Urteil des BAG vom 25.08.2020

Rundfunk - Arbeitnehmerstatus einer Grafikdesignerin

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 25. August 2020
Neunter Senat
- 9 AZR 373/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR373.19.0
I. Arbeitsgericht Stuttgart
Urteil vom 7. Dezember 2017
- 15 Ca 8378/16 -
II. Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Urteil vom 3. Juni 2019
- 1 Sa 1/18 -
Entscheidungsstichworte:
Rundfunk - Arbeitnehmerstatus einer Grafikdesignerin
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR373.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZR 373/19
1 Sa 1/18
Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
25. August 2020
URTEIL
Brüne, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Klägerin, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 25. August 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesar-
beitsgericht Prof. Dr. Kiel, die Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Suckow und
Zimmermann sowie die ehrenamtlichen Richter Lücke und Neumann-Redlin für
Recht erkannt:
- 2 -
9 AZR 373/19
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR373.19.0
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1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Lan-
desarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 3. Juni
2019 - 1 Sa 1/18 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin für die Beklagte im Rahmen
eines freien Dienstverhältnisses oder im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses tätig
ist.
Die Klägerin, eine Diplom-Designerin der Fachrichtung Gestaltung, er-
bringt seit 1998 für die Beklagte, eine Rundfunkanstalt des öffentlichen Rechts,
tageweise Dienste
im Bereich „Grafik und Design“. Einen schriftlichen Vertrag
haben die Parteien nicht geschlossen. Auf der Grundlage entsprechender
„Ho-
norarabrechnungen“ berechnet die Klägerin für ihre Dienste eine Tagesgage iHv.
zuletzt 241,00 Euro.
Im Bereich „Grafik und Design Stuttgart“ beschäftigt die Beklagte 24 Gra-
fikdesigner, von denen acht auf der Grundlage von Arbeitsverträgen und 16 auf
der Grundlage freier Dienstverträge tätig sind. Die Klägerin, die wie die übrigen
Grafikdesigner zusammen mit der Redaktion Bildideen entwickelt und diese um-
setzt, übt ihre Tätigkeit unter Einsatz von der Beklagten gestellter Arbeitsmittel in
deren Fernsehstudiogebäude aus. Ihr Arbeitsplatz befindet sich in einem Büro
mit sechs Funktionsarbeitsplätzen.
Die Klägerin erbringt Grafikleistungen ungefähr zur Hälfte für die Sen-
dung „Landesschau aktuell“, zu etwa einem Fünftel für das Verbrauchermagazin
„Marktcheck“ und im Übrigen für andere Sendungen. Für die „Landesschau“ er-
stellt sie sogenannte Hintergrundbilder, die während der Moderation eingeblen-
det werden. Bei diesen Gestaltungselementen kann es sich um ein Foto, eine
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Grafik oder um eine Kombination verschiedener Elemente handeln. Die letzte
Entscheidung, welches Gestaltungselement gewählt wird, liegt beim Regisseur
bzw. Redakteur.
Für das Verbrauchermagazin „Marktcheck“ erstellt die Klägerin
vorwiegend Infografiken und sogenannte Erklärstücke, über die letztverantwort-
lich der zuständige Redakteur befindet.
Unter einem „Erklärstück“ versteht man
einen kurzen Text, der einen Begriff definiert, erklärt oder historisch herleitet. Die
Kernaussage des Textes wird durch eine Illustration unterstützt. Eine Infografik
ist eine eigenständige journalistische Darstellungsform, um Informationen visuell
aufzubereiten. Während die Redaktion den in der jeweiligen Infografik darzustel-
lenden Sachverhalt vorgibt, obliegt die visuelle Darstellung der Klägerin. Die er-
stellte Grafik hat die Klägerin dem zuständigen Redakteur zur Abnahme vorzule-
gen.
Die Klägerin ist mit einem durchschnittlichen zeitlichen Umfang von 80
vH eines in Vollzeitkraft beschäftigten Arbeitnehmers für die Beklagte tätig. Sie
ist in vier bis fünf Schichten pro Woche eingeteilt. Die Beklagte erwartet, dass die
Klägerin regelmäßig an den montäglich stattfindenden Sitzungen im Bereich
„Grafik und Design“ und an den täglichen Redaktionssitzungen teilnimmt. Zur Or-
ganisation der Arbeitsabläufe erstellt die Beklagte Dienstpläne, in die sowohl die
von ihr beschäftigten Arbeitnehmer als auch die für sie tätigen freien Mitarbeiter
eingetragen sind.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Parteien verbinde ein Ar-
beitsverhältnis, weil sie nicht nur örtlich und zeitlich in die Arbeitsorganisation der
Beklagten eingebunden sei, sondern auch fachlich weisungsgebunden arbeite.
Die Klägerin hat - soweit für die Revision von Bedeutung - beantragt
festzustellen, dass zwischen den Parteien seit dem
1. März 1998 ein Arbeitsverhältnis besteht.
Die Beklagte hat die Abweisung der Klage mit der Begründung beantragt,
als Trägerin des in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Grundrechts der
Rundfunkfreiheit stehe es ihr frei, die als Grafikdesignerin programmgestaltend
tätige Klägerin im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses zu beschäftigen. Im
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Übrigen hat sie den Standpunkt eingenommen, die Voraussetzungen eines Ar-
beitsverhältnisses seien nicht erfüllt, weil die Klägerin weisungsfrei tätig sei.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts zurückge-
wiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageziel, die Abweisung der
Klage, weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung der Beklagten gegen das klagestattgebende Urteil des Arbeits-
gerichts zu Recht zurückgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechts-
fehler angenommen, das Rechtsverhältnis der Parteien seit dem Jahr 1998 stelle
ein Arbeitsverhältnis dar.
I.
Die von der Klägerin erhobene Klage ist zulässig.
1.
Der von der Klägerin zur Entscheidung gestellte Antrag genügt den ge-
setzlichen Anforderungen an eine Feststellungsklage iSd. § 256 Abs. 1 ZPO. Da-
von ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen.
a)
Die Klägerin will gerichtlich geklärt wissen, dass zwischen den Parteien
seit dem 1. März 1998 ein Arbeitsverhältnis besteht. Ein solches Klagebegehren
ist mit einer allgemeinen Feststellungsklage gemäß § 256 Abs. 1 ZPO geltend zu
machen
.
b)
In der gebotenen rechtsschutzgewährenden Auslegung
ist der Feststel-
lungsantrag hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Zwar benennt die
Klägerin weder die Art der von ihr geschuldeten Arbeitsleistung noch weitere Ar-
beitsbedingungen. Diese ergeben sich jedoch aus der Klagebegründung, die zur
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Ermittlung des Inhalts auslegungsbedürftiger Klageanträge herangezogen wer-
den kann
. Die Klägerin
begehrt danach die gerichtliche Feststellung eines Arbeitsverhältnisses, das seit
dem 1. März 1998 mit einem durchschnittlichen zeitlichen Umfang von 80 vH ei-
nes in Vollzeitkraft beschäftigten angestellten Grafikdesigners zu den bei der Be-
klagten hierfür üblichen Bedingungen besteht.
c)
Die Klägerin hat ein rechtliches Interesse daran, dass das Bestehen ei-
nes Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten alsbald festgestellt wird. Zwar begehrt
sie die Feststellung auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, ob-
wohl eine Feststellungsklage gemäß § 256 Abs. 1 ZPO grundsätzlich den gegen-
wärtigen Bestand eines Rechtsverhältnisses betreffen muss. Trotz des Vergan-
genheitsbezugs des Antrags
besteht das besondere Feststellungsinteresse jedoch auch dann,
wenn sich - wie im Streitfall - aus ihm Rechtsfolgen für die Gegenwart und Zu-
kunft, insbesondere mögliche Ansprüche auf Vergütung ergeben können
.
2.
Die Klägerin hat das Recht, den Bestand eines Arbeitsverhältnisses mit
der Beklagten klageweise geltend zu machen, nicht nach den für die Prozessver-
wirkung geltenden Grundsätzen verwirkt.
a)
Das Recht, eine Klage zu erheben, kann verwirkt werden mit der Folge,
dass eine dennoch angebrachte Klage unzulässig ist. Dies kommt jedoch nur
unter besonderen Voraussetzungen in Betracht. Das Klagerecht kann aus-
nahmsweise verwirkt sein, wenn der Anspruchsteller die Klage erst nach Ablauf
eines längeren Zeitraums erhebt und zusätzlich ein Vertrauenstatbestand beim
Anspruchsgegner geschaffen worden ist, er werde gerichtlich nicht mehr belangt
werden. Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes das Interesse des
Berechtigten an der sachlichen Prüfung des von ihm behaupteten Anspruchs der-
art überwiegen, dass dem Gegner die Einlassung auf die nicht innerhalb ange-
messener Frist erhobene Klage nicht mehr zumutbar ist. Durch die Annahme ei-
ner prozessualen Verwirkung darf der Weg zu den Gerichten nicht in unzumut-
barer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies
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ist im Zusammenhang mit den an das Zeit- und Umstandsmoment zu stellenden
Anforderungen zu berücksichtigen
.
b)
Die Voraussetzungen der Prozessverwirkung liegen im Streitfall nicht
vor. Es kann dahinstehen, ob der Umstand, dass sich die Klägerin erstmals mehr
als 18 Jahre nach Aufnahme ihrer Tätigkeit im Jahr 1998 darauf berufen hat, die
Parteien verbinde ein Arbeitsverhältnis, die Annahme des Zeitmoments rechtfer-
tigt. Jedenfalls fehlt es an dem für die Prozessverwirkung erforderlichen Um-
standsmoment. Die Beklagte, die sich im Übrigen nicht auf Verwirkung beruft, hat
keine besonderen Umstände vorgetragen, aufgrund deren es ihr aus Vertrauens-
gesichtspunkten nicht zugemutet werden könnte, sich im Rahmen eines Rechts-
streits auf das Klagebegehren einzulassen und sich hiergegen zu verteidigen.
Sie hat insbesondere nicht geltend gemacht, sie habe aufgrund eines bei ihr ent-
standenen Vertrauens, die Klägerin werde keine Klage erheben, Beweismittel
nicht gesichert oder habe sonstige Schwierigkeiten bei der Verteidigung ihrer
Rechtsposition im Prozess, die ihr bei früherer Klageerhebung nicht entstanden
wären. Soweit sie sich darauf berufen hat, durch den Zeitablauf sei ihr ein Vortrag
zu „den tatsächlichen Ablehnungen von Diensten durch die Klägerin“ erschwert,
ergibt sich daraus nicht, ob und welche Aufzeichnungen sie bezüglich der zeitli-
chen Einteilung ihrer Mitarbeiter unter welchen Umständen über welchen Zeit-
raum üblicherweise aufbewahrt und aus welchen Gründen zu welchem Zeitpunkt
es ihr nicht mehr möglich ist, die die Klägerin betreffenden Angaben zu recher-
chieren.
II.
Die Klage ist begründet. Die Einordnung des Rechtsverhältnisses mit der
als Grafikdesignerin beschäftigten Klägerin als unbefristetes Arbeitsverhältnis ist
revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1.
Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend von den rechtlichen Grundsätzen
ausgegangen, die das Bundesarbeitsgericht zur Abgrenzung eines Arbeitsver-
hältnisses von dem Rechtsverhältnis eines selbstständigen Unternehmers auf-
gestellt hat.
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a)
Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im
Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Ar-
beit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Dementsprechend ist ein Ar-
beitsverhältnis anzunehmen, wenn die Leistung von Diensten nach Weisung des
Dienstberechtigten und gegen Zahlung von Entgelt Schwerpunkt des durch pri-
vatrechtlichen Vertrag begründeten Rechtsverhältnisses ist
. Ein Arbeitsverhältnis unterscheidet sich demnach
von dem Rechtsverhältnis eines selbstständig Tätigen durch den Grad der per-
sönlichen Abhängigkeit, in der sich der Verpflichtete befindet. Das für ein Arbeits-
verhältnis konstitutive Weisungsrecht des Arbeitgebers kann Inhalt, Durchfüh-
rung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen. Der Grad der persönlichen Ab-
hängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Letzt-
lich kommt es für die Beantwortung der Frage, welches Rechtsverhältnis im kon-
kreten Fall vorliegt, auf eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände
des Einzelfalls an
.
b)
Diese für die Abgrenzung eines freien Dienstvertrags von einem Arbeits-
verhältnis maßgebenden Grundsätze haben die Gerichte für Arbeitssachen im
Bereich Funk und Fernsehen unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Ge-
währleistungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG anzuwenden.
aa)
Die Rundfunkfreiheit erstreckt sich auf das Recht der Rundfunkanstalten,
dem Gebot der Vielfalt der zu vermittelnden Programminhalte auch bei der Aus-
wahl, Einstellung und Beschäftigung derjenigen Mitarbeiter Rechnung zu tragen,
die bei der Gestaltung der Programme mitwirken sollen. Der Schutz der Rund-
funkfreiheit verlangt neben der Auswahl der an der inhaltlichen Gestaltung der
Sendungen mitwirkenden Mitarbeiter die Entscheidung darüber, ob solche Mitar-
beiter fest angestellt werden oder ob ihre Beschäftigung aus Gründen der Pro-
grammplanung auf eine gewisse Dauer oder ein gewisses Projekt zu beschrän-
ken ist und wann, wie oft oder wie lange ein Mitarbeiter benötigt wird. Dies
schließt die Befugnis ein, bei der Begründung von Mitarbeiterverhältnissen den
insoweit jeweils geeigneten Vertragstyp zu wählen
. Die Rundfunkfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos
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gewährt. Sie findet nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken unter anderem in den
allgemeinen Gesetzen. Dazu gehören die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften
über den Dienstvertrag und die besonderen Bestimmungen des Arbeitsrechts. Im
Hinblick auf die in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Rundfunkfreiheit wird da-
nach in der Regel eine fallbezogene Abwägung zwischen der Bedeutung der
Rundfunkfreiheit auf der einen und dem Rang der von den Normen des Arbeits-
rechts geschützten Rechtsgüter auf der anderen Seite verlangt
.
bb)
Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben trägt das Bundesarbeitsgericht
in ständiger Rechtsprechung durch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen
programmgestaltenden und nicht programmgestaltenden Mitarbeitern Rech-
nung. Das durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Recht der Rundfunkanstal-
ten, weitgehend frei von fremder Einflussnahme über die Auswahl, Einstellung
und Beschäftigung über die Vertragsgestaltung entscheiden zu können, ist dabei
auf programmgestaltende Mitarbeiter beschränkt. Die Sicherung der Aktualität
und Flexibilität der Berichterstattung erfordert diese Freiheit nicht auch bezogen
auf nicht programmgestaltende Mitarbeiter
.
(1)
Als „programmgestaltend“ ist der Kreis derjenigen Rundfunkmitarbeiter
anzusehen, „die an Hörfunk- und Fernsehsendungen inhaltlich gestaltend mitwir-
ken
“. Das gilt namentlich, wenn sie typischerweise ihre eigene Auffassung zu
politischen, wirtschaftlichen, künstlerischen oder anderen Sachfragen, ihre Fach-
kenntnisse und Informationen, ihre individuelle künstlerische Befähigung und
Aussagekraft in die Sendung einbringen, wie dies bei Redakteuren
, Regisseuren, Moderatoren
, Reportern
, Berichterstatter
, Kommentatoren, Wissenschaftlern und Künstlern der Fall ist.
Auch bei diesen Mitarbeitern kann ein Arbeitsverhältnis vorliegen, wenn sie weit-
gehenden inhaltlichen Weisungen unterliegen, ihnen also nur ein geringes Maß
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an Gestaltungsfreiheit, Eigeninitiative und Selbstständigkeit verbleibt, und der
Sender innerhalb eines zeitlichen Rahmens über ihre Arbeitsleistung verfügen
kann. Letzteres ist dann der Fall, wenn ständige Dienstbereitschaft erwartet wird
oder wenn der Mitarbeiter in nicht unerheblichem Umfang auch ohne entspre-
chende Vereinbarung durch Dienstpläne herangezogen wird, ihm also die Arbei-
ten letztlich zugewiesen werden
.
(2)
Nicht zu den programmgestaltenden Mitarbeitern gehören das betriebs-
technische und das Verwaltungspersonal sowie diejenigen, die zwar bei der Ver-
wirklichung des Programms mitwirken, aber keinen inhaltlichen Einfluss darauf
haben. In diese Kategorie hat die Rechtsprechung zB Sprecher und Übersetzer
von Nachrichten- und Kommentartexten
, Musikarchivare
und Cutter
eingeordnet und deshalb die Arbeitnehmereigenschaft anhand der allgemeinen
Kriterien geprüft. Nicht programmgestaltende Mitarbeiter werden im Regelfall
häufiger die Kriterien eines Arbeitnehmers erfüllen, als es bei programmgestal-
tenden Mitarbeitern zu erwarten ist
.
2.
Die Tatsacheninstanzen verfügen bei der Prüfung des Arbeitnehmersta-
tus über einen weiten Beurteilungsspielraum. Ihre Würdigung ist in der Revisi-
onsinstanz nur daraufhin zu überprüfen, ob sie den Rechtsbegriff des Arbeitneh-
mers selbst verkannt, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt, bei
der Subsumtion den Rechtsbegriff wieder aufgegeben oder wesentliche Um-
stände außer Betracht gelassen haben
. Dieser Beurteilungsspielraum bezieht sich auch auf die Abgren-
zung zwischen programmgestaltenden und nicht programmgestaltenden Mitar-
beitern im Bereich der Rundfunkanstalten.
3.
Das Landesarbeitsgericht hat unter Berücksichtigung dieses Maßstabs
die Art des Rechtsverhältnisses unter Rückgriff auf die allgemeinen Kriterien des
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Arbeitnehmerbegriffs bestimmt und bei der Würdigung die maßgeblichen tat-
sächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte widerspruchsfrei und vollständig be-
rücksichtigt.
a)
Für die Annahme eines Vertragsschlusses zwischen den Parteien ist es
rechtlich nicht von Bedeutung, dass sich weder den tatbestandlichen Feststellun-
gen des Landesarbeitsgerichts, die für den Senat bindend sind
,
noch dem Vortrag der Parteien entnehmen lässt, dass die Parteien vor, am
oder nach dem 1. März 1998 Willenserklärungen abgaben, die auf die Begrün-
dung eines Vertragsverhältnisses abzielten. Ein Vertrag kann - wovon das Lan-
desarbeitsgericht unausgesprochen ausgegangen ist - durch übereinstimmen-
des schlüssiges Verhalten
zu-
stande kommen
. Dies ist ins-
besondere dann anzunehmen, wenn die Parteien - wie im Streitfall - über einen
Zeitraum von mehreren Jahren einvernehmlich Dienstleistung und Vergütung
austauschen
. Die Klä-
gerin ist für die Beklagte seit dem Jahr 1998 als Grafikdesignerin tätig, und die
Beklagte hat ihr dafür Vergütung gezahlt sowie weitere vertragliche Leistungen
erbracht.
b)
Die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, die programmgestaltenden
Elemente der Tätigkeit als Grafikdesignerin seien nicht als so wesentlich anzu-
sehen, dass sie dazu berechtigten, die Klägerin in einem freien Mitarbeiterver-
hältnis zu beschäftigen, lässt keinen Rechtsfehler erkennen
.
Das Landesarbeitsgericht geht von den Grundsätzen aus, die nach der Recht-
sprechung des Bundesarbeitsgerichts für die Abgrenzung einer programmgestal-
tenden Tätigkeit von anderen Tätigkeiten maßgebend sind. So berücksichtigt es
den Einfluss, den die Klägerin auf den Inhalt der ausgestrahlten Beiträge hat,
bewertet die Vergütung, die die Klägerin im Verhältnis zu von der Beklagten be-
schäftigten Redakteuren erhielt, und stellt in die Abwägung ein, dass sich die
Zusammenarbeit der Parteien von Anfang an nicht auf einzelne Produktionen
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beschränkte, sondern auf wiederkehrende Nachrichten- und Informationssen-
dungen bezog. Unter Gewichtung dieser Gesichtspunkte gelangt das Landesar-
beitsgericht zu dem Ergebnis, ein Einfluss der Klägerin auf die Programmgestal-
tung sei zwar vorhanden, erreiche aber nicht die Intensität, die die Tätigkeit eines
Redakteurs oder Regisseurs habe. So gebe die Klägerin weder das Thema noch
den Inhalt der jeweiligen Beiträge vor. Die Klägerin sei zwar ein unentbehrliches,
für den Inhalt des Programms aber letztlich nicht ausschlaggebendes „Rädchen“
im Produktionsprozess der jeweiligen Fernsehsendung.
c)
Nach den getroffenen Feststellungen durfte das Landesarbeitsgericht
unter Berücksichtigung des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums anneh-
men, dass die Klägerin die als Grafikdesignerin geschuldete Leistung nicht als
freie Mitarbeiterin, sondern weisungsgebunden als Arbeitnehmerin erbringt.
aa)
Die Klägerin, die im Rahmen ihrer Tätigkeit auf die Nutzung der ihr von
der Beklagten zur Verfügung gestellten technischen Gerätschaften angewiesen
ist, arbeitet ausschließlich in deren Räumlichkeiten. Der arbeitsteilige Produkti-
onsprozess erfordert die Einbindung der Klägerin in die Arbeitsorganisation der
Beklagten. Ausdruck dessen ist die regelmäßige Teilnahme der Klägerin an den
montäglich stattfindenden Sitzungen im Bereich „Grafik und Design“ ebenso wie
die Erwartung der Beklagten, die Klägerin möge während der täglichen Redakti-
onssitzungen anwesend sein. Die Redaktion gibt der Klägerin den in der jeweili-
gen Infografik darzustellenden Sachverhalt vor. Auch wenn diese bei der Erstel-
lung der Hintergrundbilder, Infografiken und Erklärstücke eine ihr zustehende Ge-
staltungsfreiheit nutzt, besteht das Arbeitsergebnis lediglich in einem Vorschlag,
über dessen Annahme und Umsetzung nicht sie, sondern die ihr vorgesetzten
Regisseure und Redakteure verbindlich entscheiden.
bb)
In zeitlicher Hinsicht verfügt die Klägerin zwar über mehr Souveränität
als in der Mehrzahl von Arbeitsverhältnissen üblich. So teilte die Klägerin der
Beklagten bei verschiedenen Gelegenheiten mit, bestimmte Dienste nicht über-
nehmen zu wollen. In den Jahren 2006 und 2008 sah sie von einer Tätigkeit für
die Beklagte in Zeiträumen ab, die mehr Tage umfassten, als ihr nach den Ur-
laubsregelungen in Nr. 8 TVaäP zustanden. Wenn das Landesarbeitsgericht im
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Wege der Gesamtwürdigung aller Umstände zu der Einschätzung gelangt, die
zeitliche Bindung der Klägerin komme dennoch derjenigen eines Arbeitnehmers
„weitestgehend nahe“, so liegt dies innerhalb des ihm als Tatsachengericht zu-
stehenden Beurteilungsspielraums.
d)
Die Revision rügt demgegenüber ohne Erfolg, das Landesarbeitsgericht
habe nicht ohne Beweisaufnahme davon ausgehen dürfen, die Klägerin sei nicht
ohne vorherige Vereinbarung zu Diensten herangezogen worden.
aa)
Das Landesarbeitsgericht hat den diesbezüglichen Vortrag der Klägerin
im streitigen Tatbestand seines Urteils aufgeführt. Auch im Rahmen der anschlie-
ßenden rechtlichen Würdigung unterstellt das Landesarbeitsgericht nicht, die
Klägerin sei in zeitlicher Hinsicht an Weisungen der Beklagten gebunden. Es geht
vielmehr davon aus, die zeitliche Bindung der Klägerin komme derjenigen in ei-
nem Arbeitsverhältnis „weitestgehend nahe“. Das ist etwas anderes.
bb)
Soweit das Landesarbeitsgericht in den Gründen der Entscheidung auf
das Verhalten der Disponenten G und R bei der Gestaltung der Dienstpläne ein-
geht, hat die Beklagte diese tatsächlichen Feststellungen nicht mit einem Tatbe-
standsberichtigungsantrag angegriffen.
(1)
Tatbestandliche Feststellungen des Berufungsgerichts, die auch in den
Entscheidungsgründen enthalten sein können
, lassen sich nicht mit Verfahrensrügen, sondern allein mit einem
Antrag auf Tatbestandsberichtigung nach § 320 ZPO beseitigen
.
(2)
Die Beklagte hat zwar mit Schriftsatz vom 12. August 2019 die Berichti-
gung des Tatbestands beantragt. Ihr Berichtigungsbegehren bezog sich aber al-
lein auf Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zu der Honorargestaltung bei
Vertragsverhältnissen mit freien Mitarbeitern, nicht aber auf die Rolle der für die
Beklagte tätigen Disponenten. Dementsprechend hat das Landesarbeitsgericht
den Antrag mit Beschluss vom 29. August 2019 zurückgewiesen, ohne auf seine
Feststellungen bezüglich der Dienstplangestaltung einzugehen.
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e)
Soweit die Beklagte geltend macht, die festgestellten Tatsachen ließen
nicht darauf schließen, dass bereits am 1. März 1998 ein Arbeitsverhältnis zwi-
schen den Parteien begründet worden sei, weil sich die Verhältnisse seither ge-
ändert hätten, verhilft dies der Revision ebenfalls nicht zum Erfolg.
aa)
Die mit der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt einhergehende
Weiterentwicklung der Arbeitsmittel und Anpassung der Arbeitsabläufe bei der
Beklagten ändert nichts an dem Umstand, dass das arbeitsteilige Zuarbeiten der
Klägerin für den Produktionsprozess, in den sie von Beginn an eingebunden war,
seit dem Jahr 1998 kennzeichnend ist. Nach den getroffenen Feststellungen er-
brachte die Klägerin die geschuldete Leistung in den Räumen der Beklagten un-
ter Einsatz von Arbeitsmitteln, die die Beklagte zur Verfügung stellte, mit im We-
sentlichen gleichen Arbeitsaufgaben in den weitgehend unveränderten Struktu-
ren der Abt
eilung „Grafik und Design“. Diese erlaubten es der Klägerin zu keinem
Zeitpunkt, ihre Grafikvorstellungen ohne vorherige Absprache und nachträgliche
Genehmigung der jeweils Verantwortung tragenden Personen wie Regisseur und
Redakteur umzusetzen.
bb)
Die Rüge der Beklagten, sie habe bestritten, dass sich an den tatsächli-
chen Bedingungen des Produktionsprozesses seit 1998 nichts Wesentliches ge-
ändert habe, greift nicht durch. Die Beklagte hat die - auch in den Entscheidungs-
gründen möglichen - diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen des Landes-
arbeitsgerichts nicht fristgerecht mit einem Tatbestandsberichtigungsantrag nach
§ 320 ZPO angegriffen. Dass die Beklagte in der Revisionsbegründung erneut
pauschal behauptet, die Umstände, unter denen die Klägerin zum Zeitpunkt des
Schlusses der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht die von
ihr geschuldeten Leistung erbringe, seien andere als im Jahr 1998, ist daher ge-
mäß § 559 Abs. 1 ZPO unbeachtlich.
4.
Die Klägerin hat ihr Recht, sich auf den Bestand eines Arbeitsverhältnis-
ses zwischen den Parteien zu berufen, nicht materiell verwirkt
. Es
bedarf im Streitfall keiner Entscheidung, ob das Recht, sich auf den Bestand ei-
nes Arbeitsverhältnisses zu berufen, überhaupt verwirken kann
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. Selbst wenn man zugunsten der Beklagten davon ausginge,
eine Verwirkung wäre möglich, lägen deren Voraussetzungen im Streitfall nicht
vor. Es ist der Beklagten nicht unzumutbar, den Bestand des Arbeitsverhältnisses
seit dem 1. März 1998 gegen sich gelten zu lassen.
a)
Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung und
soll dem Bedürfnis nach Rechtsklarheit dienen. Sie verfolgt nicht den Zweck,
Schuldner, denen gegenüber Gläubiger ihre Rechte längere Zeit nicht geltend
gemacht haben, von ihrer Pflicht zur Leistung vorzeitig zu befreien. Deshalb kann
allein der Zeitablauf die Verwirkung eines Rechts nicht rechtfertigen (Zeitmo-
ment). Es müssen vielmehr besondere Umstände sowohl im Verhalten des Be-
rechtigten als auch des Verpflichteten hinzutreten (Umstandsmoment), die es
rechtfertigen, die spätere Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben
unvereinbar anzusehen. Der Berechtigte muss unter solchen Umständen untätig
geblieben sein, die den Eindruck erweckt haben, dass er sein Recht nicht mehr
wahrnehmen wolle, sodass sich der Verpflichtete darauf einstellen durfte, nicht
mehr in Anspruch genommen zu werden
.
b)
Die Beurteilung der Frage, ob ein Recht verwirkt ist, obliegt grundsätzlich
dem Gericht der Tatsacheninstanz. Der revisionsrechtlichen Überprüfung unter-
liegt allein, ob es alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt hat und die Be-
wertung dieser Gesichtspunkte von den getroffenen tatsächlichen Feststellungen
getragen wird
. Hat das Landesar-
beitsgericht eine Verwirkung nicht geprüft, kann das Revisionsgericht die Prüfung
nachholen, wenn die dafür maßgeblichen Tatsachen feststehen und ein weiterer
Sachvortrag der Parteien nicht zu erwarten ist
.
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c)
Es kann offenbleiben, ob im Streitfall das Zeitmoment gegeben wäre.
Weder hat das Landesarbeitsgericht das erforderliche Umstandsmoment festge-
stellt noch hat die Beklagte ein solches dargelegt. Die langjährige Tätigkeit der
Klägerin für die Beklagte reicht für sich genommen nicht aus. Ohne Hinzutreten
besonderer Umstände durfte die Beklagte nicht darauf vertrauen, die Klägerin
werde den Bestand eines Arbeitsverhältnisses mit ihr nicht geltend machen. Dass
die Klägerin ihre Tätigkeit gegenüber der Beklagten abrechnete, konnte bei der
Beklagten nicht die begründete Erwartung hervorrufen, sie werde nicht auf das
Bestehen eines Arbeitsverhältnisses in Anspruch genommen. Weder aus den
Feststellungen des Landesarbeitsgerichts noch aus dem Vorbringen der Beklag-
ten ergibt sich, dass die Beklagte es auch nur in Erwägung gezogen hat, es
könne ein Arbeitsverhältnis zwischen ihr und der Klägerin bestehen. Wer über-
haupt keine Kenntnis von einer möglichen Rechtsposition eines Dritten hat, kann
auf das Ausbleiben einer entsprechenden Forderung allenfalls allgemein, nicht
aber konkret hinsichtlich einer bestimmten Rechtsposition vertrauen
.
III.
Die Beklagte hat die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen
.
Kiel
Zimmermann
Suckow
M. Lücke
Neumann-Redlin
44
45