine Unterscheidung der beiden Ansprüche sprechen entscheidend das in § 47
MTAng-BfA geschaffene eigenständige Urlaubs-, insbesondere Fristenregime und die dort
angeordnete Rechtsfolge des Verfalls bei Fristversäumnis.
62 ee) Die Tarifvertragsparteien stellen in § 51 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 und 3 MTAng-BfA auf die
Abgeltung noch nicht erfüllter Urlaubsansprüche ab. In Verbindung mit dem für die Übertragung
begründeten besonderen Fristenregime des § 47 Abs. 7 Unterabs. 2 MTAng-BfA folgt daraus,
dass sie für die Abgeltung des übergesetzlichen Urlaubs von der Voraussetzung eines
erfüllbaren Urlaubsanspruchs ausgehen.
63 II. Der Kläger hat Anspruch auf Abgeltung des 2004 und 2005 entstandenen
Schwerbehindertenzusatzurlaubs von jeweils fünf Arbeitstagen (§ 125 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2
Satz 3 SGB IX iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG). Die Zusatzurlaubsansprüche waren bei Beendigung des
Arbeitsverhältnisses am 30. September 2005 noch nicht verfallen. § 7 Abs. 4 BUrlG setzt für
Ansprüche auf Abgeltung des Zusatzurlaubs nicht voraus, dass die Freistellungsansprüche
erfüllbar waren.
64 1. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Arbeitnehmer, die in der
Fünftagewoche beschäftigt werden, Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf
Arbeitstagen im Urlaubsjahr.
65 2. Der schwerbehindertenrechtliche Zusatzurlaub bestimmt sich nach den Regeln des
Mindesturlaubs der §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG.
66 a) Diese sog. urlaubsrechtliche Akzessorietät ist schon wegen der Begriffe des „zusätzlichen
Urlaubs“ in § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und des „Zusatzurlaubs“ in § 125 Abs. 1 Satz 2 SGB IX
geboten. § 125 Abs. 3 SGB IX ordnet „auch“ für den Fall der rückwirkenden Feststellung der
Schwerbehinderteneigenschaft die Anwendung der „urlaubsrechtlichen Regelungen“ an.
67 b) Hinzu kommt, dass sowohl der Mindesturlaub aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG als auch der
Schwerbehindertenzusatzurlaub aus § 125 SGB IX gesetzliche, nicht disponible
Urlaubsansprüche sind. Sie unterscheiden sich durch ihre strikte Unabdingbarkeit von
übergesetzlichen einzel- oder tarifvertraglichen Ansprüchen (vgl. Griese jurisPK-SGB IX § 125
Rn. 30).
68 c) Die tarifliche Regelung des § 48 Abs. 3 Satz 1 MTAng-BfA, die den
Schwerbehindertenzusatzurlaub von der Verringerung der Dauer des Erholungsurlaubs und des
tariflichen Zusatzurlaubs bei Sonderurlaub ausnimmt, greift das Prinzip der Akzessorietät des
Schwerbehindertenzusatzurlaubs auf.
69 d) Auf den Zusatzurlaub sind die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und
Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden (für die st. Rspr. Senat 24. Oktober
2006 - 9 AZR 669/05 - Rn. 12, BAGE 120, 50; 21. Februar 1995 - 9 AZR 166/94 - zu I 1 der
Gründe noch zu § 47 SchwbG, BAGE 79, 211; ebenso Kohte/Beetz jurisPR-ArbR 25/2009
Anm. 1 zu C 2; aA Subatzus DB 2009, 510, 512).
70 aa) Nach der neueren Senatsrechtsprechung in der Folge der Entscheidung Schultz-Hoff des
EuGH ist der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch nicht nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG befristet,
wenn der Arbeitnehmer dauernd arbeitsunfähig ist. Der Mindesturlaub ist bei Beendigung des
Arbeitsverhältnisses - unabhängig von der Erfüllbarkeit des Freistellungsanspruchs in einem
gedachten fortbestehenden Arbeitsverhältnis - nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten (vgl. das nach
der Vorabentscheidung vom 20. Januar 2009 - C-350/06 und C-520/06 - [Schultz-Hoff] Rn. 42 ff.,
AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1 ergangene
Senatsurteil vom 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 47 ff., AP BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA BUrlG
§ 7 Abgeltung Nr. 15). Diese Erkenntnisse hat der Senat für Arbeitsverhältnisse mit
privatrechtlich organisierten Arbeitgebern aus einer Rechtsfortbildung von § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG
anhand der Vorgaben in Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie gewonnen.
71 bb) Auch der Schwerbehindertenzusatzurlaub ist abzugelten, wenn der Arbeitnehmer bis zum
Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig ist. Der Zusatzurlaubsanspruch aus § 125
Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist an das rechtliche Schicksal des Mindesturlaubsanspruchs gebunden
(ebenso Griese jurisPK-SGB IX § 125 Rn. 30 ff.; Kohte/Beetz jurisPR-ArbR 25/2009 Anm. 1 zu
C 2; Liebscher öAT 2010, 11, 14; Mestwerdt jurisPR-ArbR 27/2009 Anm. 2 zu C; Pulz jurisPR-
ArbR 12/2010 Anm. 5 zu C; Rummel AuR 2009, 217; aA LAG Berlin-Brandenburg 2. Oktober
2009 - 6 Sa 1215/09 und 6 Sa 1536/09 - zu 2.2 der Gründe; ArbG Berlin 22. April 2009 - 56 Ca
21280/08 - zu I 3 der Gründe, NZA-RR 2009, 411; Bauer/Arnold Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 39 zu 4;
Sedlmeier EuZA 2010, 88, 98 f.; im Ergebnis offengelassen von Genenger Anm. LAGE BUrlG
§ 7 Abgeltung Nr. 22 zu IV 1 c und Schlachter RdA 2009 Sonderbeilage Heft 5, 31, 35).
72 3. Der nach deutschem Recht für Arbeitgeber aus Art. 12, 20 Abs. 3 GG abgeleitete Grundsatz
des Vertrauensschutzes steht den Ansprüchen des Klägers auf Abgeltung des Zusatzurlaubs
aus § 125 SGB IX nicht entgegen (aA LAG Berlin-Brandenburg 2. Oktober 2009 - 6 Sa 1215/09
und 6 Sa 1536/09 - zu 2.2 der Gründe; wie hier Pulz jurisPR-ArbR 12/2010 Anm. 5 zu C).
73 a) Die Entscheidung über die Frage innerstaatlichen Vertrauensschutzes ist dem Senat nicht
entzogen. Sie fällt nicht in die Kompetenz des EuGH. Der Schwerbehindertenzusatzurlaub und
seine Abgeltung sind unionsrechtlich nicht verbürgt. Beide Ansprüche werden nur wegen ihrer
innerstaatlichen akzessorischen Bindung an den Mindesturlaub von der Wirkung des
Unionsrechts berührt. Der fehlende unionsrechtliche Vertrauensschutz gegenüber
Mindesturlaubs(-abgeltungs)ansprüchen betrifft Ansprüche auf Zusatzurlaub und ihre Abgeltung
daher nur mittelbar.
74 aa) Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union, die wie das Urteil Schultz-Hoff in
Vorabentscheidungsverfahren ergehen, wirken im Grundsatz zeitlich unbegrenzt. Die Auslegung
einer Bestimmung des Unionsrechts durch den EuGH beschränkt sich darauf zu erläutern und
zu verdeutlichen, wie die Regelung seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist.
Daraus folgt, dass die innerstaatlichen Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf
Rechtsverhältnisse, die vor der Vorabentscheidung entstanden sind, anwenden müssen (vgl.
EuGH 15. März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 66, Slg. 2005, I-2119; 20. September 2001 - C-
184/99 - [Grzelczyk] Rn. 50, Slg. 2001, I-6193). Vorabentscheidungen sind deswegen regelmäßig
auch bei der Beurteilung von Handlungen und rechtlichen Beziehungen in der Zeit vor ihrem
Erlass zu berücksichtigen. Der EuGH kann die Möglichkeit, sich auf die Auslegung zu berufen,
die er einer unionsrechtlichen Bestimmung durch Vorabentscheidung gegeben hat, nur (ganz)
ausnahmsweise mit Wirkung für alle Betroffenen zeitlich beschränken (für die st. Rspr.
12. Februar 2009 - C-138/07 - [Cobelfret] Rn. 68, EuZW 2009, 329; 15. März 2005 - C-209/03 -
[Bidar] Rn. 67, aao).
75 (1) Grundlage einer solchen Beschränkung der Rückwirkung ist der allgemeine unionsrechtliche
Grundsatz der Rechtssicherheit (EuGH 12. Februar 2009 - C-138/07 - [Cobelfret] Rn. 68, EuZW
2009, 329; 15. März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 67, Slg. 2005, I-2119). Eine zeitliche
Beschränkung seiner Antwort kann mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und
die nötige einheitliche Anwendung in den Mitgliedstaaten nur der EuGH selbst in dem Urteil
vornehmen, das über die erbetene Auslegung entscheidet (vgl. zB EuGH 1. April 2008 - C-
267/06 - [Maruko] Rn. 77, Slg. 2008, I-1757; 15. März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 64 ff., aaO).
76 (2) Unionsrechtlicher Vertrauensschutz setzt die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher
Störungen bei Anwendung der vom EuGH vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts auf
vergangene Vorgänge voraus (vgl. nur 1. April 2008 - C-267/06 - [Maruko] Rn. 77 mwN, Slg.
2008, I-1757; 15. März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 68 f., Slg. 2005, I-2119). Schwerwiegende
wirtschaftliche Konsequenzen können insbesondere aus einer großen Zahl von
Rechtsverhältnissen herrühren, die „gutgläubig“ auf der Grundlage der als gültig betrachteten
Regelung eingegangen worden waren. Vor der Vorabentscheidung muss darüber hinaus eine
objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der fraglichen Bestimmung des
Unionsrechts bestanden haben, die einzelne Unionsbürger und andere nationale
Rechtspersönlichkeiten zu einem mit der Unionsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasste
(vgl. EuGH 15. März 2005 - C-209/03 - [Bidar] Rn. 69, aaO; 20. September 2001 - C-184/99 -
[Grzelczyk] Rn. 53, Slg. 2001, I-6193; zu den Voraussetzungen unionsrechtlichen
Vertrauensschutzes Abele RdA 2009, 312, 317; Riesenhuber Anm. AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21;
Schlachter RdA 2009 Sonderbeilage Heft 5, 31, 35; Wißmann FS Bauer S. 1161, 1163).
77 (3) Äußert sich der EuGH nicht zu der Frage der Rückwirkung oder zeitlichen Begrenzung seiner
Antwort, schließt er damit inzident unionsrechtlichen Vertrauensschutz aus. Anderes gilt nur,
wenn das vorlegende Gericht den Gerichtshof ausdrücklich nach einer möglichen zeitlichen
Begrenzung seiner Antwort gefragt hat (vgl. Riesenhuber Anm. AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21;
Wißmann FS Bauer S. 1161, 1164; zu ausdrücklich angefragten zeitlichen Begrenzungen zB
EuGH 12. Februar 2009 - C-138/07 - [Cobelfret] Rn. 66 ff., EuZW 2009, 329; 15. März 2005 - C-
209/03 - [Bidar] Rn. 64 ff., Slg. 2005, I-2119).
78 bb) Die Frage, ob das innerstaatliche Gericht ohne eine solche Beschränkung des EuGH auf der
Grundlage nationalen Rechts Vertrauensschutz annehmen darf, ist noch nicht abschließend
geklärt.
79 (1) Der EuGH hebt hervor, die Pflicht des nationalen Gerichts zur unionsrechtskonformen
Auslegung werde durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere den Grundsatz der
Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt (vgl. 16. Juli 2009 - C-12/08 - [Mono Car
Styling] Rn. 61, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 98/59 Nr. 2; 4. Juli 2006 - C-212/04 - [Adeneler]
Rn. 110, Slg. 2006, I-6057; 8. Oktober 1987 - Rechtssache 80/86 - [Kolpinghuis Nijmegen]
Rn. 13, Slg. 1987, 3969). Er sei nicht befugt, über die Auslegung innerstaatlicher
Rechtsvorschriften zu entscheiden (26. Oktober 2006 - C-4/05 - [Güzeli] Rn. 36, Slg. 2006, I-
10279).
80 (2) Das Bundesarbeitsgericht unterscheidet in der Frage nationalen Vertrauensschutzes
zwischen Primär- und Sekundärrecht (vgl. dazu Wißmann FS Bauer S. 1161, 1164 ff.).
81 (a) Der Siebte Senat nimmt an, für die zeitliche Begrenzung der Unanwendbarkeit einer gegen
das Primärrecht der Gemeinschaft (heute: Union) verstoßenden nationalen Norm sei allein der
EuGH zuständig (vgl. die Entscheidung vom 26. April 2006 - 7 AZR 500/04 - Rn. 21, 24, 28 und
40 ff., BAGE 118, 76, die nationalen Vertrauensschutz dennoch absichernd in einem zweiten
Begründungsstrang in Rn. 48 ff. prüft und das Urteil Mangold des EuGH vom 22. November 2005
[- C-144/04 - Rn. 55 ff., 74 ff. Slg. 2005, I-9981] rezipiert; siehe auch EuGH 19. Januar 2010 - C-
555/07 - [Kücükdeveci] Rn. 18 ff., 44 ff., EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78 Nr. 14).
82 (b) Der Zweite, der Sechste und der Achte Senat bejahen die Möglichkeit, nationalen
Vertrauensschutz annehmen zu können, für Sekundärrecht auch dann, wenn der EuGH die
Wirkung einer Vorabentscheidung nicht zeitlich begrenzt hat (vgl. in der Folge der Entscheidung
Junk des EuGH vom 27. Januar 2005 [- C-188/03 - Rn. 31 ff., 40 ff., Slg. 2005, I-885]
grundlegend BAG 23. März 2006 - 2 AZR 343/05 - Rn. 32 ff., vor allem Rn. 42, BAGE 117, 281;
bestätigt zB von 12. Juli 2007 - 2 AZR 619/05 - Rn. 20 ff., AP KSchG 1969 § 17 Nr. 33;
8. November 2007 - 2 AZR 554/05 - Rn. 27 ff., AP KSchG 1969 § 17 Nr. 28 = EzA KSchG § 1
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 156; dem zustimmend 22. März 2007 - 6 AZR 499/05 -
Rn. 16 ff., EzA KSchG § 17 Nr. 19; 26. Juli 2007 - 8 AZR 769/06 - Rn. 66 f., AP BGB § 613a
Nr. 324).
83 (3) Das deutsche Schrifttum bejaht im Fall sekundären Unionsrechts wohl überwiegend die
Möglichkeit nationalen Vertrauensschutzes in den Fortbestand einer innerstaatlichen Rspr. ohne
(weitere) Anrufung des EuGH, auch wenn der Gerichtshof die Rückwirkung seiner Auslegung
des Unionsrechts nicht begrenzt hat (vgl. zB Bauer/Arnold Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 39 zu 2;
Höpfner RdA 2006, 156, 164 f.; Kamanabrou SAE 2009, 233, 236 f.; Schlachter RdA 2009
Sonderbeilage Heft 5, 31, 35 f.; Sedlmeier EuZA 2010, 88, 97 f.; Tillmanns FS Buchner S. 885,
894 ff.; Wißmann FS Bauer S. 1161, 1164 ff., der als Korrektiv innerstaatlichen
Vertrauensschutzes einen Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat Bundesrepublik in
Betracht zieht; nationalen Vertrauensschutz nur in engen Grenzen bejahend Riesenhuber Anm.
AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21; gegen innerstaatlichen Vertrauensschutz ohne Anrufung des EuGH
etwa Abele RdA 2009, 312, 317; Schiek AuR 2006, 41, 43 f.).
84 (4) Der von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie verbürgte Mindestjahresurlaubsanspruch beruht nicht
auf Primärrecht. Der EuGH hat stets hervorgehoben, dass der Anspruch jedes Arbeitnehmers
auf bezahlten Jahresurlaub ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der
Gemeinschaft (heute: Union) sei (vgl. nur 10. September 2009 - C-277/08 - [Vicente Pereda]
Rn. 18, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 3). Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz
jedoch nicht auf die Verträge, sondern auf das sekundäre Unionsrecht des Art. 7 der
Arbeitszeitrichtlinie gestützt (näher Senat 17. November 2009 - 9 AZR 844/08 - Rn. 18 f., DB
2010, 850; 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 51, AP BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA BUrlG § 7
Abgeltung Nr. 15, jeweils mwN). Ein Grundsatz des Unionsrechts ist nicht gleichzusetzen mit
einem Unionsgrundrecht (vgl. Schlachter RdA 2009 Sonderbeilage Heft 5, 31, 32).
85 cc) Der Schwerbehindertenzusatzurlaub und seine Abgeltung sind nicht unionsrechtlich
gewährleistet.
86 (1) Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verbürgt nur den Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen
und seine Abgeltung (ebenso LAG Berlin-Brandenburg 2. Oktober 2009 - 6 Sa 1215/09 und 6 Sa
1536/09 - zu 2.2 der Gründe; Bauer/Arnold Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 39 zu 4; Gaul/Josten/Strauf
BB 2009, 497, 498 f.; Rid AuA 2010, 178; Rummel AuR 2009, 217; Sedlmeier EuZA 2010, 88,
98 f.; Subatzus DB 2009, 510, 512; wohl auch Genenger Anm. LAGE BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 22
zu IV 1 c; zu der Reichweite von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie ausführlich oben zu A I 4). § 125
SGB IX soll auch kein anderes Unionsrecht umsetzen (ArbG Berlin 22. April 2009 - 56 Ca
21280/08 - zu I 3 der Gründe, NZA-RR 2009, 411).
87 (2) Ansprüche auf Abgeltung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs werden nur wegen ihrer
akzessorischen Bindung an den nationalen gesetzlichen Mindesturlaub von der unmittelbaren
Wirkung des Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie gegenüber öffentlichen Arbeitgebern und der
unionsrechtskonformen Fortbildung des § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG im Verhältnis zu privaten
Arbeitgebern berührt (vgl. zu der für den Mindesturlaub im Privatrechtsverkehr vorgenommenen
Rechtsfortbildung Senat 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 57 ff., AP BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA
BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15). Der Senat kann wegen dieser Akzessorietät offenlassen, ob im
Streitfall durch die rechtskräftige Entscheidung über die Abgeltung des Mindesturlaubs darüber
hinaus eine aus § 322 Abs. 1 ZPO abzuleitende sog. Präklusionswirkung eintritt.
88 (3) Die Beklagte ist eine rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts, die unter staatlicher
Aufsicht steht und Dienstherrnfähigkeit iSv. § 2 BBG besitzt (§ 29 Abs. 1, § 90 Abs. 2a SGB IV,
§ 143 Abs. 1 SGB VI). Für sie wirkt Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie unmittelbar. Der vom
Mindesturlaub nach innerstaatlichem Recht abhängige Anspruch auf Zusatzurlaub aus § 125
Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist deshalb bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit nicht nur bis zum 31. März
des Folgejahres übertragbar. Die zeitliche Begrenzung des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG gilt für den
Zusatzurlaubsanspruch ebenso wenig wie für den Mindesturlaub. Die mangelnde Erfüllbarkeit
des Freistellungsanspruchs ist auch kein Erfüllungshindernis für die als finanzielle
„Entschädigung“ zu gewährende Abgeltung (§ 7 Abs. 4 BUrlG). Das folgt aus der nationalen
Bindung des Zusatzurlaubsanspruchs aus § 125 SGB IX an die unmittelbare Wirkung von Art. 7
der Arbeitszeitrichtlinie gegenüber der öffentlich-rechtlich organisierten Beklagten im Bereich des
Mindesturlaubs.
89 (a) Nach der st. Rspr. des EuGH kann sich der Einzelne in Fällen, in denen die Bestimmungen
einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten
gegenüber dem Staat (und seinen Untergliederungen) auf diese Bestimmungen berufen, wenn
der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht
umgesetzt hat (vgl. zB 12. Februar 2009 - C-138/07 - [Cobelfret] Rn. 58 mwN, EuZW 2009, 329;
Riesenhuber Europäisches Arbeitsrecht § 1 Rn. 70).
90 (b) In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten können Richtlinien dagegen nicht selbst
Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen. Einer Privatperson gegenüber kann sich niemand
auf die Richtlinie als solche berufen (vgl. für die st. Rspr. EuGH 19. Januar 2010 - C-555/07 -
[Kücükdeveci] Rn. 46, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78 Nr. 14). Richtlinien sind an die
Mitgliedstaaten und nicht an private Rechtssubjekte gerichtet. Die Mitgliedstaaten haben die
Richtlinienziele nach Art. 288 Abs. 3 AEUV umzusetzen. Sogar eine klare, genaue und
unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen
auferlegt werden sollen, ist zwischen Privaten nicht anwendbar (vgl. nur EuGH 16. Juli 2009 - C-
12/08 - [Mono Car Styling] Rn. 59 mwN, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 98/59 Nr. 2).
91 (c) Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie ist hinreichend klar, genau und unbedingt und wirkt damit
unmittelbar gegenüber der öffentlich-rechtlich organisierten Beklagten.
92 (aa) Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gibt den Mitgliedstaaten einen Mindestjahresurlaub
von vier Wochen vor. Der zweite Absatz der Bestimmung sichert den Urlaubsanspruch für den
Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der Urlaub darf nur dann durch eine finanzielle
Vergütung ersetzt werden.
93 (bb) Der EuGH verdeutlicht die Klarheit und Exaktheit der Regelungen, indem er den
Urlaubsanspruch in der Sache Schultz-Hoff nicht nur als vom Unionsrecht gewährleisteten
Anspruch, sondern als „von der Richtlinie unmittelbar gewährtes soziales Recht“ und sich
„unmittelbar aus der Richtlinie ergebenden Anspruch“ bezeichnet (20. Januar 2009 - C-350/06
und C-520/06 - Rn. 45 f., AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie
2003/88 Nr. 1). So weit gingen frühere Entscheidungen nicht. Der Gerichtshof betonte jedoch
schon im ersten zu Art. 7 der ursprünglichen Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG ergangenen Urteil
BECTU die „klare und bestimmte Verpflichtung der Mitgliedstaaten“, die erforderlichen
Maßnahmen zu treffen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier
Wochen erhalte (26. Juni 2001 - C-173/99 - Rn. 34, Slg. 2002, I-4881). In der Entscheidung
Robinson-Steele hob er den zwingenden Charakter des Anspruchs auf Jahresurlaub und das
Erfordernis hervor, die praktische Wirksamkeit von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie zu
gewährleisten (16. März 2006 - C-131/04 und C-257/04 - Rn. 68, Slg. 2006, I-2531).
94 (cc) Der unmittelbaren Wirkung von Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie gegenüber der
öffentlich-rechtlich strukturierten Beklagten steht nicht entgegen, dass der Anspruch an die
„Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung“ gebunden wird, „die in den
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten
vorgesehen sind“. Die Bestimmung wird damit nicht inhaltlich bedingt iSd. Rspr. des EuGH. Sie
wirkt gegenüber der Untergliederung eines Mitgliedstaats gleichwohl unmittelbar. Die
Mitgliedstaaten dürfen nach der verbindlichen Auslegung des Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie
durch den EuGH nicht vorsehen, dass der Mindestjahresurlaubsanspruch erlischt, wenn der
Arbeitnehmer bis zum Ende des Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist
(vgl. 20. Januar 2009 - C-350/06 und C-520/06 - [Schultz-Hoff] Rn. 48, AP Richtlinie 2003/88/EG
Nr. 1 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1).
95 (d) Der Zusatzurlaubsanspruch nimmt durch seine nationale Akzessorietät an der unmittelbaren
Wirkung von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie gegenüber der öffentlich-rechtlich organisierten
Beklagten teil.
96 b) Selbst wenn die Beklagte entgegen der Ansicht des Senats nicht als Untergliederung des
Mitgliedstaats Bundesrepublik eingeordnet oder Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie für unbestimmt
oder bedingt gehalten wird, kann sich die Beklagte nicht auf Vertrauensschutz berufen. Für
private Arbeitgeber wirkt Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie zwar nicht unmittelbar. Ihr mögliches
Vertrauen auf den Fortbestand der früheren st. Rspr. ist seit dem 24. November 1996 aber nicht
länger schutzwürdig. Die Grundlage des Vertrauens auf die Fortdauer der früheren
Senatsrechtsprechung, die den Verfall von Urlaubs(-abgeltungs)ansprüchen bei
Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Übertragungszeitraums annahm, war nach Ablauf der
Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG (ABl. EG 1993 Nr. L 307 vom
13. Dezember 1993 S. 18) am 23. November 1996 zerstört. Das gilt auch für den nach
innerstaatlichem Recht an den Mindesturlaub gebundenen Anspruch auf
Schwerbehindertenzusatzurlaub und seine Abgeltung.
97 aa) Die Bundesrepublik nutzte die Möglichkeit einer Übergangszeit über die Umsetzungsfrist
hinaus nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b i ii der Richtlinie 93/104/EG nicht. Sie setzte die Vorgabe
eines vierwöchigen Mindestjahresurlaubs durch Art. 7 der ersten Arbeitszeitrichtlinie mit Art. 2
des Arbeitszeitrechtsgesetzes vom 6. Juni 1994 um (ArbZRG, BGBl. I S. 1170). Art. 2 ArbZRG
trat am 1. Januar 1995 in Kraft (vgl. zur Gesetzesgeschichte ErfK/Dörner 10. Aufl. § 3 BUrlG
Rn. 1; AnwK-ArbR/Düwell 2. Aufl. § 3 BUrlG Rn. 1).
98 bb) Der Senat geht davon aus, dass nationaler Vertrauensschutz vor Ansprüchen, die das
sekundäre Unionsrecht gewährleistet, im Privatrechtsverkehr auch ohne weitere Vorlage nach
Art. 267 Abs. 3 AEUV angenommen werden darf, obwohl der EuGH die Wirkung der
Vorabentscheidung Schultz-Hoff auf der Grundlage des Unionsrechts nicht zeitlich begrenzt hat
(20. Januar 2009 - C-350/06 und C-520/06 - AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-Vertrag
1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1). Die innerstaatlichen Gerichte sind als Teil der Staatsgewalt an das
Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG gebunden. Sie haben den Grundsatz des
Vertrauensschutzes zu beachten. Der EuGH berücksichtigt solche nationalen rechtlichen
Bindungen selbst. Er betont, die Pflicht der einzelstaatlichen Gerichte zur unionsrechtskonformen
Auslegung werde durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere den Grundsatz der
Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt (vgl. 16. Juli 2009 - C-12/08 - [Mono Car
Styling] Rn. 61, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 98/59 Nr. 2; 4. Juli 2006 - C-212/04 - [Adeneler]
Rn. 110, Slg. 2006, I-6057; 8. Oktober 1987 - Rechtssache 80/86 - [Kolpinghuis Nijmegen]
Rn. 13, Slg. 1987, 3969; zu der ausschließlichen Auslegungskompetenz der nationalen Gerichte
für einzelstaatliche Rechtsvorschriften 26. Oktober 2006 - C-4/05 - [Güzeli] Rn. 36, Slg. 2006, I-
10279).
99 cc) Die Frage des Vertrauensschutzes ist daher anhand der innerstaatlichen
verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beantworten.
100 (1) Es verstößt nicht als solches gegen Art. 20 Abs. 3 GG, eine in der Rechtsprechung bislang
vertretene Gesetzesauslegung aufzugeben. Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht
und erzeugen keine vergleichbare Rechtsbindung. Die über den Einzelfall hinausreichende
Wirkung fachgerichtlicher Gesetzesauslegung beruht nur auf der Überzeugungskraft ihrer
Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Ein Gericht kann deshalb von
seiner bisherigen Rechtsprechung abweichen, auch wenn keine wesentlichen Änderungen der
Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen eintreten. Es muss jedoch den im
Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten und ihm
erforderlichenfalls durch Billigkeitserwägungen Rechnung tragen. Eine Änderung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung ist grundsätzlich unbedenklich, wenn sie hinreichend
begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält (vgl. für die st. Rspr.
BVerfG 15. Januar 2009 - 2 BvR 2044/07 - Rn. 85, BVerfGE 122, 248; 26. Juni 1991 - 1 BvR
779/85 - zu C I 2 b und c der Gründe, BVerfGE 84, 212; 14. Januar 1987 - 1 BvR 1052/79 - zu
B II 1 der Gründe, BVerfGE 74, 129; siehe auch BAG 23. März 2006 - 2 AZR 343/05 - Rn. 33,
BAGE 117, 281; kritisch gegenüber einem nur deduktiven Rechtsprechungsverständnis iS reiner
Rechtserkenntnis Buchner Gedächtnisschrift R. Dietz S. 175, 184 ff., der die dezisionistischen
und damit rechtsetzenden Züge von Rspr. insbesondere bei Gesetzeslücken und
Generalklauseln hervorhebt; ihm zustimmend Tillmanns FS Buchner S. 885, 886 f.; für
höchstrichterliche Rspr. ähnlich Höpfner RdA 2006, 156, 158, 161 ff.; derselbe NZA 2008, 91, 92;
derselbe NZA 2009, 420, 421).
101 (2) Die langjährige Rspr. der Urlaubssenate des Bundesarbeitsgerichts, die seit 1982 vom Verfall
von Urlaubs(-abgeltungs)ansprüchen bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des
Übertragungszeitraums ausging, war zwar geeignet, Vertrauen der Arbeitgeberseite auf die
Fortdauer dieser Rspr. zu begründen (vgl. zu der Aufgabe der früheren Rspr., die keinen Verfall
angenommen hatte, grundlegend 13. Mai 1982 - 6 AZR 360/80 - zu II 2 bis 4 der Gründe,
BAGE 39, 53). Die Vertrauensgrundlage entfiel aber mit Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste
Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996. Seit dem 24. November 1996 war das
Vertrauen von Arbeitgebern auf den Fortbestand der bisherigen Rspr. nicht länger schutzwürdig
(zu der nötigen zweistufigen Prüfung nach Vertrauensgrundlage und Schutzwürdigkeit des
Vertrauens zB Höpfner RdA 2006, 156, 157 ff.; Löwisch FS Arbeitsgerichtsbarkeit S. 601, 607 ff.;
Tillmanns FS Buchner S. 885, 894 ff.).
102 (a) Das Unionsrecht bindet die nationale Rechtsanwendung grundsätzlich mit seinem
Inkrafttreten. Für Richtlinien gilt das (spätestens) mit Ablauf der Umsetzungsfrist. Die
einzelstaatlichen Gerichte sind ab diesem Zeitpunkt verpflichtet, das innerstaatliche Recht
richtlinienkonform auszulegen oder fortzubilden, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu
erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV zu genügen (vgl. zB EuGH 16. Juli 2009 - C-12/08 -
[Mono Car Styling] Rn. 60, EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 98/59 Nr. 2). Eine Rechtsfortbildung
ist unionsrechtlich geboten, wenn die nationale Methodenlehre dieses Instrument kennt.
103 (b) Nationaler Vertrauensschutz in eine bestehende, vom Richtlinienrecht abweichende nationale
Rspr. ist im Privatrechtsverkehr ausnahmsweise anzuerkennen, wenn das einzelstaatliche
Recht der richtlinienkonformen Rechtsfindung Grenzen setzt. In diesem Fall kann sich der
nationale Vertrauensschutz durchsetzen (vgl. Riesenhuber Anm. AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21).
Dieses seltene und nur ausnahmsweise anzunehmende Ergebnis wird von der Rspr. des EuGH
anerkannt (vgl. 16. Juli 2009 - C-12/08 - [Mono Car Styling] Rn. 61, EzA EG-Vertrag 1999
Richtlinie 98/59 Nr. 2; 26. Oktober 2006 - C-4/05 - [Güzeli] Rn. 36, Slg. 2006, I-10279; 4. Juli 2006
- C-212/04 - [Adeneler] Rn. 110, Slg. 2006, I-6057; 8. Oktober 1987 - Rechtssache 80/86 -
[Kolpinghuis Nijmegen] Rn. 13, Slg. 1987, 3969; siehe auch die Schlussanträge der
Generalanwältin Stix-Hackl vom 14. März 2006 in der Sache - C-475/03 - [Banca Popolare di
Cremona] Rn. 147).
104 (c) Die Ermittlung nationalen Vertrauensschutzes muss ebenso wie die richtlinienkonforme
Rechtsfindung den grundsätzlichen Durchsetzungsanspruch des Unionsrechts beachten. Das
System mehrerer rechtlicher Ebenen, die von Unionsrecht und nationalem Recht gebildet
werden, ist dem Grundgesetz nicht fremd. Zu Gesetz und Recht, die die innerstaatliche Rspr.
nach Art. 20 Abs. 3 GG binden, gehören die unionsrechtlichen Richtlinienvorgaben. Auch das
Inkrafttreten einer Richtlinie ist ein vertrauensbegründender Umstand. Der durch die Richtlinie
Begünstigte kann sich auf die richtlinienkonforme Auslegung oder Fortbildung des nationalen
Rechts verlassen, obwohl die Richtlinie zwischen Privaten nicht unmittelbar wirkt (vgl.
Riesenhuber Anm. AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21).
105 (d) Für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf eine bisherige richtlinienwidrige nationale Rspr.
kommt es in dem Mehrebenensystem von Unionsrecht und einzelstaatlichem Recht nicht (nur)
darauf an, ob sich die Rechtsunterworfenen überwiegend auf die innerstaatliche
Rechtsanwendung verlassen. Die Durchsetzung des Unionsrechts ist in gleichwertiger Weise
sicherzustellen wie die Durchsetzung des einzelstaatlichen Rechts (sog. Äquivalenzgrundsatz).
Das bedeutet, dass das Vertrauen auf die Durchsetzung unionsrechtlich gewährleisteter Rechte
ebenso zu schützen ist wie das Vertrauen auf die Beständigkeit nationaler Rechtsanwendung.
Die unionsrechtlich verbürgten Rechte dürfen im Ergebnis nicht leerlaufen (sog.
Effektivitätsgrundsatz). Das Unionsrecht verlangt der nationalen Methodenlehre daher ab, seine
Durchsetzung so weit wie möglich sicherzustellen (vgl. Riesenhuber Anm. AP KSchG 1969 § 17
Nr. 21).
106 (e) Damit kommt es nicht zu einer „verkappten“ unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im
Privatrechtsverkehr. Vielmehr ist schützenswertes Vertrauen auf eine einzelstaatliche
richtlinienwidrige st. Rspr. wegen der Mehrgliedrigkeit von Unionsrecht und innerstaatlichem
Recht nur ausnahmsweise anzunehmen. Nationaler Vertrauensschutz setzt besondere
Umstände voraus. Die richtlinienwidrige Rechtsfindung darf nur im Ausnahmefall fortgesetzt
werden.
107 dd) Die nötigen besonderen Umstände für innerstaatlichen Vertrauensschutz waren seit dem
Ende der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996
nicht länger gegeben.
108 (1) Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 24. März 2009 (- 9 AZR 983/07 - Rn. 73 ff., AP
BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15) für die Abgeltung des gesetzlichen
Mindesturlaubs angenommen, jedenfalls ab Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens
des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf in der Sache Schultz-Hoff vom 2. August 2006 (- 12 Sa
486/06 - LAGE BUrlG § 7 Nr. 43) sei eine Zäsur in der Rechtsentwicklung eingetreten. Zumindest
seit diesem Zeitpunkt habe es sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung gehalten, dass
eine richtlinienkonforme Auslegung oder Fortbildung von § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG vorzunehmen
sein würde. Der Senat konnte in der Entscheidung vom 24. März 2009 (- 9 AZR 983/07 - Rn. 74,
aaO) offenlassen, ob Arbeitgeber vor Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens in der
Sache Schultz-Hoff bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des
Übertragungszeitraums berechtigt auf den Verfall von Urlaubsabgeltungsansprüchen vertrauen
durften. Die Ansprüche der Klägerin dieses Rechtsstreits waren bei Bekanntwerden der Vorlage
auch nach der früheren Auslegung von § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG durch den Senat noch nicht
verfallen.
109 (2) Die Vertrauensschutzerwägungen des Senats im Urteil vom 24. März 2009 (- 9 AZR 983/07 -
Rn. 73 ff., AP BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15) sind im Schrifttum auf scharfe
Kritik gestoßen (für Vertrauensschutz Bauer/Arnold NJW 2009, 631, 633 f.; dieselben Anm. AP
BUrlG § 7 Nr. 39 zu 2; Gaul/Bonanni/Ludwig DB 2009, 1013 f., 1017; Kock BB 2009, 1181;
Krieger/Arnold NZA 2009, 530, 531 f.; von Steinau-Steinrück/Mosch NJW-Spezial 2009, 338 f.;
im Ergebnis offengelassen, aber wohl für Vertrauensschutz Genenger LAGE BUrlG § 7
Abgeltung Nr. 22 zu IV 2; Picker ZTR 2009, 230, 235 f.; offengelassen von Kamanabrou SAE
2009, 121, 127 und SAE 2009, 233, 236 f.; gegen Vertrauensschutz Abele RdA 2009, 312, 317;
Kohte/Beetz jurisPR-ArbR 25/2009 Anm. 1 zu B 5 aE; Rummel AuR 2009, 217 f.; Schlachter
RdA 2009 Sonderbeilage Heft 5, 31, 35 f., die einen zeitlich unbegrenzten Ausschluss von
Vertrauensschutz erwägt).
110 (3) Beanstandet wird insbesondere die zeitliche Anknüpfung an das Bekanntwerden des
Vorabentscheidungsersuchens (Abele RdA 2009, 312, 317; Kock BB 2009, 1181; Krieger/Arnold
NZA 2009, 530, 531 f.; Sedlmeier EuZA 2010, 88, 97 f.). Die Kritiker meinen, sie widerspreche
der Vorgehensweise des Zweiten, des Sechsten und des Achten Senats in der Folge der
Entscheidung Junk des EuGH vom 27. Januar 2005 (- C-188/03 - Slg. 2005, I-885) zur
Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG (grundlegend BAG 23. März 2006 - 2 AZR
343/05 - Rn. 32 ff., BAGE 117, 281; bestätigt zB von 12. Juli 2007 - 2 AZR 619/05 - Rn. 20 ff., AP
KSchG 1969 § 17 Nr. 33; 8. November 2007 - 2 AZR 554/05 - Rn. 27 ff., AP KSchG 1969 § 17
Nr. 28 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 156; dem zustimmend 22. März 2007 -
6 AZR 499/05 - Rn. 16 ff., EzA KSchG § 17 Nr. 19; 26. Juli 2007 - 8 AZR 769/06 - Rn. 66 f., AP
BGB § 613a Nr. 324). Dort wurde Vertrauensschutz angenommen und nicht an das
Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens oder der Schlussanträge des
Generalanwalts angeknüpft.
111 (4) Die Sachverhaltsgestaltungen, die den Junk-Folgeentscheidungen und der Rezeption des
EuGH-Urteils in der Sache Schultz-Hoff vom 20. Januar 2009 (- C-350/06 und C-520/06 - AP
Richtlinie 2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1) durch die
Entscheidung des Senats vom 24. März 2009 (- 9 AZR 983/07 - Rn. 73 ff., AP BUrlG § 7 Nr. 39 =
EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15) zugrunde liegen, sind nicht vergleichbar (ebenso LAG Berlin-
Brandenburg 2. Dezember 2009 - 17 Sa 621/09 - zu II 2 d bb (2) (b) der Gründe). Es hielt sich für
die Beklagte seit dem Ende der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie am
23. November 1996 im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung, dass die 1982 begonnene st.
Rspr. des Bundesarbeitsgerichts zum Verfall von Urlaubs(-abgeltungs)ansprüchen bei
Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des in § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG definierten
Übertragungszeitraums im Licht der Arbeitszeitrichtlinie zu überprüfen sein würde. Jedenfalls
begründet der Fortbestand der Ansprüche auf Abgeltung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs in
der durchzuführenden Interessenabwägung keine unzumutbare Härte für die Beklagte. Für die
Schutzwürdigkeit ihres Vertrauens spricht nur, dass der Senat über das Ende der
Umsetzungsfrist für die ursprüngliche Arbeitszeitrichtlinie hinaus an seiner Rspr. zum Verfall von
Urlaubs(-abgeltungs)ansprüchen bei Arbeitsunfähigkeit festhielt (vgl. etwa 11. April 2006 - 9 AZR
523/05 - Rn. 24, AP BUrlG § 7 Übertragung Nr. 28 = EzA BUrlG § 7 Nr. 116; 7. September 2004
- 9 AZR 587/03 - zu I 2 a der Gründe, EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 12). Die Umstände, die für
die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers auf die richtlinienkonforme Fortbildung von § 7
Abs. 3 und 4 BUrlG sprechen, überwiegen gegenüber diesem einzigen, für die Beklagte
sprechenden vertrauensbegründenden Moment.
112 (a) Nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am
23. November 1996 standen sich im rechtlichen Mehrebenensystem der Europäischen
Gemeinschaften (heute: der Europäischen Union) die Deutungshoheit des EuGH für Art. 7 der
Arbeitszeitrichtlinie und die Interpretationskompetenz des Bundesarbeitsgerichts für das
Bundesurlaubsgesetz gegenüber. Insofern unterscheidet sich der Streitfall von der geänderten
Rspr. des Vierten Senats zu sog. Gleichstellungsabreden (vgl. nur 21. Oktober 2009 - 4 AZR
396/08 - Rn. 17 ff. mwN). Die Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung für das nationale
Recht auf der Grundlage des Richtlinienrechts kommt hier schon im Hinblick auf die
Auslegungskompetenz des EuGH für das Unionsrecht nicht in Betracht. Wegen der
innerstaatlichen Bindung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs aus § 125 SGB IX an den
Mindesturlaubsanspruch scheidet auch für den Zusatzurlaub die Ankündigung einer geänderten
nationalen Rspr. aus.
113 (b) Mit Inkrafttreten von Art. 7 der ersten Arbeitszeitrichtlinie war unklar, ob der EuGH die frühere
Auffassung des Senats, wonach Urlaubs(-abgeltungs)ansprüche bei Arbeitsunfähigkeit bis zum
Ende des Übertragungszeitraums untergingen, auf der Grundlage des Richtlinienrechts teilen
würde.
114 (aa) Art. 7 der ersten Arbeitszeitrichtlinie traf nach Ablauf der Umsetzungsfrist mit dem
23. November 1996 auf eine seit über 14 Jahren bestehende Rspr. des BAG zu §§ 1, 3 Abs. 1,
§ 7 BUrlG. Dadurch unterschied sich die Sachlage von der Geschichte der ersten
Massenentlassungsrichtlinie 75/129/EWG (ABl. EG Nr. L 48 vom 22. Februar 1975 S. 29). Art. 3
der ursprünglichen Massenentlassungsrichtlinie wurde durch § 17 KSchG in deutsches Recht
umgesetzt (Wißmann FS Bauer S. 1161 f.). Die nationale Rspr. zu § 17 KSchG baute von
vornherein auf dem „Fundament“ des Richtlinienrechts auf, während Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie
mit einem „alten“ System der Auslegung des nationalen Rechts in Einklang gebracht werden
musste.
115 (bb) Mit Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie im Jahr 1996 trat deswegen
eine objektive und bedeutende Unsicherheit darin auf, wie § 7 BUrlG richtlinienkonform zu
verstehen war.
116 (cc) Der EuGH machte mit seiner ersten Entscheidung BECTU zu Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie
seine Auslegungskompetenz für das Unionsrecht deutlich (26. Juni 2001 - C-173/99 - Slg. 2002,
I-4881). Er trat dort im Urlaubsrecht erstmals einer nationalen - britischen - Auslegung
urlaubsrechtlicher Pflichten entgegen.
117 (dd) Hinzu kommt, dass die Rspr. des Bundesarbeitsgerichts zu § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG bei
Arbeitsunfähigkeit nicht von jeher einheitlich war. Der Fünfte Senat, der vor 1982 für das
Urlaubsrecht zuständig war, hatte noch angenommen, dass Urlaubsabgeltungsansprüche bei
krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Übertragungszeitraums nicht verfielen
(grundlegend 13. November 1969 - 5 AZR 82/69 - zu 2 der Gründe, BAGE 22, 211).
118 (c) Die Sachverhaltsgestaltungen, die den Junk-Folgeentscheidungen und der Schultz-Hoff-
Rezeption zugrunde liegen, unterscheiden sich zudem in mehreren für die Schutzbedürftigkeit
des Vertrauens der Arbeitgeberseite entscheidenden Gesichtspunkten. Diese Umstände sind in
der Interessenabwägung zu berücksichtigen. Sie schließen eine unzumutbare Härte für die
Beklagte durch den Fortbestand der Ansprüche auf Abgeltung des Zusatzurlaubs aus.
119 (aa) Den Arbeitgeber trifft nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG die Handlungspflicht zur Erstattung der
Massenentlassungsanzeige gegenüber der Arbeitsverwaltung. Er muss in einer komplexen
Handlungssituation darum nachsuchen, dass eine Behörde tätig wird, und damit durch aktives
Tun sein Vertrauen betätigen. Der Zweite Senat differenziert in der Frage des
Vertrauensschutzes selbst ausdrücklich zwischen der bloßen rechtlichen Beurteilung der
Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts und der bereits erfolgten Ausübung eines Gestaltungsrechts
(23. März 2006 - 2 AZR 343/05 - Rn. 33, BAGE 117, 281; ebenso LAG Berlin-Brandenburg
2. Dezember 2009 - 17 Sa 621/09 - zu II 2 d bb (2) (b) der Gründe).
120 (bb) Der Zweite Senat hatte nicht sehr lange vor der Entscheidung Junk des EuGH vom
27. Januar 2005 (- C-188/03 - Slg. 2005, I-885) mit Urteil vom 18. September 2003 seine
bisherige Auffassung bestätigt. Danach kam es für die Erstattung der
Massenentlassungsanzeige nicht auf den Zugang der Kündigung, sondern auf die Entlassung -
den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt - an (18. September 2003 - 2 AZR 79/02 - zu B III der
Gründe, BAGE 107, 318). Die Entscheidung vom 18. September 2003 setzte sich im Einzelnen
mit den Fragen der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (ABl. EG Nr. L 225 vom 12. August
1998 S. 16) auseinander. Sie erging nach dem Vorabentscheidungsersuchen des Arbeitsgerichts
Berlin in der Sache Junk vom 30. April 2003 (- 36 Ca 19726/02 - ZIP 2003, 1265). Der Zweite
Senat stellte deshalb bei der Rezeption der Junk-Vorabentscheidung vor allem darauf ab, dass er
selbst noch nach der Vorlage vom 30. April 2003 mit Urteil vom 18. September 2003 einen
Vertrauenstatbestand geschaffen und eine richtlinienkonforme Auslegung von § 17 Abs. 1 Satz 1
KSchG verneint habe (vgl. 8. November 2007 - 2 AZR 554/05 - Rn. 30, AP KSchG 1969 § 17
Nr. 28 = EzA KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 156).
121 (cc) Vor der Vorabentscheidung Schultz-Hoff vom 20. Januar 2009 - C-350/06 und C-520/06 -
AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 1 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88 Nr. 1) mussten
Arbeitgeber ihr Vertrauen auf die Fortdauer der nationalen Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts zum Verfall von Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen bei
Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Übertragungszeitraums dagegen nicht aktiv betätigen. Es
war ihrem Einfluss entzogen, ob ein Arbeitnehmer bis zum Ende des Übertragungszeitraums
arbeitsunfähig bleiben würde. Der Neunte Senat hatte sich in diesem Zusammenhang auch noch
nie mit Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie befasst. Eine vertrauensbildende Auseinandersetzung der
Rechtsprechung des BAG mit dem Unionsrecht fehlte. Es handelte sich um eine grundsätzlich
neue Fragestellung.
122 (5) Das Vertrauen der Beklagten darauf, dass § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG bei krankheitsbedingter
Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Übertragungszeitraums nicht richtlinienkonform auszulegen
oder fortzubilden sein würde, ist aus diesen Gründen nicht schutzwürdig. Der Beklagten ist es
zumutbar, die fortbestehenden Ansprüche des Klägers auf Abgeltung des
Schwerbehindertenzusatzurlaubs für 2004 und 2005 zu erfüllen.
123 4. Abzugelten sind jeweils fünf Tage für die Jahre 2004 und 2005 (§ 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX
iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG). Die Forderung beträgt rechnerisch 2.013,54 Euro brutto (4.362,67 Euro
brutto x 3 Monate : 13 Wochen : 5 Arbeitstage x 10 Zusatzurlaubstage). Der im Jahr 2004
entstandene Zusatzurlaubsanspruch wurde auf das gesamte Urlaubsjahr 2005 übertragen, weil
der Kläger seit dem 8. September 2004 über das Jahresende hinaus bis zum Ende des
Arbeitsverhältnisses am 30. September arbeitsunfähig war. Der Urlaubsanspruch war daher
nicht erfüllbar. Der Zusatzurlaubsanspruch für das Jahr 2004 trat zu dem Anspruch für 2005
hinzu (vgl. zu einem tariflichen „Revolvingsystem“ Senat 20. August 1996 - 9 AZR 22/95 - zu
I 1 b der Gründe, BAGE 84, 23; für eine Zusammenfassung der Ansprüche aus verschiedenen
Urlaubsjahren auch ErfK/Dörner § 7 BUrlG Rn. 39o, 46, 46a; AnwK-ArbR/Düwell § 7 BUrlG
Rn. 90, 111 ff., 119; zu der ggf. nötigen Kumulation im Bereich des Mindesturlaubs EuGH 6. April
2006 - C-124/05 - [Federatie Nederlandse Vakbeweging] Rn. 24 und 30, Slg. 2006, I-3423). Er
wandelte sich ebenso wie der Zusatzurlaubsanspruch aus dem Jahr 2005 mit Beendigung des
Arbeitsverhältnisses am 30. September 2005 in einen finanziellen Abgeltungsanspruch um (vgl.
AnwK-ArbR/Düwell § 7 BUrlG Rn. 134).
124 III. Die Ansprüche des Klägers auf Abgeltung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs für 2004 und
2005 sind ab 4. Oktober 2005 unter dem Gesichtspunkt des Verzugs (§ 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288
BGB) zu verzinsen (vgl. zum Zinsbeginn Senat 24. März 2009 - 9 AZR 983/07 - Rn. 99, AP
BUrlG § 7 Nr. 39 = EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 15; BAG 8. Oktober 2008 - 5 AZR 715/07 -
Rn. 27, EzA BGB 2002 § 615 Nr. 27, jeweils unter Hinweis auf § 187 Abs. 1 BGB). Der
2. Oktober 2005 war ein Sonntag, der 3. Oktober 2005 ein Feiertag (§ 193 BGB). Der
Zinsausspruch für die Abgeltung des Mindesturlaubs von 8.054,00 Euro brutto bereits ab
1. Oktober 2005 ist ebenso wie die entsprechende Verurteilung der Beklagten in der Hauptsache
rechtskräftig und nicht zur Entscheidung des Senats angefallen.
125
125 B. Die Parteien haben die Kosten des Rechtsstreits im Umfang ihres Unterliegens in den
Instanzen zu tragen (§ 92 Abs. 1 Satz 1 2. Alt., § 97 Abs. 1 ZPO).
Düwell
Krasshöfer
Gallner
B. Lang
Preuß