Urteil des BAG vom 03.11.2020

Rechtsweg - Zuständigkeit der Arbeitsgerichte - Darlegungs- und Beweislast

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 3. November 2020
Neunter Senat
- 9 AZB 47/20 -
ECLI:DE:BAG:2020:031120.B.9AZB47.20.0
I. Arbeitsgericht Mannheim
Beschluss vom 7. November 2019
- 8 Ca 148/19 -
II. Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Kammern Freiburg
Beschluss vom 5. Mai 2020
- 22 Ta 28/20 -
Entscheidungsstichworte:
Rechtsweg - Anforderungen an den Klägervortrag in sog. aut-aut-Fällen
ECLI:DE:BAG:2020:031120.B.9AZB47.20.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZB 47/20
22 Ta 28/20
Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
BESCHLUSS
In Sachen
Beklagte, Beschwerdeführerin und Rechtsbeschwerdeführerin,
pp.
Kläger, Beschwerdegegner und Rechtsbeschwerdegegner,
hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts am 3. November 2020 be-
schlossen:
1. Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Be-
schluss des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg
- Kammern Freiburg - vom 5. Mai 2020 - 22 Ta 28/20 -
aufgehoben.
2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Be-
schwerdegericht zurückverwiesen.
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9 AZB 47/20
ECLI:DE:BAG:2020:031120.B.9AZB47.20.0
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Gründe
I.
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung von Provisionen in Anspruch,
die die Beklagte zunächst an den Kläger zur Auszahlung, sodann aber im Wege
der Nachberechnung in Abzug gebracht hat.
Der Kläger vermittelt für die Beklagte Kreditverträge. Der die Parteien
verbindende Vertrag enthält ua. folgende Regelungen:
§ 1 Stellung des Handelsvertreters
Der Handelsvertreter wird mit Wirkung vom 01.06.2011 als
selbständiger Handelsvertreter gemäß §§ 84, 87 Abs. 1
HGB für den Unternehmer tätig. ...
§ 4 Pflichten des Handelsvertreters
...
Der Handelsvertreter wird seinen Aufgaben entsprechend
den Weisungen des Unternehmens intensiv nachkommen.
Bei Weisungen des Unternehmens an den Handelsvertre-
ter ist eine Stellung als selbständiger Gewerbetreibender zu
berücksichtigen.
§ 6 Provision des Handelsvertreters
Der Handelsvertreter erhält für alle getätigten Vermittlungs-
geschäfte Provision ...
§ 7 Fortfall des Provisionsanspruches
Der Anspruch auf Provision entfällt, wenn feststeht, dass
der betreffende Kunde nicht leistet, gezahlte Vorschüsse
sind zurückzuzahlen.
§ 10 Wettbewerbsverbot
Der Handelsvertreter verpflichtet sich, während der Dauer
des Vertragsverhältnisses nicht für ein Unternehmen tätig
zu sein, das mit der Firma in Wettbewerb steht.
§ 13 Gerichtsstand
Gerichtsstand und Erfüllungsort ist das für den Sitz des Un-
ternehmers zuständige Amts- bzw. Landgericht.
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9 AZB 47/20
ECLI:DE:BAG:2020:031120.B.9AZB47.20.0
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Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Rechtsweg zu den Gerich-
ten für Arbeitssachen sei eröffnet, da er Arbeitnehmer der Beklagten sei. Er hat
behauptet, die Vertragspraxis weiche in wesentlichen Punkten von den vertragli-
chen Vorgaben ab. Die Beklagte erteile ihm sowohl in zeitlicher als auch in örtli-
cher und fachlicher Hinsicht Weisungen. So sei er nicht befugt, die Kunden zu
einem von ihm bestimmten Zeitpunkt aufzusuchen. Die Beklagte habe ihn ange-
wiesen, wie er Gespräche mit Kunden zu führen und die Mandate zu bearbeiten
habe. Zu diesem Zweck habe er auf Geheiß der Beklagten an Seminaren und
Schulungen teilnehmen müssen. Die Bürozeiten, binnen deren er für die Be-
klagte tätig sei, gebe ihm die Beklagte vor. Er sei verpflichtet, der Beklagten Zei-
ten einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit anzuzeigen. Die Beklagte habe
ihm Urlaub nach arbeitsrechtlichen Regeln erteilt. Zudem habe die Beklagte ihm
hinsichtlich der Abschlussrate Vorgaben gemacht. Nicht zuletzt die Anweisung
der Beklagten, ihre Visitenkarten, e-mail-Adressen und Signaturkarten zu nutzen,
belege seine Eingliederung in den Betrieb der Beklagten.
Der Kläger hat den Antrag angekündigt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.096,79 Euro
brutto mit Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten
über dem Basiszinssatz seit dem 4. Februar 2018 zu
bezahlen,
2.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.797,72 Euro
brutto mit Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten
über dem Basiszinssatz seit dem 4. März 2018 zu be-
zahlen,
3.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.964,62 Euro
brutto mit Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten
über dem Basiszinssatz seit dem 4. April 2018 zu be-
zahlen,
4.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.186,80 Euro
brutto mit Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten
über dem Basiszinssatz seit dem 4. Mai 2018 zu be-
zahlen,
5.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.779,35 Euro
brutto mit Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten
über dem Basiszinssatz seit dem 4. Juni 2018 zu be-
zahlen,
und
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6.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.810,96 Euro
brutto mit Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten
über dem Basiszinssatz seit dem 4. Juli 2018 zu be-
zahlen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Rechtsstreit falle in die
Entscheidungszuständigkeit der ordentlichen Gerichte. Sie hat behauptet, der
Kläger erbringe die von ihm geschuldeten Leistungen nicht als Arbeitnehmer,
sondern als nicht weisungsgebundener Handelsvertreter. Er könne jederzeit frei
und eigenständig darüber befinden, ob er eine Kundenanfrage bearbeite. Dies
belege ua. der Umstand, dass der Kläger in der Vergangenheit mehrere konkrete
Angebote, die sie ihm unterbreitet habe, abgelehnt habe. Auch in zeitlicher Hin-
sicht sei der Kläger nicht weisungsgebunden. Die Entscheidung, wann er die an
ihn weitergeleiteten Kundenanfragen bearbeite, liege allein bei ihm. So habe er
in einer Vielzahl von Fällen Kunden angerufen und mit ihnen unter Beachtung
seiner persönlichen zeitlichen Verfügbarkeit Termine für Beratungsgespräche
vereinbart. In örtlicher Hinsicht erteile sie dem Kläger keine Weisungen. Der Klä-
ger arbeite zu Hause oder an sonstigen von ihm frei gewählten Orten. In ihren
Bürogebäuden halte sie Sitzgelegenheiten vor, die der Kläger nutzen dürfe, ohne
hierzu verpflichtet zu sein. Abgesehen von einer Verwaltungssoftware stelle sie
dem Kläger keinerlei Betriebsmittel zur Verfügung. Der Kläger sei nicht verpflich-
tet gewesen, von ihr hergestellte Visitenkarten zu verwenden. In fachlicher Hin-
sicht übe der Kläger seine Tätigkeit weisungsfrei aus. Er habe bei der Beklagten
keinen Vorgesetzten, sondern lediglich einen Ansprechpartner, an den er sich
wenden könne, wenn er dies wünsche. Sie habe dem Kläger niemals Urlaub er-
teilt, sondern ihn lediglich gebeten, ihr mitzuteilen, in welchen Zeiträumen er ur-
laubsbedingt nicht für sie tätig sein werde.
Auf die Rüge der Beklagten hat das Arbeitsgericht mit Beschluss vom
7. November 2019
den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen für zuläs-
sig erklärt
. Gegen diesen Beschluss hat die Beklagte sofortige Beschwerde ein-
gelegt. Das Arbeitsgericht hat der sofortigen Beschwerde der Beklagten mit Be-
schluss vom 13. Februar 2020 nicht abgeholfen und sie dem Landesarbeitsge-
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richt zur Entscheidung vorgelegt. Das Landesarbeitsgericht hat die sofortige Be-
schwerde mit Beschluss vom 5. Mai 2020 zurückgewiesen und die Rechtsbe-
schwerde für die Beklagte zugelassen.
II.
Die nach § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG statthafte und nach § 78 ArbGG,
§§ 574 ff. ZPO zulässige Rechtsbeschwerde der Beklagten ist begründet. Mit der
vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die sofortige Be-
schwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts nicht zurück-
gewiesen werden. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch
nicht aus anderen Gründen als richtig dar
. Auf der Grundlage
der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen ist der Senat
allerdings an einer eigenen Sachentscheidung gehindert
. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurück-
verweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht als Beschwerdegericht zur
erneuten Entscheidung
.
1.
Das Landesarbeitsgericht hat - wie schon das Arbeitsgericht - zur Be-
gründung der angefochtenen Entscheidung ausgeführt, die Gerichte für Arbeits-
sachen seien zur Entscheidung des Rechtsstreits berufen, da die von den Ver-
tragsbestimmungen abweichende Vertragspraxis auf ein Arbeitsverhältnis der
Parteien schließen lasse. Die Rechtswegzuständigkeit sei allein nach dem Vor-
bringen des Klägers zu beurteilen. Grundlage der Prüfung sei der jeweilige Streit-
gegenstand, der durch die angekündigten Anträge bestimmt werde und die
Rechtsnatur des erhobenen Anspruchs festlege. Für die Frage des zutreffenden
Rechtswegs komme es nur darauf an, ob die tatsächlichen Behauptungen des
Klägers, ihre Richtigkeit unterstellt, Rechtsbeziehungen oder Rechtsfolgen ergä-
ben, für die die ausschließliche Zuständigkeit der Arbeitsgerichte bestehe. Die in
tatsächlicher Hinsicht von der Beklagten geltend gemachten Einwendungen
seien unbeachtlich.
2.
Dies hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
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a)
Die Gerichte für Arbeitssachen sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a
ArbGG ausschließlich zuständig für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Ar-
beitnehmern und Arbeitgebern aus dem Arbeitsverhältnis. Wer Arbeitnehmer im
Sinne des Arbeitsgerichtsgesetzes ist, bestimmt § 5 ArbGG. Gemäß § 5 Abs. 1
Satz 1 ArbGG sind Arbeitnehmer Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Be-
rufsausbildung Beschäftigten. Als Arbeitnehmer gelten nach § 5 Abs. 1 Satz 2
ArbGG auch die in Heimarbeit Beschäftigten und die ihnen Gleichgestellten so-
wie sonstige Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als ar-
beitnehmerähnliche Personen anzusehen sind.
b)
§ 5 Abs. 1 ArbGG liegt der allgemeine nationale Arbeitnehmerbegriff zu-
grunde
, der seit dem 1. April 2017
durch die Aufnahme des Arbeitsvertrags als eigenständiger Vertragstyp in § 611a
BGB gesetzlich kodifiziert ist
. Durch den Arbeitsvertrag wird danach der Arbeitnehmer im Dienste
eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in per-
sönlicher Abhängigkeit verpflichtet
. Das Weisungs-
recht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen
.
Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten
und seine Arbeitszeit bestimmen kann
. Der Grad der persönlichen Ab-
hängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab
.
Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung
aller Umstände vorzunehmen
. Zeigt die tatsächliche Durchführung des
Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es
auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an
.
c)
Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Landesarbeitsgericht davon ausge-
gangen, dass es sich v
orliegend nicht um einen sog. „sic-non-Fall“ handelt, der
die Entscheidungszuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen unabhängig da-
von begründet, ob die tatsächlichen Umstände vorliegen, die der Kläger zur Be-
gründung seiner Arbeitnehmereigenschaft vorträgt.
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aa)
Die Fallgruppen „sic non“, „aut aut“ und „et et“ hat die Rechtsprechung
im Hinblick auf die Frage entwickelt, welche Anforderungen an das klägerische
Vorbringen zur Begründung der Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Ar-
beitssachen in Abgrenzung zu den ordentlichen Gerichten zu stellen sind
. In den sic-non-
Fällen kann der eingeklagte Anspruch ausschließlich auf eine Anspruchsgrund-
lage gestützt werden, deren Prüfung gemäß § 2 ArbGG in die Zuständigkeit der
Gerichte für Arbeitssachen fällt
. Die für die Rechtswegzuständigkeit maßgebenden Tatsachen sind
gleichzeitig die Voraussetzung für die Begründetheit der Klage
. In derar-
tigen Fällen eröffnet bei streitiger Tatsachengrundlage die bloße Rechtsansicht
der klagenden Partei, es handele sich um ein Arbeitsverhältnis, den Rechtsweg
zu den Gerichten für Arbeitssachen
. Kommen dagegen für einen Anspruch sowohl arbeitsrechtliche als auch
bürgerlich-rechtliche Anspruchsgrundlagen in Betracht, kann die bloße Rechts-
ansicht des Klägers, er sei Arbeitnehmer, die Zuständigkeit der Gerichte für Ar-
beitssachen nicht begründen
.
bb)
Der Klageerfolg im Streitfall hängt nicht davon ab, ob der Kläger für die
Beklagte als Arbeitnehmer oder aber als freier Dienstnehmer tätig geworden ist.
Die für den Rechtsweg entscheidende Frage, ob der die Parteien verbindende
Vertrag unter Berücksichtigung seiner tatsächlichen Durchführung als Arbeitsver-
trag oder als freier Dienstvertrag einzuordnen ist, hat für die Begründetheit der
Klage keine Bedeutung. Denn der vom Kläger erhobene Provisionsanspruch ist
im einen wie im anderen Fall allein danach zu beurteilen, ob die Beklagte die
Tätigkeit des Klägers zu provisionieren hatte und die von der Beklagten vorge-
nommenen Stornoabzüge von den vertraglichen Absprachen der Parteien ge-
deckt sind.
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d)
In einem sog.
„aut-aut-Fall“ wie dem vorliegenden, in dem der Kläger die
Klageforderung aus einem Rechtsverhältnis herleitet, das er für ein Arbeitsver-
hältnis, die Beklagte dagegen für das Rechtsverhältnis eines weisungsfrei tätigen
Handelsvertreters hält, ist ebenso wie in einem sog.
„et-et-Fall“
für die Beurteilung, ob der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Gerichte
für Arbeitssachen fällt, nicht allein auf das Klägervorbringen abzustellen. Bestrei-
tet die beklagte Partei - wie im vorliegenden Fall - tatsächliche Umstände, die für
die rechtliche Einordnung des Rechtsverhältnisses von Bedeutung sind, hat das
zur Entscheidung berufene Gericht die zuständigkeitsbegründenden Tatsachen
gegebenenfalls im Wege der Beweisaufnahme festzustellen.
aa)
Art. 101 Abs. 1 Satz
2 GG, der den Parteien eines Rechtsstreits den „ge-
setzlichen Richter“ garantiert, sichert die Rechtsstaatlichkeit des gerichtlichen
Verfahrens
, indem er der Gefahr vorbeugt, dass durch eine auf den Einzelfall
bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der
Entscheidung - gleichgültig von welcher Seite
- beeinflusst werden
kann
. Das Verfahrens-
grundrecht setzt objektives Verfassungsrecht
, das die Gerichte als Träger
staatlicher Gewalt
bei der Auslegung einfachgesetzlicher Nor-
men
und so auch bei der Auslegung der zuständigkeitsbegründenden Vorschrift des
§ 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a ArbGG zu beachten haben.
(1)
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erfordert, dass die Regelungen, die der Be-
stimmung des gesetzlichen Richters dienen, im Voraus so eindeutig wie möglich
festlegen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Streit-
entscheidung berufen sind
. Diesen Verfassungsauftrag hat der Gesetzgeber
durch die Schaffung einer Zuständigkeitsordnung umgesetzt, die bürgerlich-
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rechtliche Streitigkeiten, die aus einem Arbeitsverhältnis resultieren, den Gerich-
ten für Arbeitssachen zuweist
. Dass das in diesem Zu-
sammenhang maßgebende Abgrenzungskriterium „Arbeitsverhältnis“ unter Wür-
digung aller erheblichen Umstände und damit nicht allein nach dem Vorbringen
des Klägers zu bestimmen ist, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm, die
ein
„Arbeitsverhältnis“ voraussetzt und nicht etwa dessen Behauptung ausrei-
chen lässt. Nicht die behauptete, sondern nur die tatsächliche Zuständigkeit des
Gerichts legitimiert den jeweiligen Spruchkörper, die ihm vom Gesetzgeber über-
tragene Rechtssprechungsgewalt auszuüben.
(2)
Zu beachten ist ferner, dass die Zuständigkeitsordnung des ArbGG als
zwingendes Gesetzesrecht nicht zur Disposition der Parteien steht
. Die Entscheidung des
Gesetzgebers, arbeitsrechtliche Streitigkeiten mit ausschließlicher Wirkung bei
einer Fachgerichtsbarkeit zu konzentrieren, beruht auf der Erwägung, das die
Gerichte für Arbeitssachen mit Lebenssachverhalten, die nach §§ 2, 3 ArbGG in
ihre Zuständigkeit fallen, in besonderem Maße vertraut und für deren rechtliche
Beurteilung qualifiziert sind
.
Genügte der schlüssige, aber vom Beklagten bestrittene Tatsachenvortrag des
Klägers, um für eine Streitigkeit den Rechtsweg vor die Gerichte für Arbeitssa-
chen zu eröffnen, bestände die Gefahr, dass das System der Fachgerichtsbarkeit
unterlaufen wird
. Denn es wäre nicht auszuschlie-
ßen, dass die Gerichte für Arbeitssachen, nachdem sie lediglich aufgrund einer
Rechtsbehauptung des Klägers ihre sachliche Zuständigkeit geprüft und ange-
nommen haben, ohne tatsächliches Vorliegen einer Streitigkeit zwischen Arbeit-
nehmer und Arbeitgeber über zivilrechtliche Fragen entscheiden würden, für de-
ren Beurteilung eine arbeitsrechtliche Expertise nicht vonnöten ist und die der
Gesetzgeber konsequenterweise allein den ordentlichen Gerichten zur Entschei-
dung zugewiesen hat
. Stellten die Gerichte für Arbeitssachen im Rahmen der
ihnen obliegenden Zuständigkeitsprüfung allein auf die vom Kläger vorgetrage-
nen, aber nicht bewiesenen Tatsachen ab, missachteten sie die gesetzliche Zu-
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ständigkeitsordnung und griffen in unzulässiger Weise in die Entscheidungszu-
ständigkeit der ordentlichen Gerichte ein
. Deshalb erfordert die „Respektierung
der Nachbargerichtsbarkeit“
, dass die zunächst angerufenen Gerichte für Arbeitssachen vorab in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüfen, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt.
(3)
Schließlich sichert Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die prozedurale Gerechtig-
keit als Voraussetzung einer richtigen Entscheidung
. Das von der Verfassung vorgegebene Ziel, durch
die faire Ausgestaltung des Verfahrens eine zutreffende Entscheidung des
Rechtsstreits abzusichern, wäre - außerhalb der sog.
„sic-non-Fälle“ - gefährdet,
wenn das Gericht im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit des Rechtswegs le-
diglich den Sachvortrag des Klägers, nicht aber den des Beklagten zur Kenntnis
nähme und seine Zuständigkeit allein auf der Grundlage eines schlüssigen, aber
bestrittenen und nicht bewiesenen Klägervortrags bejahte
. Legte das Gericht seiner Zuständigkeitsentschei-
dung allein den Klägervortrag zugrunde, ohne dem erheblichen Bestreiten sei-
tens des Beklagten nachzugehen, bestände für den Kläger die Möglichkeit, sich
durch das Aufstellen einer schlüssigen Behauptung gegen den Widerstand der
anderen Partei eine ihm nicht zukommende sachliche Zuständigkeit zu verschaf-
fen
. Dies verletzte den Beklagten in seinem grundrechtsglei-
chen Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
(4)
Aus diesen Gründen reicht außerhalb der
„sic-non-Fälle“ die bloße
Rechtsbehauptung des Klägers, er sei Arbeitnehmer, ebenso wenig aus wie ein
schlüssiger Klagevortrag, um die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen zu
begründen
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.
bb)
Weder der Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung
noch die umfassende Prüfungs-
kompetenz des mit dem Rechtsstreit befassten Gerichts nach § 17a Abs. 2
Satz 1 GVG rechtfertigen ein anderes Ergebnis.
(1)
Die Neuregelung der Rechtswegentscheidung und -verweisung und die
Zusammenfassung der dazu erlassenen Vorschriften für alle Gerichtsbarkeiten
in den §§ 17 bis 17b GVG durch das Gesetz zur Neuregelung des verwaltungs-
gerichtlichen Verfahrens (Viertes Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichts-
ordnung - 4. VwGOÄndG) vom 17. Dezember 1990
stellen
Teile eines Bündels verfahrensrechtlicher Maßnahmen dar, die der Verbesse-
rung, Beschleunigung und Entlastung gerichtlicher Verfahren dienen
. Änderungsbedarf sah der Gesetzgeber vor allem bei der
Befugnis der Berufungs- und Revisionsgerichte, die Rechtswegzuständigkeit als
Voraussetzung einer Sachentscheidung zu prüfen. Nach vormaligem Recht war
es nicht ausgeschlossen, dass die Unzulässigkeit des Rechtswegs erst im Laufe
des Revisionsverfahrens festgestellt wurde. In diesen Fällen war das Verfahren
auf Antrag des Klägers an das zuständige Gericht des ersten Rechtszugs des für
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zulässig erachteten Rechtswegs zu verweisen und die Sache bei diesem im Gan-
zen mit der Folge neu zu verhandeln, dass der Prozess in dem neuen Gerichts-
zweig wiederum durch mehrere Instanzen geführt werden konnte. Um diesem
unbefriedigenden Zustand vorzubeugen, führte der Gesetzgeber eine alle Ge-
richtszweige und Instanzen bindende Vorabentscheidung ein, deren Ziel es ist,
die Frage der Rechtswegzuständigkeit zu einem möglichst frühen Zeitpunkt des
Verfahrens abschließend zu klären
und die
Rechtsmittelgerichte, die den Rechtsstreit in der Hauptsache zu entscheiden ha-
ben, von einer erneuten Prüfung freizustellen
. Aus dieser
gesetzgeberischen Absicht lässt sich indessen nicht ableiten, dass eine Beweis-
aufnahme über die für die Begründung der Rechtswegzuständigkeit maßgebli-
chen, vom Beklagten bestrittenen Tatsachen nicht stattfinden sollte
. Angesichts der verfassungs-
rechtlichen Garantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hätte es hierfür einer eindeu-
tigen gesetzlichen Regelung bedurft. An einer solchen fehlt es.
(2)
Die Prüfungskompetenz, die § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG dem zur Entschei-
dung berufenen Gericht verleiht, gibt kein abweichendes Ergebnis vor. Gemäß
§ 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtswegs den
Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Die
rechtswegübergreifende Kompetenz, die dem Gericht damit eingeräumt wird, er-
möglicht eine umfassende Entscheidung über den einzelnen Klageanspruch un-
ter Einbeziehung aller konkurrierenden Klagegründe
, nicht aber die Erledigung rechtswegfremder Ansprüche, wenn diese allein
den Gegenstand des Rechtsstreits bilden
.
cc)
Soweit der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes
entschieden hat, für die Bestimmung des streitigen Rechtsverhältnisses sei im
Regelfall allein von dem Klagevorbringen auszugehen
, steht dies einem
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Erfolg der Rechtsbeschwerde nicht entgegen. In den Fällen, über die der Ge-
meinsame Senat zu befinden hatte, ging es nicht um die Abgrenzung der Zustän-
digkeiten von ordentlicher und Arbeitsgerichtsbarkeit, sondern allein um die Ab-
grenzung von ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Maßgebend für letz-
tere ist die Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergelei-
tet wird, und damit der jeweilige Streitgegenstand des Verfahrens
. Dieser ist
im Regelfall allein nach dem Klägervorbringen zu bestimmen
. Ob die streitentscheidende Norm
dem bürgerlichen oder dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist, ist demnach eine
Rechtsfrage
. Anders
verhält sich im vorliegenden Fall, in dem die Zuständigkeit der ordentlichen Ge-
richte von der der Gerichte für Arbeitssachen abzugrenzen ist. Die Prüfung, ob
die zuständigkeitsbegründenden Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG
erfüllt sind, hängt vom Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses und damit auch vom
Tatsachenvorbringen beider Parteien ab.
3.
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts erweist sich nicht aus an-
deren Gründen als richtig
. Insbesondere gehört der Kläger
nicht zu den arbeitnehmerähnlichen Personen, für die gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3
Buchst. a iVm. § 5 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 ArbGG der Rechtsweg vor den Gerichten
für Arbeitssachen eröffnet ist.
a)
§ 5 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 ArbGG begründet die Zuständigkeit für Rechts-
streitigkeiten von Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit
als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind. Nach § 5 Abs. 3 Satz 1
ArbGG gelten Handelsvertreter allerdings nur dann als Arbeitnehmer, wenn sie
zu dem Personenkreis gehören, für den nach § 92a des Handelsgesetzbuchs die
untere Grenze der vertraglichen Leistungen des Unternehmers festgesetzt wer-
den kann, und wenn sie während der letzten sechs Monate des Vertragsverhält-
nisses, bei kürzerer Vertragsdauer während dieser, im Durchschnitt monatlich
nicht mehr als 1.000,00 Euro auf Grund des Vertragsverhältnisses an Vergütung
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einschließlich Provision und Ersatz für im regelmäßigen Geschäftsbetrieb ent-
standene Aufwendungen bezogen haben. Die Festsetzung einer unteren Leis-
tungsgrenze knüpft iSd. § 92a Abs. 1 Satz 1 HGB an die Voraussetzung, dass
der Handelsvertreter vertraglich nicht für weitere Unternehmer tätig werden darf
oder ihm dies nach Art und Umfang der von ihm verlangten Tätigkeit nicht mög-
lich ist.
b)
Im Verhältnis zu § 5 Abs. 1 Satz 2 ArbGG enthält die Vorschrift des § 5
Abs. 3 Satz 1 ArbGG eine vorgreifliche Sonderregelung
, die es verbietet, Handelsvertreter unter anderen
als den in § 5 Abs. 3 Satz 1 ArbGG genannten Voraussetzungen als Arbeitneh-
mer oder arbeitnehmerähnliche Personen im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2
ArbGG zu behandeln
. Für die
Annahme, ein Handelsvertreter sei als sog. „Einfirmenvertreter kraft Vertrags“
iSd. § 92a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 HGB tätig, reicht es
nicht aus, dass er durch ein branchenbezogenes Konkurrenzverbot in seiner Tä-
tigkeit beschränkt ist, weil eine derartige vertragliche Absprache ihn nicht daran
hindert, für Unternehmer eines anderen Wirtschaftszweigs tätig zu werden
.
c)
Diese zuständigkeitsbegründenden Voraussetzungen liegen im Streitfall
unabhängig davon nicht vor, ob das die Parteien verbindende Rechtsverhältnis
ein Arbeitsverhältnis oder ein Handelsvertretervertrag ist. Der Kläger ist für die
Beklagte nicht als Einfirmenvertreter tätig. Das in § 10 Satz 1 des Vertrags ent-
haltene Konkurrenzverbot
, das dem Kläger untersagt, für „ein Unternehmen tätig
zu sein, das mit der Firma in Wettbewerb steht“, hindert den Kläger nicht, für
andere Unternehmer tätig zu werden.
4.
Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif
. Ins-
besondere ist die in § 13 des Vertrags geregelte Gerichtsstandsvereinbarung
nicht geeignet, die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zu begründen. Der
Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist - von dem in § 2 Abs. 4 ArbGG
geregelten Sonderfall abgesehen - in §§ 2 bis 5 ArbGG zwingend festgelegt
. Dies hat die Folge,
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dass eine Vereinbarung der Prozessparteien über den Rechtsweg unzulässig ist
.
5.
Auf der Grundlage der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen
Feststellungen vermag der Senat nicht zu beurteilen, ob der Rechtsstreit in die
Entscheidungszuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen fällt. Das Landesar-
beitsgericht wird nach der Zurückverweisung der Sache - gegebenenfalls im
Wege der Beweisaufnahme - aufzuklären haben, ob die Behauptung des Klägers
zutrifft, die Beklagte habe ihm regelmäßig Weisungen in örtlicher, zeitlicher und
fachlicher Hinsicht mit der Folge erteilt, dass die Rechtsbeziehung der Parteien
als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist.
Kiel
Weber
Suckow
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