Urteil des BAG vom 14.10.2020

Beweiskraft des Protokolls - Urteilsverkündung

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 14. Oktober 2020
Fünfter Senat
- 5 AZR 712/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:141020.U.5AZR712.19.0
I. Arbeitsgericht Dresden
Urteil vom 20. März 2019
- 7 Ca 2182/18 -
II. Sächsisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 19. November 2019
- 3 Sa 124/19 -
Entscheidungsstichworte:
Beweiskraft des Protokolls - Urteilsverkündung
Leitsatz:
Ist im Sitzungsprotokoll nicht festgestellt, dass ein Urteil verkündet wurde,
ist die Verkündung nicht bewiesen.
ECLI:DE:BAG:2020:141020.U.5AZR712.19.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
5 AZR 712/19
3 Sa 124/19
Sächsisches
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
14. Oktober 2020
URTEIL
Schmidt-Brenner, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Beklagter, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
14. Oktober 2020 durch den Vizepräsidenten des Bundesarbeitsgerichts
Dr. Linck, die Richterinnen am Bundesarbeitsgericht Berger und Dr. Volk sowie
den ehrenamtlichen Richter Busch und die ehrenamtliche Richterin Christen für
Recht erkannt:
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5 AZR 712/19
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1. Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des
Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 19. November
2019 - 3 Sa 124/19 - und das Urteil des Arbeitsgerichts
Dresden vom 20. März 2019 - 7 Ca 2182/18 - aufgeho-
ben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entschei-
dung - auch über die Kosten der Rechtsmittelverfah-
ren - an das Arbeitsgericht Dresden zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten im Revisionsverfahren über Vergütung.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, es bestehe ein Vergütungsanspruch
wegen Annahmeverzugs.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 3.809,52 Euro brutto
nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz seit dem 1. Juli 2018 zu zahlen.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Das Protokoll der mündlichen Verhandlung des Arbeitsgerichts Dresden
vom 20. März 2019 endet mit der Entlassung der Parteien mit dem Hinweis, dass
eine Entscheidung am Ende des Sitzungstages verkündet wird. Danach folgen
die Unterschriften des Vorsitzenden und der Urkundsbeamtin der Geschäfts-
stelle. In der Akte der ersten Instanz folgt auf das Sitzungsprotokoll die hand-
schriftliche Urteilsformel, unterschrieben vom Vorsitzenden und den ehrenamtli-
chen Richtern. Im Anschluss findet sich das erstinstanzliche Urteil in vollständig
abgefasster Form, versehen mit dem von der Urkundsbeamtin der Geschäfts-
stelle unterschriebenen Vermerk, das Urteil sei am 20. März 2019 verkündet wor-
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den. Danach folgt in der Akte die Schlussverfügung der Geschäftsstelle des Ar-
beitsgerichts, gefolgt von den Zustellungsempfangsbekenntnissen der Prozess-
bevollmächtigten der Parteien.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der
Kläger seinen Zahlungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte über die
Klage nicht in der Sache entscheiden, weil das Verfahren vor dem Arbeitsgericht
mangels Verkündung eines Urteils noch nicht abgeschlossen ist. Tatsächlich
handelt es sich bei dem
„Urteil“ des Arbeitsgerichts lediglich um einen Urteilsent-
wurf. Die bisher ergangenen Entscheidungen waren aufzuheben. Die Sache war
zur Verhandlung und Entscheidung über die Klage an das Arbeitsgericht zurück-
zuverweisen.
I.
Das
„Urteil“ des Arbeitsgerichts Dresden vom 20. März 2019 leidet an
einem nicht behebbaren Verfahrensfehler. Ausweislich des Protokolls der münd-
lichen Verhandlung ist es nicht verkündet worden. Damit ist die erste Instanz bis-
lang nicht abgeschlossen.
1.
Die Verkündung eines Urteils erfolgt im Namen des Volkes durch Verle-
sung der vollständigen Urteilsformel einschließlich Kostenentscheidung, Streit-
wert und ggf. einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung, jedenfalls
aber durch Bezugnahme auf die schriftlich niedergelegte Urteilsformel; sie hat
immer in öffentlicher Sitzung zu ergehen, § 60 ArbGG, § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO,
§ 173 Abs. 1 GVG
. Ein Urteil wird
erst durch diese förmliche Verlautbarung mit allen prozessualen und materiell-
rechtlichen Wirkungen existent. Solange die Entscheidung noch nicht verkündet
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wurde, liegt rechtlich nur ein - allenfalls den Rechtsschein eines Urteils erzeu-
gender - Entscheidungsentwurf vor
.
2.
Die Verkündung einer Entscheidung ist nach § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO im
Protokoll festzustellen. Die Feststellung der Verkündung ist eine nach § 165 ZPO
wesentliche Förmlichkeit, die nur durch das Protokoll bewiesen werden kann
. Findet sich im Protokoll kein Hin-
weis auf die Verkündung des Urteils, steht infolge der Beweiskraft des Protokolls
gemäß §§ 165, 160 Abs. 2 ZPO ein Verstoß gegen das aus § 60 ArbGG, § 311
Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 173 Abs. 1 GVG folgende Erfordernis der Urteilsverkün-
dung in öffentlicher Sitzung fest
. Da der Beweis der Beachtung der
wesentlichen Förmlichkeiten nur durch das Sitzungsprotokoll erbracht werden
kann, beweist der nach § 315 Abs. 3 ZPO auf der Urschrift des Urteils anzubrin-
gende Verkündungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eine Ver-
kündung nicht
. Zweck
dieses Verkündungsvermerks ist die Bescheinigung der Übereinstimmung des
Urteilstenors mit der verkündeten Urteilsformel
.
3.
Im Streitfall fehlt es am Nachweis einer Verkündung des erstinstanzli-
chen
„Urteils“. Es lässt sich nicht feststellen, dass die Verlautbarung eines Urteils
vom Gericht beabsichtigt war. Das Sitzungsprotokoll des Arbeitsgerichts vom
20. März 2019 beinhaltet nicht, dass ein Urteil verkündet wurde. Ein weiterer Ver-
kündungstermin lässt sich der Akte nicht entnehmen. Der auf dem
„Urteil“ ange-
brachte Verkündungsvermerk der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ist nicht
geeignet, die Verkündung dieses
„Urteils“ zu beweisen. Es ist damit davon aus-
zugehen, dass das Arbeitsgericht das in der Akte befindliche
„Urteil“ nicht ver-
kündet hat.
4.
Das
„Urteil“ des Arbeitsgerichts wurde nicht auf andere Art und Weise
wirksam verlautbart.
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a)
Verkündungsmängel stehen dem wirksamen Erlass eines Urteils nur ent-
gegen, wenn gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende For-
merfordernisse verstoßen wurde, so dass von einer Verlautbarung im Rechts-
sinne nicht mehr gesprochen werden kann. Sind deren Mindestanforderungen
hingegen gewahrt, hindern auch Verstöße gegen zwingende Formerfordernisse
das Entstehen eines wirksamen Urteils nicht. Zu den Mindestanforderungen ge-
hört, dass die Verlautbarung von dem Gericht beabsichtigt war oder von den Par-
teien derart verstanden werden durfte und die Parteien von Erlass und Inhalt der
Entscheidung förmlich unterrichtet wurden
.
b)
Das erstinstanzliche
„Urteil“ wurde nicht dadurch wirksam verlautbart,
dass der Vorsitzende der Kammer dessen Übersendung an die Parteien selbst
verfügt hat, so dass sein Wille, die Entscheidung zu erlassen, außer Frage steht
. Eine solche
Verfügung findet sich in den Akten nicht. Die Schlussverfügung der Geschäfts-
stelle kann die richterliche Verfügung nicht ersetzen, weil diese nicht den Willen
des Richters dokumentiert, die Entscheidung der Kammer nach außen kundzu-
tun.
II.
Da das
„Urteil“ des Arbeitsgerichts nicht wirksam verkündet worden ist,
kann es keine rechtliche Wirkung erzeugen, gleichwohl aber zur Beseitigung des
mit ihm verbundenen Rechtsscheins mit der Berufung angefochten werden
.
1.
Bei fehlender Verkündung des erstinstanzlichen Urteils ist das Verfahren
nach wie vor in der ersten Instanz anhängig und dort noch nicht abgeschlossen.
Mit der Berufung kann der äußere Anschein einer wirksamen, den ersten Rechts-
zug beendenden gerichtlichen Entscheidung beseitigt werden. Daher hätte das
Landesarbeitsgericht auf die danach statthafte Berufung des Klägers das arbeits-
gerichtliche
„Urteil“ aufheben und den Rechtsstreit ausnahmsweise an das Ar-
beitsgericht zurückverweisen müssen. Eine eigene Sachentscheidung war dem
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Landesarbeitsgericht dagegen verwehrt
.
2.
Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Arbeitsgericht wegen
eines Mangels im Verfahren steht § 68 ArbGG nicht entgegen. Zwar ist nach
dieser Vorschrift im Arbeitsgerichtsprozess die Zurückverweisung des Rechts-
streits durch das Landesarbeitsgericht wegen eines Mangels im Verfahren des
Arbeitsgerichts unzulässig. § 68 ArbGG schließt die in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
ZPO für diesen Fall vorgesehene Möglichkeit der Zurückverweisung an die erste
Instanz grundsätzlich aus. Dies dient der Prozessbeschleunigung und gilt auch
bei schwerwiegenden Verfahrensfehlern
. Eine Zurückverweisung an das Arbeits-
gericht kommt jedoch - neben den in § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 7 ZPO ge-
nannten Fällen - ausnahmsweise in Betracht, wenn ein Verfahrensfehler vorliegt,
der in der Berufungsinstanz nicht korrigiert werden kann
. So lag der Fall hier. Das Landesar-
beitsgericht konnte die im ersten Rechtszug unterbliebene Urteilsverkündung
nicht selbst vornehmen.
III.
Der Rechtsstreit war unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidun-
gen an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen.
1.
Das Bundesarbeitsgericht kann den Rechtsstreit - ausnahmsweise - an
das Arbeitsgericht zurückverweisen, wenn schon das Landesarbeitsgericht
die Sache an das Arbeitsgericht hätte zurückverweisen müssen
. Das Landes-
arbeitsgericht konnte den nicht behebbaren Verfahrensfehler des Arbeitsgerichts
nicht wirksam heilen. Eine nach § 528 ZPO der Überprüfung durch das Beru-
fungsgericht unterliegende erstinstanzliche Entscheidung war zwischen den Par-
teien nicht ergangen.
2.
Der Rechtsstreit ist unter Aufhebung der beiden vorinstanzlichen Ent-
scheidungen und auch unter Aufhebung des Verfahrens
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ab dem Zeitpunkt, zu
dem die Parteien vom Arbeitsgericht mit dem Hinweis auf eine Verkündung eines
Urteils entlassen wurden, zur neuen Verhandlung und Entscheidung an dieses
zurückzuverweisen.
3.
Der Senat kann keine Hinweise zur materiellen Rechtslage erteilen. Sol-
che Hinweise des Revisionsgerichts an die Vorinstanz sind nur dann angezeigt,
wenn diese prozessual daran gebunden ist
. Dies ist vor-
liegend nicht der Fall, weil mangels Abschluss des Verfahrens vor dem Arbeits-
gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung im Revisionsverfahren das rechtliche
Prüfprogramm für den Senat nicht feststeht.
Linck
Berger
Volk
Busch
A. Christen
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