Urteil des BAG vom 07.07.2020

Vorabentscheidungsersuchen - Übertragung/Verfall des Urlaubsanspruchs - volle Erwerbsminderung - Mitwirkungsobliegenheiten

Bundesarbeitsgericht
Vorlagebeschluss (EuGH) vom 7. Juli 2020
Neunter Senat
- 9 AZR 245/19 (A) -
ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR245.19A.0
I. Arbeitsgericht Frankfurt am Main
Urteil vom 13. Dezember 2016
- 3 Ca 8481/15 -
II. Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 7. März 2019
- 9 Sa 145/17 -
Entscheidungsstichworte:
Vorabentscheidungsersuchen - Urlaub - volle Erwerbsminderung - Mitwir-
kungsobliegenheiten
ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR245.19A.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZR 245/19 (A)
9 Sa 145/17
Hessisches
Landesarbeitsgericht
Verkündet am
7. Juli 2020
BESCHLUSS
Brüne, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
7. Juli 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Dr. Kiel,
die
Richter
am
Bundesarbeitsgericht
Dr. Suckow
und
Zimmermann sowie den ehrenamtlichen Richter Müller und die ehrenamtliche
Richterin Lipphaus beschlossen:
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9 AZR 245/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR245.19A.0
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I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach
Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende
Fragen ersucht:
1. Stehen Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Par-
laments und des Rates vom 4. November 2003 über
bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und
Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union der Auslegung einer nationalen
Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen, der zufolge
der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jah-
resurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf
des Urlaubsjahres aus gesundheitlichen Gründen
eine volle Erwerbsminderung eintritt, der den Urlaub
aber vor Beginn seiner Erwerbsminderung im Ur-
laubsjahr - zumindest teilweise - noch hätte nehmen
können, bei ununterbrochen fortbestehender Er-
werbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubs-
jahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitge-
ber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Auf-
forderung und Hinweise tatsächlich in die Lage ver-
setzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?
2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird: Ist unter diesen
Voraussetzungen bei fortbestehender voller Erwerbs-
minderung auch ein Verfall zu einem späteren Zeit-
punkt ausgeschlossen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vor-
abentscheidungsverfahren ausgesetzt.
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7
Abs. 1 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtli-
nie 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union (Charta).
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9 AZR 245/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR245.19A.0
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A.
Gegenstand des Ausgangsverfahrens
Die Parteien streiten über das Bestehen von Urlaubsansprüchen des
Klägers aus dem Jahr 2010, 2011 und 2014. Für das vorliegende Vorabentschei-
dungsverfahren ist lediglich der Urlaub aus dem Jahr 2014 von Bedeutung. Hin-
sichtlich der Urlaubsansprüche aus den Jahren 2010 und 2011 wird die Revision
bereits deshalb zurückzuweisen sein, weil die Berufung des Klägers insoweit
mangels einer den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Begründung un-
zulässig war und deshalb unionsrechtliche Fragestellungen insoweit nicht ent-
scheidungserheblich sind.
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist seit dem Jahr
2000 als Frachtfahrer bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. Dezember 2014
bezieht er Rente wegen voller Erwerbsminderung, die zuletzt bis August 2019
verlängert wurde. Er hat - soweit für das Vorabentscheidungsverfahren von Re-
levanz - geltend gemacht, ihm stünden gegen die Beklagte noch 34 Arbeitstage
Urlaub aus dem Jahr 2014 zu. Diese Ansprüche seien nicht verfallen, weil die
Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von
Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei. Die Beklagte hat demgegenüber
die Auffassung vertreten, der im Jahr 2014 nicht genommene Urlaub des Klägers
sei mit Ablauf des 31. März 2016 erloschen. Sei ein Arbeitnehmer - wie vorlie-
gend der Kläger aufgrund der vollen Erwerbsminderung - aus gesundheitlichen
Gründen langandauernd außerstande, seinen Urlaub anzutreten, trete der Verfall
15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres unabhängig von der Erfüllung der Mit-
wirkungsobliegenheiten ein.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt
der Kläger sein Klageziel weiter.
B.
Das einschlägige nationale Recht
Im Bundesurlaubsgesetz, das auf das Arbeitsverhältnis der Parteien An-
wendung findet, heißt es ua.:
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§ 7
Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs
(1) Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Ur-
laubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen,
es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende
betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer
Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten
den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub
ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im An-
schluss an eine Maßnahme der medizinischen Vor-
sorge oder Rehabilitation verlangt.
(2) Der Urlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es
sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Per-
son des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung
des Urlaubs erforderlich machen. Kann der Urlaub
aus diesen Gründen nicht zusammenhängend ge-
währt werden, und hat der Arbeitnehmer Anspruch auf
Urlaub von mehr als zwölf Werktagen, so muss einer
der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfol-
gende Werktage umfassen.
(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt
und genommen werden. Eine Übertragung des Ur-
laubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft,
wenn dringende betriebliche oder in der Person des
Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im
Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten
drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt
und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeit-
nehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entste-
hender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalender-
jahr zu übertragen.
(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt
werden, so ist er abzugelten.“
Im Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversiche-
rung - (SGB VI) heißt es auszugsweise:
§ 43 Rente wegen Erwerbsminderung
(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelalters-
grenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsmin-
derung, wenn sie
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1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Er-
werbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für
eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit
haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allge-
meine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen
Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit
außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen
des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei
Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsge-
mindert sind auch
1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art
oder Schwere der Behinderung nicht auf dem all-
gemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allge-
meinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren,
in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliede-
rung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
C.
Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
Die Richtlinie 2003/88/EG lautet auszugsweise:
Artikel 7
Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnah-
men, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindest-
jahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedin-
gungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung er-
hält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/
oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgese-
hen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Been-
digung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle
Vergütung ersetzt werden.“
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es ua.:
Artikel 31
Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
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(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das
Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf
tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf be-
zahlten Jahresurlaub.“
D.
Nationale Rechtsprechung
I.
Der gesetzliche Mindesturlaub entsteht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG für
das Kalenderjahr als Urlaubsjahr und muss nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im lau-
fenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Ur-
laubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft,
wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende
Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7
Abs. 3 Satz 3 BUrlG grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Ka-
lenderjahrs gewährt und genommen werden; andernfalls erlischt er nach § 7
Abs. 3 Satz 3 BUrlG. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Bestimmungen unter
Beachtung der Entscheidungen des Gerichtshofs unter zwei Aspekten richtlinien-
konform ausgelegt:
1.
Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November
2018
zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta hat
das Bundesarbeitsgericht erkannt, dass bei einer mit Art. 7 der Richtli-
nie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG der Anspruch auf den ge-
setzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres
oder eines zulässigen Übertragungszeitraums
erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitneh-
mer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und
der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
a)
In richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den
Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Be-
fristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus,
dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass
der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu
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nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer - erforderlichenfalls förmlich - auffor-
dern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der
Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn
er ihn nicht beantragt
. Zudem darf der Arbeitgeber, will er seinen Mitwirkungsoblie-
genheiten genügen, den Arbeitnehmer nicht in sonstiger Weise daran hindern,
den Urlaub in Anspruch zu nehmen
.
b)
Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entspro-
chen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem
Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gel-
ten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7
Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneinge-
schränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch
vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurück-
liegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nimmt der Arbeitneh-
mer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Ur-
laubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub
am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums
. Die
Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bezogen sich jeweils auf Sachver-
halte, in denen die Arbeitnehmer nicht voll erwerbsgemindert waren.
2.
Das Bundesarbeitsgericht hat außerdem unter Beachtung der Recht-
sprechung des Gerichtshofs vom 20. Januar 2009
und vom 22. November 2011
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entschieden, dass der gesetz-
liche Urlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer bis zum
Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums krankheitsbedingt
arbeitsunfähig ist und es ihm deshalb nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen.
Der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch tritt in diesem Fall zu dem im Folgejahr
entstandenen Urlaubsanspruch hinzu und ist damit erneut nach § 7 Abs. 3 BUrlG
befristet. Er erlischt allerdings bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate
nach dem Ende des Urlaubsjahres
. Der Senat hat diese Rechtsprechung
auch in Fällen angewendet, in denen der Arbeitnehmer eine Rente wegen Er-
werbsminderung bezogen hat
.
II.
Im Nachgang zur Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018
be-
durfte es bisher noch keiner Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts darüber,
ob und in welchen Fällen Urlaubsansprüche voll erwerbsgeminderter Arbeitneh-
mer bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Ur-
laubsjahres erlöschen
. Mit dem Gerichtshof
geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass ein Erlöschen von Urlaubsan-
sprüchen in Fällen, in denen es dem Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaub
zu nehmen, nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn besondere Umstände
vorliegen, die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen
. Solche be-
sonderen Umstände bestehen nach der Rechtsprechung des Senats grundsätz-
lich nicht, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu neh-
men, weil der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten
nicht nachgekommen ist
, oder weil er den Arbeitnehmer in sonstiger Weise daran gehin-
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dert hat,
seinen Urlaubsanspruch zu realisieren
. Die vom Senat unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Rechtsgrundsätze zum Ver-
fall von Urlaubsansprüchen bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers sind
jedoch in Fällen der vollen Erwerbsminderung von Arbeitnehmern weiter aufei-
nander abzustimmen. In den folgenden Fallkonstellationen ist - nach dem Ver-
ständnis des Senats - eine mit dem Unionsrecht in Einklang stehende Auslegung
des § 7 Abs. 3 BUrlG möglich, ohne dass es insoweit einer Vorabentscheidung
des Gerichtshofs bedarf.
1.
Hat der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig erfüllt,
ist § 7 Abs. 3 BUrlG unverändert richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der
gesetzliche Urlaubsanspruch eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubsjah-
res arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei ununterbrochen fortbestehen-
der Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt. Besteht
die Arbeitsunfähigkeit bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgen-
den Jahres fort, liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des Urlaubs-
anspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses des Arbeitgebers vor
dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen, obwohl es
dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsanspruch zu ver-
wirklichen. Dies ist durch das Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juni 2020
geklärt
.
2.
Hat der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten
nicht erfüllt und war es dem Arbeitnehmer bis zum 31. März des zweiten auf das
Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres allein aufgrund durchgehend bestehender
krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht möglich, den Urlaub zu nehmen, ist
§ 7 Abs. 3 BUrlG richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der Anspruch des
Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Dies betrifft den Urlaub für
Urlaubsjahre, in denen der Arbeitnehmer durchgehend arbeitsunfähig krank war
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und deshalb - unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und
Hinweisobliegenheiten erfüllt hat - überhaupt keinen Urlaub nehmen konnte.
Auch in diesem Fall ist von besonderen Umständen auszugehen, die den Verfall
des Urlaubsanspruchs rechtfertigen.
a)
Allerdings bestehen - anders als von den Vorinstanzen im vorliegenden
Rechtsstreit angenommen - die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des
Arbeitgebers regelmäßig auch, wenn und solange der Arbeitnehmer arbeitsunfä-
hig ist. Sie können ihren Zweck erfüllen, weil sich die Dauer der Erkrankung nicht
von vornherein absehen lässt.
aa)
Dem Arbeitgeber ist es möglich, den voll erwerbsgeminderten Arbeitneh-
mer entsprechend den gesetzlichen Vorgaben
rechtzeitig und zutreffend über den
Umfang und die Befristung des Urlaubsanspruchs unter Berücksichtigung des
bei einer langandauernden Erkrankung geltenden Übertragungszeitraums zu un-
terrichten. Der Arbeitgeber ist nicht gehindert, den Arbeitnehmer rechtzeitig auf-
zufordern, den Urlaub bei Wiedererlangung seiner Erwerbsfähigkeit vor Ablauf
des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls
so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres oder
des Übertragungszeitraums gewährt und genommen werden kann.
bb)
Die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers sind auch nicht ent-
behrlich. Das Bundesurlaubsgesetz ermöglicht es dem Arbeitnehmer mit den Re-
gelungen in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 BUrlG, durch seine Urlaubswünsche, die sich
auf das gesamte Urlaubsjahr bzw. ggf. den zulässigen Übertragungszeitraum be-
ziehen können, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig
gestaffelt und geplant werden können
. Die rechtzeitige Erfüllung
der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten stellt sicher, dass der Arbeitneh-
mer die durch das Bundesurlaubsgesetz mit § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG intendierte
Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich des Zeitraums der Inanspruchnahme des Ur-
laubs nutzen und ab dem ersten Arbeitstag nach Wiedererlangung seiner Er-
werbsfähigkeit Urlaub in Anspruch nehmen kann, sofern der Arbeitgeber nicht
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berechtigt ist, die Gewährung von Urlaub nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BUrlG
abzulehnen.
b)
Jedoch ist die Befristung des Urlaubsanspruchs bei einem richtlinienkon-
formen Verständnis des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht von der Erfüllung der Aufforde-
rungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es - was erst im Nachhinein
feststellbar ist - objektiv unmöglich gewesen wäre, den Arbeitnehmer durch Mit-
wirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu re-
alisieren.
aa)
Der Zweck der aus § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG abgeleiteten Obliegenheiten,
zu verhindern, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch verliert, weil er ihn
in Unkenntnis der Befristung und des damit einhergehenden Risikos des Erlö-
schens nicht rechtzeitig gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht
, bestimmt nicht nur
den Inhalt der rechtlich gebotenen Aufforderungen und Hinweise
, sondern ist auch auf der
Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen.
(1)
Regelmäßig ist dem Arbeitgeber die Berufung auf die Befristung und das
Erlöschen des Urlaubsanspruchs versagt, wenn er seine Aufforderungs- und Hin-
weisobliegenheiten nicht erfüllt hat, denn ein verständiger Arbeitnehmer hätte bei
gebotener Aufforderung und Unterrichtung seinen Urlaub typischerweise recht-
zeitig vor dem Verfall beantragt
.
(2)
Anders verhält es sich, wenn auch bei Erfüllung der Aufforderungs- und
Hinweisobliegenheiten deren Zweck nicht hätte erreicht werden können, es dem
Arbeitnehmer zu ermöglichen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber
zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt
. Unter diesen Umständen ist es
dem Arbeitgeber, der seinen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist, nicht ver-
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wehrt, sich auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs zu beru-
fen. War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum
31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres voll erwerbs-
gemindert oder trat die bis zu diesem Zeitpunkt fortbestehende volle Erwerbs-
minderung im Verlauf des Urlaubsjahres ein, ohne dass dem Arbeitnehmer vor
deren Beginn (weiterer) Urlaub hätte gewährt werden können, sind nicht Hand-
lungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die volle Erwerbs-
minderung des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal. Der Urlaubs-
anspruch ist auf eine bezahlte Befreiung von der Arbeitspflicht gerichtet
. Kann der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeits-
leistung aufgrund einer vollen Erwerbsminderung nicht erbringen, wird ihm die
Arbeitsleistung unmöglich. Er wird nach § 275 Abs. 1 BGB von der Pflicht zur
Arbeitsleistung frei. Eine Befreiung von der Arbeitspflicht durch Urlaubsgewäh-
rung ist deshalb rechtlich unmöglich
.
bb)
Dieses Ergebnis steht nach Überzeugung des Senats im Einklang mit
der durch den Gerichtshof gefundenen Auslegung des Unionsrechts. Die gemäß
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta bestehende Ob-
liegenheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer ua. erforderlichenfalls mittels ent-
sprechender Aufforderungen und Hinweise in die Lage zu versetzen, den Urlaub
wahrzunehmen
, dient nach Feststellung des
Gerichtshofs der Vermeidung einer Situation, in der die Aufgabe, für die tatsäch-
liche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, voll-
ständig auf den Arbeitnehmer verlagert würde, während der Arbeitgeber die Mög-
lichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeit-
nehmers seinen eigenen Pflichten zu entziehen
. Ein Arbeitnehmer, der während des Bezugs- und/oder Übertragungs-
zeitraums krankheitsbedingt voll erwerbsgemindert ist, kann seinen Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben
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. Eine
freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs ist - ohne dass es auf
die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers ankäme - von vornherein
ausgeschlossen, weil die volle Erwerbsminderung auf psychischen oder physi-
schen Beschwerden beruht und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist
.
E.
Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Euro-
päischen Union und Erläuterung der Vorlagefragen
Für die Entscheidung des Rechtstreits, soweit er den Urlaub aus dem
Jahr 2014 betrifft, bedarf es einer Klärung durch den Gerichtshof, ob das Unions-
recht den Verfall des Urlaubsanspruchs bei ununterbrochen fortbestehender vol-
ler Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. einer
längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs-
und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat und der Arbeitnehmer den Urlaub im
Urlaubsjahr bis zum Eintritt der vollen Erwerbsminderung zumindest noch teil-
weise hätte nehmen können. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste
Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996 ist das Unionsrecht bei
der Auslegung und Anwendung des § 7 Abs. 3 BUrlG zu berücksichtigen
. Für das Verständnis der Bestimmung kommt es daher
auf die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie von Art. 31 Abs. 2
der Charta an. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof
anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung
des Unionsrechts zugewiesen ist.
I.
Erläuterung der ersten Vorlagefrage
1.
Nach Erkenntnis des Gerichtshofs ist Art. 7 Abs. 1 der Richtli-
nie 2003/88/EG dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften
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oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während
mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche
auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen
Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der An-
spruch auf bezahlten Urlaub erlischt
. Ein Zeitraum von 15 Monaten, in dem die
Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub möglich ist, entspricht
nach der Feststellung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung der schutzwürdi-
gen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Anforderungen der Richt-
linie 2003/88/EG und läuft dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresur-
laub nicht zuwider, weil er dessen positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Er-
holungszeit gewährleistet
.
a)
Gestattete es das Unionsrecht, diese Grundsätze auch im Fall einer im
Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden vollen Erwerbsminderung anzuwenden,
obwohl der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht
durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt
hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben und der Urlaub vor der Arbeitsunfähig-
keit infolge voller Erwerbsminderung im Urlaubsjahr - zumindest teilweise - noch
hätte genommen werden können, wäre die Revision des Klägers in vollem Um-
fang unbegründet. Sein Urlaubsanspruch für das Jahr 2014 wäre gemäß § 7
Abs. 3 Satz 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des 31. März 2016 erloschen
.
b)
Demgegenüber wäre die Revision des Klägers hinsichtlich des Urlaubs-
anspruchs für das Jahr 2014 begründet, wenn das Unionsrecht unter den ge-
nannten Umständen bei unterlassenen Aufforderungen und Hinweisen des Ar-
beitgebers eine Auslegung von § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nicht zuließe, der zufolge
der aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllbare gesetzliche Urlaubsanspruch
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bei fortdauernder vollen Erwerbsminderung des Arbeitnehmers mit Ablauf eines
Übertragungszeitraums von 15 Monaten untergeht, es sei denn, der Urlaubsan-
spruch wäre zu einem späteren Zeitpunkt erloschen (vgl. dazu die zweite Vorla-
gefrage).
2.
Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bislang - soweit ersicht-
lich - nicht zweifelsfrei geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen der An-
spruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf des
Urlaubsjahres eine volle Erwerbsminderung eintritt, bei seither ununterbrochen
fortbestehender voller Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubs-
jahres erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinwei-
sobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Für diesen Fall stellt sich mit Blick - ei-
nerseits - auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 22. November 2011
und - andererseits - ua. die Entscheidung des Gerichtshofs vom
6. November 2018
die Frage, ob mit Rücksicht auf den Erholungszweck des Ur-
laubs der Grundsatz, dass das Erlöschen des Anspruchs von der Erfüllung der
Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängt, nur eingeschränkt gilt.
a)
Ausgangspunkt ist die Entscheidung des Gerichtshof vom 6. November
2018
, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einer
nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der im Bezugs-
zeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines gemäß diesen Bestimmungen
erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, automatisch,
ohne vorherige Prüfung, ob der Arbeitgeber ihn tatsächlich in die Lage versetzt
hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, am Ende des Bezugszeitraums die ihm für
diesen Zeitraum zustehenden Urlaubstage verliert
.
aa)
In diesem Urteil hat der Gerichtshof betont, dass jede Praxis oder Unter-
lassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den
Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte
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ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR245.19A.0
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Ziel verstößt
. Der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt
hat, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, habe die sich hie-
raus ergebenden Folgen zu tragen
.
bb)
Gölten diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr, in dem die
seither ununterbrochen fortbestehende volle Erwerbsminderung des Arbeitneh-
mers eingetreten ist, träte ein Verfall des Urlaubs auch 15 Monate nach Ablauf
dieses Urlaubsjahres insoweit nicht ein, als der Arbeitnehmer seinen Jahresur-
laub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor
Beginn seiner vollen Erwerbsminderung noch hätte in Anspruch nehmen können.
Der Arbeitgeber hätte bei Unterlassen der gebotenen Aufforderung und Hinweise
das Risiko zu tragen, dass der Urlaubsanspruch nicht vollständig verfällt, auch
wenn der Arbeitnehmer über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr fol-
genden Urlaubsjahres hinaus voll erwerbsgemindert ist. Er könnte dieses Risiko
faktisch nur dann ausschließen, wenn er seinen Obliegenheiten bereits zu Be-
ginn des Kalenderjahres nachkäme. Der Arbeitnehmer hätte unter den genann-
ten Voraussetzungen (nur dann) das Risiko zu tragen, den Urlaubsanspruch we-
gen einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden, unter Umständen langan-
dauernden vollen Erwerbsminderung nicht mehr in vollem Umfang realisieren zu
können, wenn der Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheiten - in diesem Sinne -
rechtzeitig erfüllt und damit die Voraussetzungen der Befristung des Urlaubsan-
spruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG geschaffen hat.
b)
Demgegenüber hat der Gerichtshof mit Urteil vom 22. November 2011
erkannt, dass mit dem in Art. 31 Abs. 2 der Charta und in
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerten Anspruch auf bezahlten Jahresur-
laub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer
zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeits-
vertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum
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für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Ein Recht auf ein unbegrenztes An-
sammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeit-
räumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden,
entspräche nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub
. Dessen positive Wir-
kung für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers verliere zwar nicht
an Bedeutung, wenn der Urlaub zu einer späteren Zeit genommen werde. Der
Urlaub könne seiner Zweckbestimmung jedoch nur insoweit entsprechen, als der
Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreite. Über eine solche
Grenze hinaus fehle dem Jahresurlaub seine positive Wirkung für den Arbeitneh-
mer als Erholungszeit; erhalten bleibe ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeit-
raum für Entspannung und Freizeit
.
aa)
Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat der Gerichtshof festge-
stellt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einzelstaatlichen Rechtsvor-
schriften nicht entgegensteht, die in Fällen der Langzeiterkrankung von Arbeit-
nehmern einen auf 15 Monate begrenzten Übertragungszeitraum vorsehen, nach
dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt
.
bb)
Fänden diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr Anwen-
dung, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende volle Erwerbsminderung
des Arbeitnehmers eingetreten ist, könnte dieser Urlaub 15 Monate nach Ablauf
dieses Urlaubsjahres auch dann verfallen, wenn der Arbeitgeber seinen Auffor-
derungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Vor der vollen Er-
werbsminderung liegende Ansprüche aus dem Urlaubsjahr würden dann erlö-
schen, auch soweit der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Er-
füllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner Erkran-
kung noch hätte in Anspruch nehmen können.
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c)
Die Bewertung, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2
der Charta im Hinblick auf den Erholungszweck des Anspruchs auf bezahlten
Jahresurlaub eine Einschränkung des Grundsatzes, dem zufolge die Befristung
des Urlaubsanspruchs die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten voraussetzt,
zulassen, wenn Arbeitnehmer wegen einer vollen Erwerbsminderung daran ge-
hindert waren, den Urlaub zu nehmen, sie den Urlaubsanspruch aber vor Eintritt
ihrer vollen Erwerbsminderung im Verlauf des Urlaubsjahres bei Erfüllung der
Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten noch hätten realisieren können, hat
der Gerichtshof bisher nicht vorgenommen; die unter Rn. 36 f. genannten Ent-
scheidungen betrafen nicht den Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern, die - wie
der Kläger - über einen langen Zeitraum voll erwerbsgemindert waren. Die mit
den Vorabentscheidungsersuchen gestellte erste Frage ist daher aus Sicht des
Senats bisher durch den Gerichtshof nicht geklärt. Ebenso ist durch den Gerichts-
hof bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2
der Charta einen Zeitpunkt im Urlaubsjahr vorgeben, bis zu dem der Arbeitgeber
spätestens seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nachzukommen
hat, um den Anforderungen an deren „Rechtzeitigkeit“ im Sinne des Unionsrechts
zu genügen, was für die unter Rn. 38 dargestellte und ggf. - unter Beachtung der
Beantwortung des Vorlageersuchens durch den Gerichtshof - vorzunehmende
Risikoverteilung von Bedeutung ist.
3.
Der Senat kann erst nach der Auslegung von Art. 7 der Richt-
linie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof beurteilen,
ob und inwieweit § 7 Abs. 3 BUrlG - unter Berücksichtigung des gesamten inner-
staatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungs-
methoden - so ausgelegt werden kann, dass die volle Wirksamkeit des Unions-
rechts gewährleistet wird, ohne eine Auslegung contra legem zu erfordern
.
Dabei schließt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im deut-
schen Recht - wo dies nötig und möglich ist - das Gebot einer richtlinienkonfor-
men Rechtsfortbildung ein
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.
4.
Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. November 2018
aus-
geführt, dass eine nationale Regelung über den Verfall des Urlaubs nicht anzu-
wenden sei, wenn sie nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und
Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden könne. Das nationale Gericht habe
aber auch dann dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeit-
geber nicht nachweisen könne, dass er ihn tatsächlich in die Lage versetzt habe,
den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen,
seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht verliere
. Stehe dem Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit ein
staatlicher Arbeitgeber gegenüber, ergebe sich dieses Ergebnis aus Art. 7 der
Richtlinie 2003/88/EG und aus Art. 31 Abs. 2 der Charta. Stehe ihm ein privater
Arbeitgeber gegenüber, folge dies aus Art. 31 Abs. 2 der Charta
. Die Beklagte ist eine Aktiengesellschaft (AG),
dh. ein privater Arbeitgeber. Sollte § 7 Abs. 3 BUrlG einer unionsrechtskonfor-
men Auslegung nicht zugänglich sein, was allerdings erst auf der Grundlage der
Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta
durch den Gerichtshof festgestellt werden könnte, stellte sich die Frage, ob § 7
Abs. 3 BUrlG - ggf. teilweise - unangewendet zu lassen wäre.
II.
Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
Sollte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage bejahen, ist es für den
Rechtsstreit entscheidungserheblich, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und
Art. 31 Abs. 2 der Charta unter den in der Frage zu 1. genannten Umständen der
Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen steht, der
zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu einem
späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt, wenn
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die volle Erwerbsminderung - wie bei dem Kläger - über den 31. März des zwei-
ten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres hinaus ununterbrochen fortbesteht.
Auch diese Frage ist bislang - soweit ersichtlich - durch die Entscheidung des
Gerichtshofs vom 6. November 2018
nicht zweifelsfrei geklärt, denn der Gerichtshof
hat in seiner Entscheidung vom 22. November 2011
er-
kannt, dass ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jah-
resurlaub aus mehreren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Ar-
beitsunfähigkeit erworben wurden, nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf be-
zahlten Jahresurlaub entspricht
.
1.
Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November
2018
tritt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der infolge unter-
lassener Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten am 31. Dezember des Ur-
laubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am
1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen
Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG
.
2.
Aus Sicht des Senats ist - bejahte der Gerichtshof die erste Vorlage-
frage - durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nicht geklärt, ob Art. 7
der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta es zuließen, dass der
ggf. wegen unterlassener Aufforderung und Hinweise nicht verfallene Urlaubsan-
spruch aus dem fraglichen Urlaubsjahr - im Streitfall das Urlaubsjahr 2014 - bei
fortbestehender Arbeitsunfähigkeit uneingeschränkt das Schicksal des im ersten
Folgejahr - hier das Urlaubsjahr 2015 - entstehenden Urlaubsanspruchs teilt. Der
Urlaub aus dem ersten Folgejahr wäre unabhängig davon, ob der Arbeitgeber
seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat, nach Ablauf von
15 Monaten verfallen, weil es objektiv unmöglich gewesen wäre, den schon zu
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Beginn des ersten Folgeurlaubsjahres weiterhin durchgehend voll erwerbsgemin-
derten Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu verset-
zen, den Urlaubsanspruch zu realisieren
.
Ließe das Unionsrecht diese zeitliche Begrenzung der Übertragung des An-
spruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu, wäre der Urlaubsanspruch des Klägers
aus dem Jahr 2014 aufgrund fortbestehender voller Erwerbsminderung spätes-
tens 15 Monate nach Ablauf des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres erlo-
schen, dh. am 31. März 2017.
3.
Ebenfalls ungeklärt ist aus Sicht des Senats, ob der Arbeitgeber auch
nach Eintritt der vollen Erwerbsminderung des Arbeitnehmers seine Aufforde-
rungs- und Hinweisobliegenheiten noch erfüllen und so die Befristung des Ur-
laubsanspruchs und dessen Erlöschen zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Mo-
nate nach Ablauf des Urlaubsjahres herbeiführen kann, wenn der Arbeitnehmer
während der gesamten Zeit fortdauernd voll erwerbsgemindert bleibt und deshalb
seinen Urlaubsanspruch nicht realisieren kann.
Kiel
Suckow
Zimmermann
G. Müller
Lipphaus
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