Urteil des BAG vom 25.08.2020

Benachteiligung wegen Schwerbehinderung - Tarifliche Ausgleichszahlung bei Inanspruchnahme vorgezogener Altersrente

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 25. August 2020
Neunter Senat
- 9 AZR 266/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR266.19.0
I. Arbeitsgericht Aachen
Urteil vom 18. September 2018
- 4 Ca 1057/18 -
II. Landesarbeitsgericht Köln
Urteil vom 1. Februar 2019
- 10 Sa 676/18 -
Entscheidungsstichworte:
Tarifliche Ausgleichszahlung bei Inanspruchnahme vorgezogener Alters-
rente - Benachteiligung wegen Schwerbehinderung
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR266.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZR 266/19
10 Sa 676/18
Landesarbeitsgericht
Köln
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
25. August 2020
URTEIL
Brüne, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
1.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
2.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
- 2 -
9 AZR 266/19
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR266.19.0
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hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 25. August 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesar-
beitsgericht Prof. Dr. Kiel, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Weber und den
Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Suckow sowie die ehrenamtlichen Richter
Lücke und Neumann-Redlin für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts Köln vom 1. Februar 2019 - 10 Sa
676/18 - aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entschei-
dung - auch über die Kosten der Revision - an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagten auf eine tarifliche Ausgleichszahlung
nach der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente in Anspruch.
Die Klägerin stand vom 1. April 2004 bis zum 31. Juli 2018 bei den Be-
klagten in einem Arbeitsverhältnis. Unter dem 26. November 2012/10. Dezember
2012 trafen die Parteien eine Altersteilzeitvereinbarung, die ua. folgende Rege-
lungen enthält:
§ 1
Beginn und Ende der Altersteilzeit
Das Arbeitsverhältnis wird ab dem 01.12.2012 als Alters-
teilzeitarbeitsverhältnis fortgeführt.
Es endet ohne Kündigung am 31.07.2018.
§ 6
Minderung der gesetzlichen Altersrente
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9 AZR 266/19
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Im Anschluss an die Beendigung der Altersteilzeit kann der
Arbeitnehmer geminderte Altersrente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung beanspruchen.
Kompensationsleistungen für hier entstehende Nachteile
werden seitens der Arbeitgeber nicht erbracht.
§ 8
Schlussbestimmungen
… Im Übrigen gelten die Bestimmungen des Arbeitsvertra-
ges entsprechend sowie die Bestimmungen des beigefüg-
ten Altersteilzeitabkommens für die Versicherungswirt-
schaft (ATzA) vom 22.12.2005 sowie des Sozialplans vom
18.06.2007.“
Das zwischen dem Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen
in Deutschland eV und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di ver-
einbarte Altersteilzeitabkommen für das private Versicherungsgewerbe vom
22. Dezember 2005 (ATzA) in der ab dem 1. Juli 2013 geltenden Fassung sieht
ua. folgende Bestimmungen vor:
§ 2
(9) Angestellte, die dem Unternehmen mindestens zehn
Jahre angehören und die vor dem 1. Januar 2016 das
57. Lebensjahr vollenden und mit dem Arbeitgeber eine bis
zu sechsjährige Altersteilzeit vereinbaren, die mit dem
63. Lebensjahr endet und bei denen sich in Folge des vor-
zeitigen Rentenbezugs mit Vollendung des 63. Lebens-
jahres nachweislich ein Rentenabschlag in der gesetzlichen
Rentenversicherung ergibt, sind wirtschaftlich so zu stellen,
als ob dieser Rentenabschlag nur die Hälfte betragen
würde. Dabei darf der Aufwand des Arbeitgebers 3,6 % der
individuellen Sozialversicherungsrente nicht übersteigen.
Über die Art und Weise dieses wirtschaftlichen Ausgleichs
(z.B. durch Erhöhung einer bestehenden betrieblichen Al-
tersversorgung) entscheidet das jeweilige Versicherungs-
unternehmen.“
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9 AZR 266/19
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Der von § 8 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung in Bezug genommene
„Sozialplan für Arbeitnehmer der Direktion“ (SozPl Dir) vom 18. Juni 2007 regelt
ua. Folgendes:
Präambel
Zum Ausgleich bzw. zur Milderung der wirtschaftlichen
Nachteile, die den Arbeitnehmern des Innendienstes durch
die im Interessenausgleich Direktion vom 18.06.2007
(nachstehend ‚Interessenausgleich‘ genannt) geregelte Be-
triebsänderung entstehen, wird folgender Sozialplan (nach-
stehend ‚Vereinbarung‘ genannt) abgeschlossen:
IV.
Vorruhestand/Altersteilzeit
(2) Die Gesellschaft kann Arbeitnehmern des Innendiens-
tes den Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung an-
bieten. Die Entscheidung über ein solches Angebot,
das unter den Voraussetzungen und zu den Bedin-
gungen gemäß Anlage C (Altersteilzeit) erteilt werden
kann, bleibt der Gesellschaft vorbehalten.“
Anlage C zu Ziffer IV Absatz (2) des Sozialplans Direktion vom 18. Juni
2007 enthält ua. folgende Regelungen:
Altersteilzeit
Inhalt dieser Anlage sind ergänzende Regelungen zum Al-
tersteilzeitabkommen für das private Versicherungsge-
werbe vom 1.
Januar 2006 …
3.
Altersteilzeitverhältnis
3.1 Inhalt
(2) Wirtschaftlicher Ausgleich
(a) Der wirtschaftliche Ausgleich von Rentenab-
schlägen erfolgt nach Maßgabe von § 2 Ab-
satz 9 ATzA.
(b) Pro 0,3% Minderung der gesetzlichen Alters-
rente (begrenzt auf maximal die Hälfte des pro-
zentualen Rentenabschlags der gesetzlichen Al-
tersrente) erhält der Arbeitnehmer pauschal
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EUR 640,-- brutto als einmalige Ausgleichszah-
lung. …“
In dem „Sozialplan Betriebsübergang Zentrale Dienste“ vom 9. Novem-
ber 2012
(SozPl ZD)
vereinbarten die Betriebsparteien ua. Folgendes:
PRÄAMBEL
Zum Ausgleich bzw. zur Milderung der wirtschaftlichen
Nachteile, die den Arbeitnehmern durch die im Interessen-
ausgleich
vom 09.11.2012 (… ‚Interessenausgleich‘ …)
und durch die in der ‚Vereinbarung Eckpunkte zum Projekt
Betriebsübergang Zentrale Dienste‘ vom 23. Oktober 2012
(… ‚Eckpunktevereinbarung‘ …) geregelten Betriebsände-
rungen entstehen, wird folgender Sozialplan … abge-
schlossen:
TEIL A
GELTUNGSBEREICH
I.
SACHLICHER GELTUNGSBEREICH
(1) Diese Vereinbarung findet für alle im Interessenaus-
gleich unter Ziffer I sowie in der Eckpunktevereinba-
rung geregelten Maßnahmen (nachstehend ‚Maßnah-
men‘ genannt) Anwendung.
TEIL B
MILDERUNG/AUSGLEICH DER WIRTSCHAFTLICHEN
NACHTEILE
VIII.
VORRUHESTAND/ALTERSTEILZEIT
(1)
(2) Die Gesellschaft kann Arbeitnehmern den Abschluss
einer Altersteilzeitvereinbarung anbieten. Die Ent-
scheidung über ein solches Angebot, das unter den
Voraussetzungen und zu den Bedingungen gemäß
Anlage B (Altersteilzeit) erteilt werden kann, bleibt der
Gesellschaft vorbehalten.
Anlage B zu Teil B Ziff. VIII Absätze (2) und (3) des Sozialplans Betriebs-
übergang Zentrale Dienste vom 9. November 2012 bestimmt ua. Folgendes:
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Altersteilzeit
Inhalt dieser Anlage sind ergänzende Regelungen zum Al-
tersteilzeitabkommen für das private Versicherungsge-
werbe in der Fassung vom 1. Juli 2011 ...
3.
Altersteilzeitverhältnis
3.1 Inhalt
b)
Wirtschaftlicher Ausgleich
(1) Der wirtschaftliche Ausgleich von Rentenabschlägen
erfolgt nach Maßgabe von § 2 Absatz 9 ATzA.
(2) Pro 0,3 Prozentpunkte Minderung der gesetzlichen
Altersrente (begrenzt auf maximal die Hälfte des pro-
zentualen Rentenabschlags der gesetzlichen Alters-
rente) erhält der Arbeitnehmer pauschal EUR 720,00
brutto als einmalige Ausgleichszahlung.“
Die am 28. August 1957 geborene Klägerin ist als schwerbehinderter
Mensch iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX anerkannt. Sie nimmt seit dem 1. August 2018
vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach § 236a SGB VI
in Anspruch.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagten seien zum hälf-
tigen Ausgleich der Rentennachteile verpflichtet, die ihr, der Klägerin, infolge der
Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente entstünden. § 2 Abs. 9 Satz 1
ATzA enthalte eine unbewusste Regelungslücke, die im Wege der ergänzenden
Auslegung dahingehend zu schließen sei, dass schwerbehinderten Mitarbeitern,
die nach der Vollendung des 60. Lebensjahres vorgezogene Altersrente in An-
spruch nähmen, ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zustehe. Die Tarifnorm
verstoße außerdem gegen das Diskriminierungsverbot der §§ 1, 7 AGG, da sie
schwerbehinderte Arbeitnehmer mittelbar wegen ihrer Behinderung benachtei-
lige.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie
12.960,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Pro-
zentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Septem-
ber 2018 zu zahlen.
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Die Beklagten haben die Abweisung der Klage mit der Begründung be-
antragt, § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA führe nicht zu einer Ungleichbehandlung von
schwerbehinderten und anderen Arbeitnehmern, da die Tarifbestimmung einheit-
lich auf die Vollendung des 63. Lebensjahres abstelle. Im Übrigen sei die tarifli-
che Differenzierung sachlich gerechtfertigt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klä-
gerin ihren Klageantrag weiter. In der Revisionsinstanz hat die Klägerin vorgetra-
gen, die Beklagten verwendeten bei Abschluss von Altersteilzeitvereinbarungen
unterschiedliche Vertragsformulare. Während einige Verträge Klauseln wie die in
§ 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung der Parteien enthielten, fehle in anderen
eine entsprechende Bestimmung. Die Beklagten erklärten, Bestimmungen wie in
§ 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung der Parteien in die von ihr verwendeten
Verträge nicht aufgenommen zu haben, wenn die Voraussetzungen für eine Aus-
gleichszahlung nach dem ATzA oder für eine Leistung nach einem Sozialplan
erfüllt waren.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung
der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Be-
rufungsgericht. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts
kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob der Klägerin die von ihr gel-
tend gemachte Ausgleichszahlung zusteht.
I.
Die Revision ist nicht schon deshalb zurückzuweisen, weil - wie die Be-
klagten meinen - bereits die Berufung der Klägerin mangels ausreichender Be-
gründung unzulässig gewesen ist.
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1.
Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die
Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das ange-
fochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergibt.
Gemäß § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG sind die Vorschriften der Zivilprozessordnung
über die Begründung der Berufung auch im Urteilsverfahren vor den Gerichten
für Arbeitssachen anwendbar. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der
Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entschei-
dung ergeben soll. Die Regelung des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO soll gewähr-
leisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfas-
sung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird.
2.
Diesen Anforderungen genügt die Berufungsbegründung der Klägerin.
Sie setzt sich mit der Argumentation des Arbeitsgerichts hinreichend auseinan-
der.
a)
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, eine
ergänzende Auslegung des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA komme nicht in Betracht, da
die Tarifnorm einen Regelungsspielraum eröffne, den nicht die Gerichte für Ar-
beitssachen, sondern nur die Tarifvertragsparteien zu nutzen befugt seien. Im
Übrigen benachteilige die Tarifbestimmung schwerbehinderte Arbeitnehmer we-
der unmittelbar noch mittelbar. Es fehle an einer Vergleichsgruppe, deren Mit-
glieder - wie die Klägerin - eine vorgezogene Altersrente aufgrund einer Schwer-
behinderung in Anspruch nehmen könne.
b)
Die Klägerin hat ihrer Begründungsobliegenheit genügt, indem sie diese
Argumentation unter zwei Gesichtspunkten angegriffen hat. Zum einen hat sie
ausgeführt, der seitens des Arbeitsgerichts angenommene Regelungsspielraum
finde seine Grenze in zwingendem Gesetzesrecht, zu dem nicht zuletzt die Re-
gelungen des AGG gehörten. Zum anderen hat sie geltend gemacht, sie sei mit
nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern vergleichbar, die zum frühestmöglichen
Zeitpunkt Altersrente in Anspruch nähmen. Das genügt.
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II.
Die Revision der Klägerin hat Erfolg, weil die Klage mit der gegebenen
Begründung nicht abgewiesen werden durfte. Das Landesarbeitsgericht hat an-
genommen, die Tarifnorm des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA sei mangels Regelungs-
lücke einer ergänzenden Auslegung nicht zugänglich. Die Tarifvertragsparteien
hätten einen Anspruch auf Ausgleich von Rentennachteilen, die ein Arbeitnehmer
infolge der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente erleide, ausdrück-
lich an die Voraussetzung geknüpft, dass der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des
Renteneintritts das 63. Lebensjahres vollendet habe. Die Bestimmungen des
AGG führten nicht zu einer ausfüllungsbedürftigen Lücke in der Tarifregelung, da
eine Ungleichbehandlung zu Lasten schwerbehinderter Arbeitnehmer jedenfalls
nach § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG sachlich gerechtfertigt sei. Diese Begründung hält
einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.
1.
Die Klägerin macht im Streitfall nicht eine Benachteiligung wegen des
Alters, sondern eine solche wegen ihrer Behinderung geltend. Sie wendet sich
nicht dagegen, dass § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA Ausgleichsansprüche solchen
- auch nicht behinderten - Arbeitnehmern vorbehält, deren Altersteilzeitvereinba-
rung vor der Vollendung des 63. Lebensjahr endet. Als diskriminierend erachtet
sie vielmehr die Verkürzung von Ausgleichsansprüchen, die schwerbehinderten
Arbeitnehmern zustehen, die von der durch das Rentenrecht eingeräumten Be-
fugnis Gebrauch machen, nach § 236a Abs. 1 Satz 2 SGB VI eine vorgezogene
Rente wegen Alters in Anspruch zu nehmen. Diese Ungleichbehandlung von
schwerbehinderten und anderen Arbeitnehmern kann ihre Rechtfertigung nicht in
der Vorschrift des § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG finden, die allein zur Rechtfertigung
einer Ungleichbehandlung wegen des Alters herangezogen werden kann.
2.
Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts ist die Tarifbestim-
mung des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, soweit sie
dazu führt, dass schwerbehinderten Arbeitnehmern, die eine vorgezogene Alters-
rente in Anspruch nehmen und hierdurch Rentennachteile erleiden, kein An-
spruch auf Ausgleichszahlungen zusteht. Die Tarifnorm benachteiligt in diesen
Fällen schwerbehinderte Arbeitnehmer mittelbar wegen ihrer Behinderung ge-
genüber anderen Arbeitnehmern.
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a)
Nach § 7 Abs. 2 AGG sind Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen
das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG verstoßen, unwirksam. Die Be-
stimmung in § 7 Abs. 1 Halbs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des AGG
eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen
einer Behinderung. Im Hinblick auf schwerbehinderte Beschäftigte enthielt zu-
dem § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden
Fassung
,
ein an den Arbeitgeber gerichtetes Benachteiligungsverbot. Im Einzelnen galten
hierzu die Regelungen des AGG
. Der Anwen-
dungsbereich des Benachteiligungsverbots des § 7 Abs. 1 AGG erstreckt sich
gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG auf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen ein-
schließlich des in kollektivrechtlichen Vereinbarungen geregelten Arbeitsentgelts.
b)
§ 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA macht den Anspruch auf Ausgleichszahlungen
bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente von der Vollendung des
63. Lebensjahres abhängig. Damit benachteiligt sie schwerbehinderte Arbeitneh-
mer der Jahrgänge 1952 bis 1963, die - wie die Klägerin - eine vorzeitige Rente
vor der Vollendung des 63. Lebensjahres beziehen, mittelbar wegen deren Be-
hinderung.
aa)
Unzulässig sind neben unmittelbaren auch mittelbare Benachteiligungen
behinderter Arbeitnehmer. Nach § 3 Abs. 2 AGG liegt eine mittelbare Benachtei-
ligung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien
oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegen-
über anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei
denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein
rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung die-
ses Ziels angemessen und erforderlich. Das Verbot der mittelbaren Benachteili-
gung ist eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes und
setzt daher voraus, dass die benachteiligten und die begünstigten Personen mit-
einander vergleichbar sind
.
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bb)
Die Voraussetzungen einer mittelbaren Benachteiligung wegen der Be-
hinderung sind vorliegend erfüllt. Die tarifliche Regelung des § 2 Abs. 9 Satz 1
ATzA führt dazu, dass diese Arbeitnehmer - anders als nicht schwerbehinderte
Arbeitnehmer - keine Ausgleichszahlung erhalten, obwohl sie wie jene zum frü-
hestmöglichen Zeitpunkt vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen.
(1)
Bei den Ausgleichszahlungen gemäß § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA handelt es
sich um Arbeitsentgelt iSd. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG.
(a)
Der Begriff des Arbeitsentgelts umfasst insbesondere alle gegenwärtigen
oder künftigen in bar gewährten Vergütungen, vorausgesetzt, dass der Arbeitge-
ber sie dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Arbeitsverhältnis-
ses gewährt, sei es aufgrund eines Arbeitsvertrags, aufgrund von Rechtsvor-
schriften oder freiwillig
. Zu den Rechtsvorschriften im genannten Sinne
zählen ua. Tarifverträge
.
(b)
Nach § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA haben Arbeitnehmer, die die dort genann-
ten Voraussetzungen erfüllen, Anspruch auf einen wirtschaftlichen Ausgleich, der
dazu führt, dass der Rentenabschlag, den sie nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
Buchst. a SGB VI beim vorzeitigen Eintritt in die Altersrente erhalten, zur Hälfe
ausgeglichen wird, soweit der in § 2 Abs. 9 Satz 2 ATzA bestimmte Höchstbetrag
nicht überschritten wird.
(2)
Schwerbehinderte Arbeitnehmer, die nach dem Ausscheiden aus einem
Altersteilzeitarbeitsverhältnis vor der Vollendung des 63. Lebensjahres eine vor-
gezogene Altersrente in Anspruch nehmen, und nicht schwerbehinderte Arbeit-
nehmer, die vor dem Erreichen der für sie geltenden Regelaltersgrenze vorgezo-
gene Rente beziehen, befinden sich in einer vergleichbaren Situation. Mit der
Schaffung der Tarifvorschrift des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA verfolgten die Tarifver-
tragsparteien den Zweck, Rentenabschläge, die mit der Inanspruchnahme einer
vorgezogenen Altersrente einhergehen, durch Ausgleichszahlungen abzumil-
dern. Findet das Altersteilzeitarbeitsverhältnis nicht mit dem Zeitpunkt sein Ende,
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in dem der Arbeitnehmer Anspruch auf die Regelaltersrente
hat
, sondern endet zu einem davorliegenden Zeitpunkt, können so-
wohl nicht schwerbehinderte als auch schwerbehinderte Beschäftigte - wie die
Klägerin - vorgezogene Altersrente unter den in den §§ 236 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2
und § 236a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 SGB VI genannten Voraussetzungen in An-
spruch nehmen. In diesem Fall liegt der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat
0,003 niedriger als 1,0
. Die relative
Rentenminderung ist wie das Interesse, diesen Nachteil auszugleichen, für diese
so hoch wie für jene.
(3)
Unter Berücksichtigung der rentenrechtlichen Anspruchsvoraussetzun-
gen zum Bezug einer vorgezogenen Altersrente führt § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA zu
einer finanziellen Schlechterstellung der schwerbehinderten Arbeitnehmer der
Jahrgänge 1952 bis 1963 gegenüber anderen Arbeitnehmern, wenn diese wie
jene vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen.
(a)
Während schwerbehinderte Arbeitnehmer bestimmter Jahrgänge vorge-
zogene Altersrente mit Vollendung des 60. Lebensjahres beanspruchen können
, ist dies bei nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern, die eine War-
tezeit von 35 Jahren erfüllt haben, frühestens mit Vollendung des 63. Lebensjah-
res möglich
. Mit diesen Vorgaben korrelieren die
für schwerbehinderte und nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer geltenden unter-
schiedlichen Regelaltersgrenzen. Während die Regelaltersgrenze für schwerbe-
hinderte Arbeitnehmer bestimmter Jahrgänge unter den in § 236a Abs. 1 Satz 1
SGB VI genannten Voraussetzungen bei 63 Jahren liegt
, haben nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer gemäß § 235 Abs. 1
Satz 2 SGB VI erst frühestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch
auf eine abschlagsfreie Rente
. Im Ergebnis
führt dies dazu, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer bestimmter Jahrgänge, die
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vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen, anders als nicht schwerbehin-
derte Arbeitnehmer von den tariflichen Ausgleichsansprüchen ausgeschlossen
sind. Denn nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer haben frühestens Anspruch auf
vorgezogene Altersrente, wenn sie das 63. Lebensjahr vollendet haben. Zu die-
sem Zeitpunkt erhalten sie, sofern sie die übrigen Voraussetzungen des § 2
Abs. 9 Satz 1 ATzA erfüllen - anders als schwerbehinderte Arbeitnehmer -, die
zu diesem Zeitpunkt bereits Anspruch auf eine ungekürzte Altersrente haben,
einen hälftigen Ausgleich ihrer Rentennachteile.
(b)
Rechtlich ist es unerheblich, dass es den schwerbehinderten Arbeitneh-
mern der Jahrgänge 1952 bis 1963 freisteht, ein ihnen seitens des Arbeitgebers
angetragenes Altersteilzeitarbeitsverhältnis abzulehnen, das zu einem Zeitpunkt
endet, zu dem sie zwar eine vorgezogene Altersrente beziehen können, aber das
63. Lebensjahres noch nicht vollendet haben. Denn die Ungleichbehandlung be-
steht bereits darin, dass § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA ihnen - anders als nichtbehin-
derten Beschäftigten - die rechtliche Option vorenthält, aus dem Altersteilzeitar-
beitsverhältnis auszuscheiden und ihre Rentenverluste durch die Inanspruch-
nahme tariflicher Ausgleichszahlungen zu mindern.
(4)
Für die dargelegte Ungleichbehandlung schwerbehinderter und anderer
Arbeitnehmer bestehen keine sachlichen Gründe. Soweit die Beklagten darauf
verweisen, die geringere Ausgleichszahlung, die schwerbehinderte Arbeitnehmer
wie die Klägerin erhalten, werde durch rentenrechtliche Vorteile kompensiert, die
ua. darin bestünden, dass sie ab einem Alter, das drei Jahre niedriger sei als bei
nichtbehinderten Arbeitnehmern, eine Altersrente in Anspruch nehmen könnten,
so vermag dieser Umstand eine unterschiedliche Behandlung nicht zu rechtferti-
gen. Zum einen liegt eine Diskriminierung wegen der Behinderung vor, wenn die
streitige Maßnahme nicht durch objektive Faktoren, die nichts mit dieser Diskri-
minierung zu tun haben, gerechtfertigt ist. Zum anderen liefe diese Argumenta-
tion darauf hinaus, das gesetzgeberische Ziel zu konterkarieren, schwerbehin-
derten Arbeitnehmern einen rentenrechtlichen Vorteil gegenüber anderen Arbeit-
nehmer einzuräumen, um auf diesem Wege den Schwierigkeiten und besonde-
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ren Risiken Rechnung zu tragen, mit denen schwerbehinderte Arbeitnehmer kon-
frontiert sind
.
III.
Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif
. Auf der
Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts und des zwischen den
Parteien unstreitigen Sachverhalts vermag der Senat nicht zu beurteilen, ob und
gegebenenfalls in welcher Höhe der Klägerin ein Anspruch auf Ausgleichszah-
lungen gegen die Beklagten zusteht.
1.
Das Landesarbeitsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus kon-
sequent - nicht geprüft, ob die seitens der Klägerin beanstandete Tarifvorschrift
des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA auf das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der Parteien
anzuwenden ist. Das Landesarbeitsgericht wird die erforderlichen tatsächlichen
Feststellungen nachzuholen und dabei Folgendes zu beachten haben:
a)
Die Vorschriften des ATzA wirken nicht gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3
Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend auf das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der
Parteien. Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin hat nicht vorge-
tragen, dass sie zum Zeitpunkt der Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhält-
nisses Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di und damit ta-
rifgebunden war
.
b)
Es fehlen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zu der Frage, ob § 2
Abs. 9 Satz 1 ATzA aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme auf das Altersteil-
zeitarbeitsverhältnis Anwendung findet.
aa)
Nach § 8 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung gelten die Bestimmungen
des Altersteilzeitabkommens nur „im Übrigen“. Die Bestimmungen des ATzA sol-
len demnach nicht insgesamt gelten, sondern nur maßgebend sein, soweit nicht
der Altersteilzeitvertrag abweichende Regelungen enthält. Eine abweichende
Regelung findet sich in § 6 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung, der zufolge
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„Kompensationsleistungen für … entstehende Nachteile … nicht erbracht“ wer-
den.
bb)
Diese Bestimmung kann die Anwendung des ATzA allerdings nur aus-
schließen, wenn sie wirksamer Bestandteil der die Parteien verbindenden Alters-
teilzeitvereinbarung geworden ist. Dies setzt ua. eine benachteiligungsfreie Aus-
wahl der Vertragsformulare voraus, die im Unternehmen der Beklagten bei der
Begründung von Altersteilzeitarbeitsverhältnissen zur Anwendung kamen. Eine
§ 1 AGG widersprechende Benachteiligung von schwerbehinderten Arbeitneh-
mern käme etwa in Betracht, wenn die Beklagten ihre Entscheidung, eine § 6
Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung entsprechende Klausel in die Altersteilzeit-
verträge aufzunehmen, an der benachteiligenden Tarifnorm des § 2 Abs. 9
Satz 1 ATzA orientiert hätten. Nachdem weder das Landesarbeitsgericht noch
die Parteien bislang diesen Gesichtspunkt in den Blick genommen haben, gebie-
ten der Anspruch auf rechtliches Gehör und der Grundsatz der Gewährleistung
eines fairen Verfahrens
, den Parteien im Rah-
men des fortgesetzten Berufungsverfahrens Gelegenheit zu geben, hierzu ergän-
zend vorzutragen.
2.
Sollte die arbeitsvertragliche Bestimmung des § 6 Abs. 2 der Altersteil-
zeitvereinbarung unwirksam sein, hätte die Klägerin, die die sonstigen in § 2
Abs. 9 Satz 1 ATzA genannten Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, einen An-
spruch auf Gleichbehandlung mit den Arbeitnehmern, die aufgrund der tariflichen
Regelung einen wirtschaftlichen Ausgleich für Rentennachteile erhalten, die
ihnen durch die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente entstehen.
a)
Zwar ist eine gegen das Benachteiligungsverbot nach § 7 Abs. 1 AGG
verstoßende Regelung gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Dies gilt auch für Ta-
rifverträge
. Die
Unwirksamkeit bewirkt aber, dass den benachteiligten Arbeitnehmern für die Ver-
gangenheit ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist
. Den
Angehörigen der mittelbar benachteiligten Gruppe sind dabei dieselben Vorteile
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zu gewähren wie den nicht benachteiligten Arbeitnehmern. Kann der Arbeitge-
ber - wie im Streitfall die Beklagten - den Begünstigten die gewährten Leistungen
nicht mehr entziehen, ist eine solche zur Beseitigung der Diskriminierung erfor-
derliche „Anpassung nach oben“ selbst dann gerechtfertigt, wenn sie zu erhebli-
chen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers führt
.
b)
Die in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich verbürgte Tarifautonomie steht
dem nicht entgegen.
aa)
Grundsätzlich ist es Aufgabe der Tarifvertragsparteien, eine benachteili-
gungsfreie Regelung zu treffen, wofür ihnen verschiedene Möglichkeiten zur Ver-
fügung stehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union sind aber für den Fall, dass gesetzliche oder tarifliche Regelungen eine mit
der Richtlinie unvereinbare Diskriminierung vorsehen, die nationalen Gerichte
gehalten, die Diskriminierung auf jede denkbare Weise und insbesondere
dadurch auszuschließen, dass sie die Regelung für die nicht benachteiligte
Gruppe auch auf die benachteiligte Gruppe anwenden, ohne die Beseitigung der
Diskriminierung durch den Gesetzgeber, die Tarifvertragsparteien oder in ande-
rer Weise abzuwarten
. Der Gerichtshof der Europäischen Union
hat zudem darauf hingewiesen, dass die Wahrung des Grundsatzes der Gleich-
behandlung, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt worden
ist und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung
erlassen worden sind, nur dadurch gewährleistet werden kann, dass den Ange-
hörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie die,
die den Angehörigen der privilegierten Gruppe zugutekommen, wobei diese Re-
gelung, solange das Unionsrecht nicht richtig durchgeführt ist, das einzig gültige
Bezugssystem bleibt
.
bb)
Das gültige Bezugssystem ist vorliegend die Tarifbestimmung des § 2
Abs. 9 Satz 1 ATzA, die Ausgleichsansprüche daran knüpft, das Arbeitnehmer
„mit Vollendung des 63. Lebensjahres“ einen Rentenabschlag erhalten. Diesen
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Arbeitnehmern sind schwerbehinderte Arbeitnehmer wie die Klägerin gleichzu-
stellen, die gemäß § 236a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB VI eine
vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen. Auch unter Berücksichtigung von
Art. 9 Abs.
3 GG kommt bei solchen nur eine Anpassung „nach oben“ in Betracht.
Die Benachteiligung der Klägerin kann, da sie in der Vergangenheit liegt, nicht
auf andere Weise ausgeschlossen werden. Der von §§ 1, 7 AGG bzw. Art. 6 der
Richtlinie 2000/78/EG verfolgte Zweck, Benachteiligungen zu verhindern
oder zu beseitigen, würde ansonsten nicht erreicht
.
c)
Die konkreten Ausgleichsansprüche sind - die Anwendbarkeit des § 2
Abs. 9 Satz 1 ATzA unterstellt - anhand von Pauschalbeträgen zu berechnen. In
diesem Zusammenhang wird das Landesarbeitsgericht zu prüfen haben, ob der
der Klägerin zustehende Ausgleich anhand der Regelungen des SozPl Dir oder
der Bestimmungen des SozPl ZD zu bestimmen ist.
aa)
Gemäß Nr. 3.1 Abs. b Unterabs. (2) Satz 1 der Anlage B zu Teil B
Ziff. VIII Absätze (2) und (3) SozPl ZD erhält ein Arbeitnehmer, der die Voraus-
setzungen des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA erfüllt, pro 0,3 Prozentpunkte Minderung
der gesetzlichen Altersrente - begrenzt auf maximal die Hälfte des prozentualen
Rentenabschlags der gesetzlichen Altersrente - pauschal 720,00 Euro brutto als
einmalige Ausgleichszahlung. Die Anwendbarkeit dieser Regelung auf das Al-
tersteilzeitarbeitsverhältnis der Parteien hängt ua. davon ab, ob die Klägerin zu
den Arbeitnehmern gehört, denen Ansprüche nach dem Interessenausgleich
vom 9.
November 2012 und nach der „Vereinbarung Eckpunkte zum Projekt Be-
triebsübergang Zentrale Dienste
“ vom 23. Oktober 2012 zustehen
und in den sachlichen Geltungsbereich des SozPl ZD fallen
.
bb)
Sollte § 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung unwirksam sein und die
Klägerin nicht unter die Regelungen des SozPl ZD fallen, wäre der Ausgleich
gemäß § 8 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung nach den Bestimmungen des
SozPl Dir zu berechnen. Gemäß Nr. 3.1 Abs. 2 Unterabs. b Satz 1 der Anlage C
zu Ziffer IV Absatz (2) SozPl Dir erfolgt der Ausgleich, auf den ein Arbeitnehmer
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nach § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA Anspruch hat, im Wege einer einmaligen Bruttozah-
lung iHv. 640,00 Euro pro 0,3 % Minderung der gesetzlichen Altersrente, wobei
der Prozentsatz auf maximal die Hälfte des prozentualen Rentenabschlags der
gesetzlichen Altersrente beschränkt ist.
Kiel
Weber
Suckow
Neumann-Redlin
Lücke