Urteil des BAG vom 09.09.2020

Gesetzlicher Übergang auf Optionskommune - Bezugnahmeklausel

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 9. September 2020
Vierter Senat
- 4 AZR 385/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
I. Arbeitsgericht Suhl
Urteil vom 19. Mai 2016
- 5 Ca 2023/15 -
II. Thüringer Landesarbeitsgericht
Urteil vom 6. Juni 2019
- 2 Sa 7/18 -
Entscheidungsstichworte:
Gesetzlicher Übergang auf Optionskommune - Bezugnahmeklausel
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
4 AZR 385/19
2 Sa 7/18
Thüringer
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
9. September 2020
URTEIL
Freitag, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin, Berufungsbeklagte und Revisionsklägerin,
pp.
Beklagter, Berufungsbeklagter, Berufungskläger und Revisionsbeklagter,
hat der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 9. September 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundes-
arbeitsgericht Prof. Dr. Treber, die Richterinnen am Bundesarbeitsgericht
Dr. Rinck und Klug sowie den ehrenamtlichen Richter Hess und die ehrenamtli-
che Richterin Wedepohl für Recht erkannt:
- 2 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 3 -
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Thüringer
Landesarbeitsgerichts vom 6. Juni 2019 - 2 Sa 7/18 -
wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Anwendbarkeit eines Tarifwerks auf ihr Ar-
beitsverhältnis, daraus resultierende Entgeltdifferenzansprüche und die zutref-
fende Eingruppierung der Klägerin.
Die Klägerin war seit dem 1. September 2001 bei der Bundesagentur für
Arbeit beschäftigt, zuletzt als Sachbearbeiterin Leistungsgewährung im Bereich
SGB II. Nach § 2 einer Änderungsvereinbarung vom 12. Juni 2006 bestimmt sich
ihr Arbeitsverhältnis nach dem Tarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer der Bundesagentur für Arbeit (TV-BA) und den diesen ergänzenden, än-
dernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung sowie
dem Tarifvertrag zur Überleitung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der
Bundesagentur für Arbeit in den TV-BA und zur Regelung des Übergangsrechts
(TVÜ-BA). Ferner finden nach der arbeitsvertraglichen Regelung die für die Bun-
desagentur für Arbeit geltenden sonstigen Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis
Anwendung. Die Klägerin erhielt bis zum 31. Dezember 2011 ein Entgelt nach
Tätigkeitsebene IV, Stufe 3 zuzüglich einer Funktionsstufe 1 TV-BA.
Der Beklagte, der Mitglied der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber-
verbände (VKA) ist, wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2012 als kommunaler Trä-
ger der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugelassen.
Seit dem 1. Januar 2012 wird die Klägerin bei dem Beklagten beschäftigt
und erhält eine Vergütung nach Entgeltgruppe 8 des Tarifvertrags für den öffent-
1
2
3
4
- 3 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 4 -
lichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitge-
berverbände geltenden Fassung (TVöD/VKA), zunächst zuzüglich einer Aus-
gleichszahlung. Das Angebot zum Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags nahm
sie nicht an.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Bezugnahmeklausel in § 2
der Änderungsvereinbarung entfalte auch im Arbeitsverhältnis zu dem Beklagten
Wirkung. § 6c SGB II sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass er
einer Anwendung der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifverträge
nicht entgegenstehe. Anderenfalls sei der mit der Regelung verbundene Eingriff
in die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG weder erforderlich noch angemessen und
damit unverhältnismäßig. Die Klägerin habe daher Anspruch auf Zahlung der Dif-
ferenz zwischen dem ihr nach dem TV-BA zustehenden und dem durch den Be-
klagten gezahlten Entgelt.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
1.
festzustellen, dass auf das Arbeitsverhältnis der Par-
teien ab dem 1. Januar 2012 weiterhin der Tarifver-
trag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der
Bundesagentur für Arbeit (TV-BA) Anwendung findet
und die Klägerin weiterhin auf der Grundlage der Tä-
tigkeitsebene IV Entwicklungsstufe 3 und ab 1. Juli
2013 Entwicklungsstufe 4 sowie einer Funktionsstufe
1 gemäß § 20 TV-BA eingruppiert ist;
2.
den Beklagten zu verurteilen, an sie 7.796,67 Euro
brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten
über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 1. Septem-
ber 2014 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat gemeint, auf-
grund der Regelung in § 6c Abs. 3 SGB II sei auf das Arbeitsverhältnis aus-
schließlich der TVöD/VKA anzuwenden. Sämtliche Vergütungsansprüche seien
erfüllt.
Das Arbeitsgericht hat - soweit für die Revision von Interesse - der Klage
hinsichtlich des Antrags zu 1. sowie des Antrags zu 2. in Höhe von 3.980,01 Euro
5
6
7
8
- 4 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 5 -
nebst Zinsen stattgegeben und letzteren im Übrigen abgewiesen. Das Landesar-
beitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen
und auf die Berufung des Beklagten unter teilweiser Abänderung des arbeitsge-
richtlichen Urteils die Klage insgesamt abgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeits-
gericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Landesarbeits-
gericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
I.
Die Klage ist hinsichtlich des Antrags zu 1. - der zwei Feststellungsbe-
gehren enthält - teilweise unzulässig.
1.
Mit dem ersten Teil des Antrags zu 1. begehrt die Klägerin die Feststel-
lung, dass der TV-BA auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Dieser Ele-
mentenfeststellungsantrag ist jedenfalls als Zwischenfeststellungsklage nach
§ 256 Abs. 2 ZPO zulässig
. Die Entschei-
dung über die Anwendbarkeit des TV-BA ist vorgreiflich, da Vergütungsansprü-
che nach dem TV-BA, auf die beide Anträge ausschließlich gestützt sind, nur
bestehen können, wenn dieser Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis Anwendung
findet. Die Frage des anwendbaren Tarifvertrags kann darüber hinaus auch für
andere denkbare Folgestreitigkeiten von Bedeutung sein.
2.
Bei dem zweiten Teil des Antrags zu 1. handelt es sich nach gebotener
Auslegung um einen Eingruppierungsfeststellungsantrag. Die Klägerin begehrt
der Sache nach die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten, sie nach Tä-
tigkeitsebene IV Entwicklungsstufe 4 (bis 30. Juni 2013 Entwicklungsstufe 3) zu-
züglich einer Funktionsstufe 1 TV-BA zu vergüten. Für den so verstandenen An-
trag besteht ein Feststellungsinteresse allerdings erst ab dem 1. September
2014, im Übrigen ist der Antrag unzulässig. Die Klägerin hat die Entgeltdifferenz
9
10
11
12
- 5 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 6 -
für den vorhergehenden Zeitraum bereits im Wege der Leistungsklage geltend
gemacht. Ein darüber hinausgehendes Feststellungsinteresse ist nicht ersichtlich
.
II.
Soweit die Klage zulässig ist, ist sie unbegründet. Die Tarifverträge der
Bundesagentur für Arbeit finden auf das Arbeitsverhältnis der Parteien keine An-
wendung. Sie sind zwar arbeitsvertraglich in Bezug genommen, werden aber auf-
grund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung durch die Tarifverträge für den öf-
fentlichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeit-
geberverbände geltenden Fassung (TVöD/VKA), an die der Beklagte kraft Ver-
bandsmitgliedschaft gebunden ist
, verdrängt. Das folgt, wie der
Senat bereits mehrfach entschieden hat
, aus § 6c Abs. 3 Satz 3 iVm. Satz 2 SGB II. Dementsprechend
kann die Klägerin weder die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten zur
Zahlung eines Entgelts nach dem TV-BA verlangen noch stehen ihr unter diesem
Gesichtspunkt Differenzvergütungsansprüche für den Zeitraum Januar 2012 bis
August 2014 nebst Zinsen zu.
1.
Das Arbeitsverhältnis der Klägerin ist mit Wirkung zum 1. Januar 2012
auf den Beklagten übergegangen. Zwischen den Parteien steht nicht im Streit,
dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des - verfassungskonformen
§ 6c Abs. 1
Satz 1 SGB II für den gesetzlichen Übergang des Arbeitsverhältnisses zu diesem
Zeitpunkt erfüllt waren. Die Klägerin war Arbeitnehmerin der Bundesagentur für
Arbeit und hatte am Tag vor der Zulassung des Beklagten als weiterem kommu-
nalen Träger seit mindestens 24 Monaten Aufgaben der Bundesagentur als Trä-
ger nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II in dem Gebiet des kommunalen Trägers
wahrgenommen.
2.
Mit dem gesetzlichen Übergang ist der Beklagte nach Maßgabe von § 6c
Abs. 3 Satz 2 SGB II in alle Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis zwi-
schen der Klägerin und der Bundesagentur für Arbeit eingetreten.
13
14
15
- 6 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 7 -
a)
Nach dieser Norm tritt der neue Träger im Falle des Übergangs nach
Abs. 1 unbeschadet des Satzes 3 in die Rechte und Pflichten aus den Arbeits-
verhältnissen ein, die im Zeitpunkt des Übertritts bestehen. Zu diesen Rechten
und Pflichten gehören - neben allen anderen arbeitsvertraglichen Bestimmun-
gen - auch diejenigen, die sich aus einer Bezugnahme auf Tarifverträge ergeben
.
b)
Deshalb ist auch die Bezugnahmeklausel in § 2 der Änderungsvereinba-
rung Bestandteil des zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsverhältnisses
geworden. Diese verweist zeitdynamisch auf den TV-BA, den TVÜ-BA sowie die
für die Bundesagentur für Arbeit geltenden sonstigen Tarifverträge, jeweils in der
Fassung für das Tarifgebiet Ost. Eine Bezugnahme auf die Tarifverträge des öf-
fentlichen Dienstes, insbesondere auf den TVöD/VKA und den TVÜ-VKA, enthält
die Klausel nicht. Bei diesen handelt es sich weder um die Tarifverträge der Bun-
desagentur für Arbeit ergänzende, ändernde oder ersetzende Tarifverträge noch
um für die Bundesagentur für Arbeit jeweils geltende sonstige Tarifverträge
.
3.
§ 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II ordnet darüber hinaus im Wege der gesetzli-
chen Geltungserstreckung an, dass auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse
die Tarifverträge anzuwenden sind, die für den übernehmenden Rechtsträger
gelten, ohne dass es auf die Tarifgebundenheit des übergegangenen Arbeitneh-
mers ankäme
. Dies sind hier die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes in der
für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände gelten-
den Fassung.
16
17
18
- 7 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 8 -
a)
Nach dem Wortlaut der Norm sind die „für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge“ anzuwenden. Maß-
geblich für die Anwendung tariflicher Regelungen aufgrund dieser Bestimmung
ist also, ob für die anderen - nicht für die übergehenden - Arbeitsverhältnisse des
aufnehmenden Rechtsträgers Tarifverträge gelten. Nach § 4 Abs.
1 TVG „gelten“
die Rechtsnormen eines Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss oder die
Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, unmittelbar und zwingend zwi-
schen den beiderseits Tarifgebundenen
. Voraussetzung
ist damit in jedem Fall eine Tarifgebundenheit des aufnehmenden Rechtsträgers.
Liegt eine solche vor, müssen nach § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II die entsprechen-
den Tarifverträge von ihm auch für alle übergehenden Arbeitsverhältnisse ange-
wendet werden
, ohne dass auf die Tarifgebundenheit
der übergehenden Arbeitnehmer abgestellt wird. Ist der übernehmende Rechts-
träger hingegen nicht tarifgebunden, ist für die Anwendung des § 6c Abs. 3
Satz 3 SGB II schon nach dessen Wortlaut kein Raum. Auch für die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer des übernehmenden Rechtsträgers würden in einer
solchen Konstellation keine Tarifverträge gelten.
b)
Im Streitfall findet danach, da der Beklagte Mitglied in der VKA ist, das
Tarifwerk des TVöD/VKA auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft gesetzlicher
Erstreckung Anwendung. Dies steht zwischen den Parteien nicht im Streit.
4.
Eine Kollision zwischen den kraft gesetzlicher Erstreckung anwendbaren
Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes und den vertraglich in Bezug genomme-
nen Tarifverträgen für die Bundesagentur für Arbeit folgt daraus im Arbeitsver-
hältnis der Klägerin aber nicht. Nach § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II sind vom Zeit-
punkt des Übertritts an ausschließlich die für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge anzuwenden. Die ar-
beitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifverträge werden verdrängt; für die
Anwendung des Günstigkeitsprinzips bleibt kein Raum.
a)
Bei aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbaren Tarifnor-
men handelt es sich rechtlich um einzelvertragliche Abreden. Normativ geltende
19
20
21
22
- 8 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 9 -
und kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel anwendbare Tarifnormen sind
grundsätzlich streng voneinander zu unterscheiden
. Eine Kollision zwischen den kraft beidersei-
tiger Tarifgebundenheit für das Arbeitsverhältnis der Parteien normativ geltenden
und den aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbaren Tarifvorschrif-
ten ist nach dem Günstigkeitsprinzip
zu lösen
. Dieses - im
TVG nur unvollkommen geregelte - Günstigkeitsprinzip ist überdies Ausdruck ei-
nes umfassenden Grundsatzes, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle
und auch außerhalb des Tarifvertragsgesetzes Geltung beansprucht
.
b)
Die arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifnormen für die Bun-
desagentur für Arbeit finden auf das Arbeitsverhältnis der Parteien gleichwohl
keine Anwendung. Sie werden aufgrund der Regelung in § 6c Abs. 3 Satz 3
SGB II, nach der vom Zeitpunkt des Übertritts an die für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge ausschließlich
anzuwenden sind, kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung von denen des
bei dem Beklagten geltenden Tarifwerks des TVöD/VKA vollständig verdrängt
. Das ergibt die Auslegung der Vorschrift.
aa)
Maßgebend für die Gesetzesauslegung ist der in der Norm zum Aus-
druck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Zu dessen Ermittlung
sind der Wortlaut der Norm, die Systematik, Sinn und Zweck sowie die Geset-
zesmaterialien und die Entstehungsgeschichte heranzuziehen. Unter diesen an-
23
24
- 9 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 10 -
erkannten Methoden hat keine unbedingten Vorrang. Welche Regelungskonzep-
tion der Gesetzgeber mit dem von ihm gefundenen Wortlaut tatsächlich verfolgt,
ergibt sich uU erst aus den anderen Auslegungsgesichtspunkten. Wird daraus
der Wille des Gesetzgebers klar erkennbar, ist dieser zu achten
.
bb)
Bereits der Wortlaut des § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II spricht für eine solche
verdrängende Wirkung. Danach sind die beim übernehmenden Rechtsträger gel-
tenden Tarifverträge „ausschließlich“ anzuwenden. Der Begriff „ausschließlich“
bedeutet - als Adverb verwendet -
„nur, nichts anderes als“
. So verstanden finden außer den für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträgen keine weiteren
Tarifverträge Anwendung. Dies spricht gegen die Annahme, dass arbeitsvertrag-
lich in Bezug genommene Tarifverträge unberührt blieben. Allerdings lässt der
Wortlaut des Satzes 3 für sich betrachtet auch die Deutung zu, dass lediglich
mögliche Kollisionen auf tarifvertraglicher Ebene zugunsten der Tarifverträge des
aufnehmenden Rechtsträgers gelöst werden sollten.
cc)
Aus der Systematik der gesetzlichen Regelung wird die verdrängende
Wirkung aber deutlich.
(1)
§ 6c Abs. 3 Satz 2 SGB II ordnet den Eintritt des übernehmenden
Rechtsträgers in die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen „unbe-
schadet“ des nachfolgenden Satzes an. Das Wort „unbeschadet“ drückt aus,
dass neben Satz 2 weitere Rechtsnormen anwendbar sein sollen. Damit wird
zwar nicht zum Ausdruck gebracht, dass die Regelung gegenüber einer anderen
zurücktritt
. Die in § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II
angeordnete Rechtsfolge soll aber durch den Eintritt des neuen Trägers in die
Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen nicht beeinträchtigt werden.
Anders formuliert reicht der Eintritt des neuen Trägers in die Rechte und Pflichten
aus dem Arbeitsverhältnis nur so weit, wie sich nicht aus § 6c Abs. 3 Satz 3
25
26
27
- 10 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 11 -
SGB II etwas anderes ergibt
.
(2)
Insoweit unterscheidet sich § 6c Abs. 3 SGB II von der Regelungssyste-
matik des § 613a Abs. 1 BGB. Diese Norm trennt streng zwischen arbeitsvertrag-
lichen Rechten und Pflichten einerseits und kollektivrechtlichen Regelungen an-
dererseits
. Abgesehen davon ist die Regelung auch im Übrigen auf den Fall des ge-
setzlichen Übergangs eines Arbeitsverhältnisses von der Bundesagentur für Ar-
beit auf eine Optionskommune weder unmittelbar noch analog anwendbar
.
(3)
Im Übrigen ist zu beachten, dass das Regelungsmodell des § 6c Abs. 3
SGB II sowohl für den Fall gilt, dass ein kommunaler Rechtsträger nach Abs. 1
Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit übernimmt als auch bei der Beendigung
einer solchen kommunalen Trägerschaft nach Abs. 2. In beiden Situationen er-
folgt der Übergang des Personals nach denselben Bestimmungen und mit den-
selben Rechtswirkungen.
dd)
Sinn und Zweck von § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II stützen dieses Ausle-
gungsergebnis. Die Gesetzesmaterialien enthalten zwar keine ausdrücklichen
Erwägungen zum Zweck der Norm. Entgegen der Auffassung der Klägerin sind
diese aber nicht der einzige Anhaltspunkt zur Ermittlung von Sinn und Zweck
einer Norm
. Vorliegend dient die Anordnung der ausschließlichen An-
wendbarkeit der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers je-
weils geltenden Tarifverträge erkennbar der Anpassung der Arbeitsbedingungen
an die Organisationsstrukturen bei dem jeweils übernehmenden Rechtsträger.
(1)
Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass im Wesentlichen alle mit
der Bundesagentur für Arbeit geschlossenen Arbeitsverträge eine Bezugnahme-
klausel auf deren Haustarifverträge enthalten. Das Tarifwerk der Bundesagentur
für Arbeit ist zwar eng an dasjenige des öffentlichen Dienstes angelehnt, trägt
jedoch gleichzeitig deren Besonderheiten, vor allem den unterschiedlichen Orga-
nisationsstrukturen und den speziellen bei der Bundesagentur auszuübenden
28
29
30
31
- 11 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 12 -
Tätigkeiten, Rechnung. So ist insbesondere die Eingruppierung im TV-BA grund-
legend abweichend von derjenigen im TVöD/VKA geregelt. Nach § 14 Abs. 1 TV-
BA werden alle in der Bundesagentur für Arbeit auszuübenden Tätigkeiten von
dieser in Fach- und Organisationskonzepten beschrieben und von den Tarifver-
tragsparteien Tätigkeits- und Kompetenzprofilen (TuK) zugeordnet. Die in den
TuK festgelegten Anforderungen sind Grundlage für deren Zuordnung durch die
Tarifvertragsparteien zu einer der acht Tätigkeitsebenen. Die Beschäftigten sind
in der Tätigkeitsebene eingruppiert, der die ihnen nicht nur vorübergehend über-
tragene Tätigkeit zugeordnet ist. Die Zuordnung der Tätigkeiten zu TuK und der
TuK zu Tätigkeitsebenen ist in den von den Tarifvertragsparteien vereinbarten
Zuordnungstabellen festgelegt. Dieses speziell auf die bei der Bundesagentur für
Arbeit auszuübenden Tätigkeiten und von dieser festgelegten Fach- und Organi-
sationskonzepte abgestimmte Vergütungssystem ist nicht ohne praktische
Schwierigkeiten auf eine andere Organisationsstruktur übertragbar, zumal die
Bundesagentur für Arbeit mangels Organisationshoheit schon für die gemeinsa-
men Einrichtungen mit den Kommunen keine Fach- und Organisationskonzepte
erstellen kann
. Das kann im Einzelfall zu Regelungslücken führen,
deren Schließung nicht oder nur schwierig möglich ist.
(2)
Das der gesetzlichen Vorschrift zugrunde liegende Anpassungsinteresse
wird auch mit Blick auf den in § 6c Abs. 2 SGB II geregelten umgekehrten Fall
des Endes der Trägerschaft deutlich. Danach treten Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer des kommunalen Trägers, die am Tag vor der Beendigung der Trä-
gerschaft Aufgaben anstelle der Bundesagentur als Träger nach § 6 Abs. 1 Nr. 1
SGB II durchgeführt haben, zum Zeitpunkt der Beendigung der Trägerschaft kraft
Gesetzes (wieder) in den Dienst der Bundesagentur über. Die Vorschriften des
§ 6c Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 SGB II finden auf diesen Fall ebenfalls Anwen-
dung. Auch hier konnte der Gesetzgeber annehmen, dass mit den Optionskom-
munen geschlossene Arbeitsverträge im Regelfall eine Bezugnahmeklausel auf
das Tarifwerk des öffentlichen Dienstes für den Bereich der Vereinigung der kom-
munalen Arbeitgeberverbände enthalten. Nach dem erkennbaren Willen des Ge-
setzgebers sollen auch in diesem Fall die Tarifverträge des übernehmenden
32
- 12 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 13 -
Rechtsträgers - hier also der Bundesagentur für Arbeit - aus Gründen der Anpas-
sung an die besonderen Organisationsstrukturen ausschließlich Anwendung fin-
den.
(3)
Dass der Gesetzgeber mit der Anordnung einer ausschließlichen Anwen-
dung der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils
geltenden Tarifverträge lediglich den Fall einer Tarifkollision auf der kollektiv-
rechtlichen Ebene regeln wollte, scheidet mangels relevanten Regelungsbedürf-
nisses aus.
(a)
Galt in einem Arbeitsverhältnis vor dem gesetzlichen Übergang aufgrund
beiderseitiger Tarifgebundenheit der TV-BA, entfällt dessen unmittelbare und
zwingende Wirkung mit dem Übertritt
, weil die Opti-
onskommune nicht an diesen gebunden ist. Eine Nachbindung iSv. § 3 Abs. 3
TVG tritt ebenso wenig ein, weil die Dienststellen der Optionskommune nicht in
den Geltungsbereich des bei dem vormaligen Arbeitgeber geltenden Haustarif-
vertrags fallen
. Auch eine
Nachwirkung vor dem gesetzlichen Übergang des Arbeitsverhältnisses unmittel-
bar und zwingend geltender Tarifverträge kommt im Regelfall nicht in Betracht.
Ist nämlich die Optionskommune - wie in den meisten Fällen - an den TVöD/VKA
gebunden, handelt es sich bei diesem, weil er ua. - ebenso wie der TV-BA - mit
der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di abgeschlossen worden ist,
um eine andere Abmachung iSv. § 4 Abs. 5 TVG. Zwar entfällt die Nachwirkung
des abgelaufenen Tarifvertrags nur insoweit, wie die andere Abmachung densel-
ben Regelungsbereich erfasst, also die andere tarifliche Abmachung die in den
nachwirkenden Rechtsnormen behandelten Gegenstände betrifft
.
Im Grundsatz ist aber davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien des
33
34
- 13 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 14 -
TVöD/VKA die Tätigkeit eines jeden Beschäftigten des öffentlichen Dienstes er-
fassen
und die
betroffenen Arbeitsverhältnisse vollständig und umfassend regeln wollten
. Für nach-
wirkende Tarifbestimmungen aus dem Tarifwerk für die Bundesagentur für Arbeit
bliebe deshalb in dieser Konstellation regelmäßig kein Raum.
(b)
Nur für den Fall, dass ein Arbeitnehmer vor dem gesetzlichen Übergang
seines Arbeitsverhältnisses aus der Gewerkschaft austritt, könnte auf der
kollektivrechtlichen Ebene ein Regelungsbedürfnis bestehen
.
Bei analoger Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG
bliebe die Nachwirkung des zuvor unmittelbar und zwingend geltenden Tarifver-
trags bestehen, wenn sie nicht durch die Anordnung der ausschließlichen An-
wendung der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers je-
weils geltenden Tarifverträge verdrängt würde. Dafür, dass der Gesetzgeber aber
gerade diesen Ausnahmefall vor Augen hatte und nur für diesen eine eigene ge-
setzliche Regelung schaffen wollte, ohne den wesentlich näher liegenden Fall
der vertraglichen Bezugnahme auf die Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit
zu regeln, bestehen keine Anhaltspunkte.
ee)
Weder aus der Gesetzeshistorie noch aus anderen Umständen lassen
sich Anhaltspunkte für ein abweichendes Verständnis der Norm entnehmen. Die
mit diesem Inhalt seit dem 11. August 2010 geltende Norm ist - mit Ausnahme
einiger sprachlicher Anpassungen - unverändert geblieben.
5.
Das dargelegte Normverständnis begegnet keinen verfassungsrechtli-
chen Bedenken.
a)
Entgegen der Auffassung der Klägerin genügt die Norm den Bestimmt-
heitsanforderungen, die sich aus Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG ergeben. Danach dür-
fen Eingriffe in die Berufsfreiheit nur auf Grundlage einer gesetzlichen Regelung
erfolgen, die Umfang und Grenzen des Eingriffs deutlich erkennen lässt. Dabei
35
36
37
38
- 14 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
- 15 -
muss der Gesetzgeber selbst alle wesentlichen Entscheidungen treffen, soweit
sie gesetzlicher Regelung zugänglich sind. Dies bedeutet aber nicht, dass sich
die erforderlichen Vorgaben ohne weiteres aus dem Wortlaut des Gesetzes er-
geben müssen. Es genügt, dass sie sich mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrund-
sätze erschließen lassen
. Damit
steht der nicht ganz eindeutige Wortlaut des § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II der Be-
stimmtheit nicht entgegen. Die Reichweite des Eingriffs lässt sich - wie dargelegt
durch Anwendung der weiteren Auslegungsgrundsätze ermitteln.
b)
Die gesetzliche Regelung greift zwar in das Grundrecht der Klägerin aus
Art. 12 Abs. 1 GG, einen Arbeitsvertrag frei zu schließen und daher auch dessen
Inhalt aushandeln zu können
, hinsichtlich in Bezug genommener Tarifnormen ein, weil sie deren
Rechtswirkung verdrängt und es dadurch im Einzelfall auch zu einer Verlänge-
rung der Arbeitszeit oder Verringerung der Vergütung kommen kann. Dieser Ein-
griff ist aber, insbesondere mit Blick auf die für den Regelfall gesetzlich angeord-
nete Anwendbarkeit eines anderen Tarifwerks des öffentlichen Dienstes und die
Besitzstandsregelung in § 6c Abs. 5 SGB II, verfassungsrechtlich gerechtfertigt
und verhältnismäßig, dh. geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren
Sinne
. Andere
arbeitsvertragliche Vereinbarungen als die Bezugnahmeklausel bleiben von § 6c
Abs. 3 Satz 3 SGB II unberührt. Soweit der übernehmende Rechtsträger nicht
tarifgebunden sein sollte, ist der Anwendungsbereich der Norm nicht eröffnet, so
dass es bei der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeregelung und der Anwendung
des in Bezug genommenen Tarifwerks bleibt. Der Schutz des Arbeitnehmers vor
dem Verlust tariflich umfassend ausgestalteter Arbeitsbedingungen - sei es auf
normativer oder vertraglicher Ebene - ist damit im Fall des Übergangs des Ar-
beitsverhältnisses nach § 6c SGB II gewährleistet. Dies zieht auch die Klägerin -
unter Berücksichtigung des hier ermittelten Willens des Gesetzgebers - nicht in
Zweifel. Sie ist lediglich der Auffassung, der Wille des Gesetzgebers sei ein an-
derer. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts bedarf es deshalb
39
- 15 -
4 AZR 385/19
ECLI:DE:BAG:2020:090920.U.4AZR385.19.0
keiner verfassungskonformen Auslegung der Norm. Eine solche käme im Übri-
gen im Hinblick auf den klaren Willen des Gesetzgebers auch nicht in Betracht
.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Treber
Rinck
Klug
A. Wedepohl
Th. Hess
40