Urteil des BAG vom 26.04.2018

Altersversorgung - Rechtskraft des Versorgungsausgleichs

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 26. April 2018
Dritter Senat
- 3 AZR 738/16 -
ECLI:DE:BAG:2018:260418.U.3AZR738.16.0
I. Arbeitsgericht Stuttgart
Urteil vom 2. Februar 2016
- 25 Ca 4327/15 -
II. Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Urteil vom 14. Juli 2016
- 7 Sa 14/16 -
Entscheidungsstichworte:
Altersversorgung - Rechtskraft des Versorgungsausgleichs
Leitsatz:
Die materielle Rechtskraft eines familiengerichtlichen Beschlusses über
den Versorgungsausgleich erfasst nicht die Vorfrage, ob und in welchem
Umfang einem der Ehegatten gegen seinen Arbeitgeber oder einen ex-
ternen Versorgungsträger künftige Ansprüche auf Leistungen der betrieb-
lichen Altersversorgung zustehen.
ECLI:DE:BAG:2018:260418.U.3AZR738.16.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
3 AZR 738/16
7 Sa 14/16
Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
26. April 2018
URTEIL
Kaufhold, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionskläger,
pp.
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsbeklagte,
hat der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 26. April 2018 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesar-
beitsgericht
Dr. Zwanziger,
die
Richterinnen
am
Bundesarbeitsgericht
Dr. Ahrendt und Wemheuer sowie die ehrenamtlichen Richter Schmalz und
Schultz für Recht erkannt:
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3 AZR 738/16
ECLI:DE:BAG:2018:260418.U.3AZR738.16.0
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 14. Juli 2016
- 7 Sa 14/16 - aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeits-
gerichts Stuttgart vom 2. Februar 2016 - 25 Ca 4327/15 -
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revisi-
on zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Widerruf einer Versorgungszusage.
Der im Mai 1955 geborene Kläger war vom 28. April 1980 bis zum
25. Juli 2003 bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. März 2016 bezieht er
eine gesetzliche Rente.
Bei der Beklagten gilt für die Mitarbeiter, die bis zum Jahr 2007 in ihre
Dienste eingetreten sind, die Gesamtbetriebsvereinbarung „Versorgungsord-
nung der D AG und der D
Unterstützungskasse GmbH“ idF vom 26. November
1992 (im Folgenden VO 1992). Nach der Vorbemerkung zur VO 1992 gewäh-
ren die früher als D AG firmierende Beklagte und die D Unterstützungskasse
GmbH (im Folgenden Unterstützungskasse) auf der Grundlage dieser Versor-
gungsordnung bei Eintritt eines Versorgungsfalls laufende Renten. § 37 VO
1992 lautet auszugsweise wie folgt:
§ 37 Widerrufsklausel
(1) Die DCAG und die DCUK behalten sich vor, Anwart-
schaften und laufende Leistungen einzustellen oder zu wi-
derrufen, wenn der Mitarbeiter bzw. Leistungsempfänger
Handlungen zu Lasten der DCAG/DCUK begeht oder be-
gangen hat, die in grober Weise gegen Treu und Glauben
verstoßen.
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Dies gilt insbesondere, wenn die DCAG oder die DCUK
durch rechtswidrige Handlungen, derentwegen eine rechts-
kräftige Verurteilung erfolgte, erheblich geschädigt wurde
oder der Begünstigte die Anspruchsvoraussetzungen in
einer als Mißbrauch zu wertenden Weise herbeigeführt hat,
so dass der DCAG bzw. der DCUK die Aufrechterhaltung
der zugesagten Leistungen auch unter objektiver Betrach-
tung der Belange des Begünstigen nicht zugemutet werden
kann.
(2) Diese Widerrufsklausel gilt entsprechend für unverfallba-
re Anwartschaften.
(3) Die Entscheidung über den Widerruf nach Absatz 1 und
2 erfolgt durch den Beirat.“
Die bei der Beklagten geltende „Betriebsvereinbarung Unterstützungs-
kasse“ vom 1. Juli 1990 sieht vor, dass zur Wahrnehmung der Mitbestimmungs-
rechte des Gesamtbetriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG bei der Form,
Ausgestaltung und Verwaltung von Sozialeinrichtungen ein Beirat für die Unter-
stützungskasse gebildet wird. Dieser setzt sich aus sechs Mitgliedern zusam-
men und ist paritätisch von Mitgliedern des Gesamtbetriebsrats und der Arbeit-
geberseite besetzt. Nach Nr. 2.1 Buchst. b Betriebsvereinbarung Unterstüt-
zungskasse steht dem Beirat ein „Zustimmungsrecht“ bei der „Entziehung von
laufenden Renten bei grob treuwidrigem Verhalten
“ zu.
Der Kläger entwendete im Jahr 2003 mithilfe buchungstechnischer Ma-
nipulationen mindestens 50 komplette Radsätze der Beklagten im Wert von
rund 40.000,00 Euro und veräußerte diese an Dritte. Die Beklagte kündigte aus
diesem Grund das Arbeitsverhältnis des Klägers fristlos. Die hiergegen vom
Kläger zunächst erhobene Kündigungsschutzklage nahm dieser in der Folgezeit
zurück. Durch rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts Böblingen vom
27. Januar 2004 wurde der Kläger wegen gewerbsmäßigen Diebstahls und ge-
werbsmäßiger Hehlerei zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Monaten ver-
urteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach Ablauf der dreijährigen Be-
währungszeit wurde die Strafe erlassen.
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Der Beirat der Unterstützungskasse beschloss im Januar 2005 die An-
wartschaft des Klägers zu widerrufen. Mit Schreiben vom 11. Februar 2005 teil-
te die Beklagte den Widerruf der Versorgungszusage mit. Das per Einschreiben
mit Rückschein übersandte Schreiben wurde der damaligen Ehefrau des Klä-
gers ausgehändigt.
Durch
rechtskräftigen
Beschluss
des
Amtsgerichts
Böblingen
- Familiengericht vom 5. November 2013 wurde die Ehe des Klägers geschie-
den und ein Versorgungsausgleich nach dem Gesetz über den Versorgungs-
ausgleich (Versorgungsausgleichsgesetz - VersAusglG) durchgeführt. Im Wege
der internen Teilung wurden dabei zulasten des Anrechts der geschiedenen
Ehefrau des Klägers bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ein Anrecht
auf den Kläger und zulasten seines Anrechts bei der Deutschen Rentenversi-
cherung Baden-Württemberg ein Anrecht auf die geschiedene Ehefrau übertra-
gen. Im Rahmen des Versorgungsausgleichsverfahrens hatte die Beklagte zu-
vor auf Anfrage des Familiengerichts mitgeteilt, dass bei ihr für den Kläger kei-
ne Anrechte aus betrieblicher Altersversorgung bestünden. An dem im Verbund
mit dem Verfahren zur Scheidung durchgeführten Versorgungsausgleichsver-
fahren waren neben dem Kläger und seiner ehemaligen Ehefrau die Deutsche
Rentenversicherung Bund und die Deutsche Rentenversicherung Baden-
Württemberg beteiligt.
Mit Schreiben vom 5. März 2014 bat der Kläger die Beklagte um Aus-
kunft über die Höhe seiner Anwartschaft. Diese teilte daraufhin mit, sie habe die
Versorgungszusage widerrufen.
Mit seiner am 9. Juli 2015 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage
hat der Kläger geltend gemacht, der Widerruf der Versorgungszusage sei un-
wirksam. Der durch sein Verhalten entstandene Schaden sei angesichts der
Umsätze und Gewinne der Beklagten in Milliardenhöhe für diese nicht existenz-
gefährdend gewesen.
Der Kläger hat zuletzt sinngemäß beantragt
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm bei
Eintritt des Versorgungsfalls eine betriebliche Altersver-
sorgung in Form einer monatlichen Rente wegen Er-
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werbsminderung bzw. in Form einer monatlichen Alters-
rente nach der in ihrem Betrieb bei seinem Ausscheiden
im Juli 2003 geltenden Versorgungsordnung in der Fas-
sung vom 26. November 1992 zu gewähren.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, die
Klage sei unzulässig. Der Kläger habe sein Klagerecht verwirkt. Jedenfalls sei
der Widerruf zu Recht erfolgt. Die Entscheidung des Beirats hierüber sei nach
§§ 317, 319 BGB gerichtlich nur auf grobe Unbilligkeit überprüfbar. Unabhängig
davon lägen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Versorgungszusage
vor. Die Geltendmachung der Versorgungsrechte durch den Kläger sei rechts-
missbräuchlich. Der Kläger habe - gemeinsam mit anderen - insgesamt 1.500
Felgen sowie 40 bis 50 Sätze Kompletträder unterschlagen und dadurch einen
Schaden iHv. mindestens 740.000,00 Euro verursacht.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsge-
richt hat die Klage auf die Berufung der Beklagten wegen Prozessverwirkung
als unzulässig abgewiesen. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist dem Pro-
zessbevollmächtigten des Klägers am 8. August 2016 zugestellt worden. Mit
einem am 30. August 2016 beim Bundesarbeitsgericht eingegangenen Schrift-
satz hat der Kläger einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die
Durchführung eines Revisionsverfahrens gestellt
Durch Beschluss des Senats
vom 11. Oktober 2016
wurde dem Kläger Prozesskostenhilfe
unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten bewilligt. Der Beschluss
wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 3. November 2016 zuge-
stellt. Mit einem am 4. November 2016 beim Bundesarbeitsgericht eingegange-
nen Schriftsatz hat der Kläger Revision eingelegt und diese begründet sowie
einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsfrist und Revisi-
onsbegründungsfrist gestellt. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebe-
gehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
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Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet.
I.
Die Revision des Klägers ist zulässig.
1.
Zwar hat der Kläger die Fristen für die Einlegung und Begründung der
Revision nach § 74 Abs. 1 Satz 1 ArbGG nicht gewahrt. Ihm war jedoch gemäß
§ 233 Satz 1 ZPO nach Versäumung dieser Fristen Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne sein Verschulden verhindert war, die
Fristen zu wahren. Er hat innerhalb der Rechtsmittelfrist alles in seinen Kräften
Stehende und Zumutbare getan, um das - in seiner Mittellosigkeit liegende -
Hindernis für die Wahrung der beiden Fristen zu beheben. Der Kläger hat am
30. August 2016 und damit noch innerhalb der am 8. September 2016 enden-
den Revisionseinlegungsfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine
noch einzulegende Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts bean-
tragt und dem Antrag die erforderlichen Unterlagen und Belege beigefügt. Ihm
wurde durch Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 11. Oktober 2016
, der ihm am 3. November 2016 zugestellt wurde, antragsge-
mäß Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten be-
willigt. Der Kläger hat am 4. November 2016 und damit innerhalb der gesetzli-
chen Frist nach § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO beim Bundesarbeitsgericht Wieder-
einsetzung in den vorigen Stand sowohl gegen die Versäumung der Revisions-
einlegungsfrist als auch die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist bean-
tragt und Revision eingelegt sowie diese gleichzeitig begründet. Damit hat er
auch die versäumten Prozesshandlungen innerhalb der nach § 236 Abs. 2
Satz 2 ZPO maßgeblichen Frist nachgeholt.
2.
Die Revision ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch ordnungs-
gemäß begründet.
a)
Nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO gehört
zum notwendigen Inhalt der Revisionsbegründung die Angabe der Revisions-
gründe. Bei einer Sachrüge sind nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a ZPO
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die Umstände zu bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung ergeben
soll. Dabei muss die Revisionsbegründung den Rechtsfehler des Landesar-
beitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des revisionsrechtli-
chen Angriffs erkennbar sind. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den
tragenden Gründen der angefochtenen Entscheidung. Der Revisionskläger
muss darlegen, warum er die Begründung des Berufungsgerichts für unrichtig
hält
.
b)
Diesen Anforderungen werden die in der Revisionsbegründung erhobe-
nen Sachrügen gerecht. Die Revision macht geltend, das Landesarbeitsgericht
habe nicht von einer Verwirkung des Klagerechts ausgehen dürfen. Dadurch
werde der in § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG vorgesehene Ausschluss der Verwir-
kung von sich aus einer Gesamtbetriebsvereinbarung ergebenden Ansprüchen
umgangen. Zudem seien die Voraussetzungen für eine Verwirkung sowohl hin-
sichtlich des Umstands- als auch des Zeitmoments nicht erfüllt. Mit diesem Vor-
bringen wendet sich die Revision gegen die tragenden Erwägungen der ange-
fochtenen Entscheidung.
II.
Die Revision hat auch in der Sache Erfolg. Die Klage ist zulässig und
begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger bei Eintritt eines Versor-
gungsfalls eine Rente nach der VO 1992 zu gewähren.
1.
Die Klage ist zulässig.
a)
Der Antrag ist - bei gebotener Auslegung - auf die Feststellung einer
Verpflichtung der Beklagten gerichtet, dem Kläger bei Eintritt eines Versor-
gungsfalls eine Rente nach der für ihn maßgeblichen VO 1992 zu gewähren.
b)
Entgegen der Rechtsansicht des Landesarbeitsgerichts hat der Kläger
sein Recht, dieses Begehren klageweise geltend zu machen, nicht verwirkt.
aa)
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann das Recht,
eine Klage zu erheben, grundsätzlich verwirkt werden mit der Folge, dass eine
dennoch angebrachte Klage unzulässig ist. Eine solche Prozessverwirkung wird
allerdings nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen angenommen. Das
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Klagerecht soll ausnahmsweise verwirken können, wenn der Anspruchsteller
die Klage erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums erhebt und zusätzlich ein
Vertrauenstatbestand beim Anspruchsgegner geschaffen worden ist, er werde
gerichtlich nicht mehr belangt werden. Hierbei muss das Erfordernis des Ver-
trauensschutzes das Interesse des Berechtigten an der sachlichen Prüfung des
von ihm behaupteten Anspruchs derart überwiegen, dass dem Gegner die Ein-
lassung auf die nicht innerhalb angemessener Frist erhobene Klage nicht mehr
zumutbar ist. Durch die Annahme einer prozessualen Verwirkung darf der Weg
zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtferti-
gender Weise erschwert werden. Dies ist im Zusammenhang mit den an das
Zeit- und Umstandsmoment zu stellenden Anforderungen zu berücksichtigen
.
bb)
Es kann dahinstehen, ob eine Prozessverwirkung vorliegend bereits
deshalb ausscheidet, weil § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG, der die Verwirkung von
Rechten ausschließt, die Arbeitnehmern durch eine Betriebsvereinbarung ein-
geräumt werden, auch einer Verwirkung der gerichtlichen Geltendmachung die-
ser Rechte entgegensteht. Denn jedenfalls liegen - anders als vom Landesar-
beitsgericht angenommen - die Voraussetzungen für eine Prozessverwirkung
deshalb nicht vor, weil schon das Zeitmoment nicht erfüllt ist.
(1)
Eine materiellrechtliche Verwirkung von Ansprüchen auf Leistungen der
betrieblichen Altersversorgung kann frühestens mit der Entstehung bzw. Fällig-
keit des Anspruchs ausgelöst werden. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts scheidet eine Verwirkung von vornherein aus, solange
das geltend gemachte Recht noch nicht besteht. Das Zeitmoment beginnt daher
nicht vor Fälligkeit der sich aus dem Rentenstammrecht ergebenden Leistungen
.
Diese Grundsätze gelten auch für die Prozessverwirkung. Ein Arbeitnehmer ist
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nicht verpflichtet, den Bestand oder die Höhe seiner Versorgungsansprüche vor
Eintritt eines Versorgungsfalls gerichtlich klären zu lassen.
(2)
Danach ist das Zeitmoment vorliegend nicht gegeben. Der Versor-
gungsfall ist beim Kläger frühestens mit Bezug einer gesetzlichen Rente am
1. März 2016 und damit erst nach Klageerhebung eingetreten.
c)
Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind ebenfalls erfüllt.
Der Klageantrag ist auf die Feststellung des Bestehens eines Rechts-
verhältnisses iSd. § 256 ZPO, nämlich die Verpflichtung der Beklagten, dem
Kläger eine Betriebsrente zu zahlen, gerichtet. Da die Beklagte eine Zahlungs-
verpflichtung bestreitet, weist der Antrag auch das nach § 256 Abs. 1 ZPO er-
forderliche Feststellungsinteresse auf. Unschädlich ist, dass zum 1. März
2016 - und damit noch vor Schluss der letzten mündlichen Tatsachenverhand-
lung - beim Kläger ein Versorgungsfall eingetreten ist. Der Vorrang der Leis-
tungsklage greift bereits deshalb nicht, weil die Feststellungsklage eine sach-
gemäße, einfache Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte ermöglicht und
prozesswirtschaftliche Erwägungen gegen einen Zwang zur Leistungsklage
sprechen
.
2.
Die Klage ist begründet. Die Beklagte hat dem Kläger bei Eintritt eines
Versorgungsfalls eine Rente nach der VO 1992 zu gewähren.
a)
Der im Mai 1955 geborene und seit dem 28. April 1980 bei der Beklag-
ten beschäftigte Kläger ist am 25. Juli 2003 mit einer nach § 1b Abs. 1
iVm. § 30f Abs. 1 Nr. 1 BetrAVG unverfallbaren Anwartschaft auf Versorgungs-
leistungen nach der VO 1992 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Der
Kläger hatte bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses das 35. Lebensjahr be-
reits vollendet und die Versorgungszusage nach der VO 1992 bestand zu die-
sem Zeitpunkt schon mehr als zehn Jahre. Damit steht dem Kläger bei Eintritt
eines in der VO 1992 genannten Versorgungsfalls ein Anspruch auf Gewährung
einer Rente zu.
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b)
Aus dem rechtskräftigen Beschluss des Familiengerichts im Versor-
gungsausgleichsverfahren vom 5. November 2013 folgt nichts anderes. Durch
den Beschluss wurde nicht mit interprozessualer Bindungswirkung entschieden,
dass dem Kläger keine künftigen Ansprüche auf Leistungen nach der VO 1992
gegen die Beklagte zustehen. Die materielle Rechtskraft eines familiengerichtli-
chen Beschlusses, durch den nach § 1 Abs. 1 VersAusglG im Versorgungsaus-
gleichsverfahren die in der Ehezeit erworbenen Anteile von Anrechten jeweils
zur Hälfte zwischen den geschiedenen Ehegatten geteilt werden, erfasst nicht
die Vorfrage, ob und in welchem Umfang dem ausgleichspflichtigen Ehegatten
gegen seinen Arbeitgeber oder einen externen Versorgungsträger künftige An-
sprüche auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zustehen.
aa)
Weder das Versorgungsausgleichsgesetz noch das Gesetz über das
Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit (FamFG) enthalten ausdrückliche Regelungen zum Umfang der
materiellen Rechtskraft einer über den Versorgungsausgleich getroffenen Ent-
scheidung. Für diese gelten vielmehr die allgemeinen zivilprozessualen
Grundsätze zur materiellen Rechtskraft
. Danach ist eine Entscheidung in Bezug auf den
jeweiligen Streit- bzw. Verfahrensgegenstand der Rechtskraft fähig
. Präjudizielle Rechtsverhältnisse, über deren Bestand oder Um-
fang im Rahmen der Entscheidung über den erhobenen prozessualen Anspruch
durch das Gericht vorab zu entscheiden ist, nehmen dagegen grundsätzlich
nicht an der Rechtskraftwirkung teil
. Die Frage,
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ob - und ggf. in welchem Umfang - der ausgleichspflichtige Ehegatte gegen sei-
nen Arbeitgeber oder einen externen Versorgungsträger einen künftigen An-
spruch auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung bei Eintritt eines Ver-
sorgungsfalls erworben hat, hat das Familiengericht lediglich als Vorfrage zur
Ermittlung der in der Ehezeit erworbenen Anteile von Anrechten (Ehezeitantei-
le) zu prüfen. Als lediglich präjudizielles Rechtsverhältnis nimmt die Feststellung
über dessen Bestand und Umfang daher nicht an der materiellen Rechtskraft
des Beschlusses über den Versorgungausgleich teil.
bb)
Sinn und Zweck des familiengerichtlichen Versorgungsausgleichsver-
fahrens stehen dem ebenfalls nicht entgegen. Dies folgt aus der Regelung in
§ 221 FamFG. Nach § 221 Abs. 2 FamFG hat das Familiengericht das Verfah-
ren auszusetzen, wenn ein Rechtsstreit über Bestand oder Höhe eines in den
Versorgungsausgleich einzubeziehenden Anrechts anhängig ist. Besteht Streit
über ein Anrecht, ohne dass die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt sind,
kann das Gericht das Verfahren aussetzen und einem oder beiden Ehegatten
eine Frist zur Erhebung der Klage setzen. Wird diese Klage nicht oder nicht
rechtzeitig erhoben, kann das Gericht das Vorbringen unberücksichtigt lassen,
das mit der Klage hätte geltend gemacht werden können
. Die Regelung entspricht dem früheren § 53c FGG
. Die im ursprünglichen Gesetzesentwurf der Bundesregierung
nicht enthaltene Bestimmung
wurde - zunächst als
§ 53 b/1 - auf Anregung des Rechtsausschusses in das damalige Gesetz über
die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aufgenommen
. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollte die Vorschrift
regeln, wie zu verfahren ist, wenn unter den am Versorgungsausgleichsverfah-
ren Beteiligten über den Bestand oder die Höhe einer Versorgung Streit be-
steht. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung der jeweils zuständigen
Fachgerichtsbarkeit den Vorrang für die Klärung dieser strittigen Vorfragen ein-
räumen. Dies beruht auf der Überlegung, dass die Familiengerichte in diesen
Fällen häufig über weniger Fachkenntnisse verfügen und ein „Zwischenstreit
dieser Art durch den Familienrichter nicht auch mit Verbindlichkeit gegenüber
dem Träger der Versorgung geklärt werden kann“
.
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Damit liegt auch § 221 FamFG die Vorstellung zu Grunde, dass die Familienge-
richte durch die Entscheidung über den Versorgungsausgleich nicht rechtskräf-
tig über den Bestand und den Umfang der vom ausgleichspflichtigen Ehegatten
erworbenen künftigen Versorgungsansprüche entscheiden
.
cc)
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Umfang der
materiellen Rechtskraft von Entscheidungen über den Versorgungsausgleich
gebietet kein anderes Ergebnis. Danach sind - der Natur des Versorgungsaus-
gleichsverfahrens als Amtsermittlungsverfahren entsprechend - sämtliche bei
Ehezeitende vorhandenen Versorgungsanwartschaften und -anrechte der Ehe-
gatten Gegenstand des Versorgungsausgleichsverfahrens, unabhängig davon,
ob sie von den Ehegatten mitgeteilt oder verschwiegen wurden
. Wird eine dem Wertausgleich bei der Scheidung grundsätzlich unter-
fallende Versorgungsanwartschaft fehlerhaft nicht ausgeglichen, weil sie dem
Gericht nicht bekannt war oder von diesem übersehen wurde, liegt zwar eine
fehlerhafte Entscheidung des Gerichts vor. Diese erwächst aber mit Ablauf der
Beschwerdefrist in formelle und materielle Rechtskraft, und zwar nicht nur in-
soweit, als Versorgungsanwartschaften tatsächlich ausgeglichen werden, son-
dern auch mit dem Inhalt, dass keine weiteren Anrechte im Wertausgleich bei
der Scheidung nach §§ 9 ff. VersAusglG auszugleichen sind
.
Damit beschränkt sich auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
die materielle Rechtskraft der Entscheidung über den Versorgungsausgleich
inhaltlich lediglich auf die dadurch herbeigeführte Ausgleichswirkung. Durch
einen solchen Beschluss steht im Fall seiner formellen Rechtskraft nur fest,
dass keine weiteren Anrechte im Wertausgleich bei der Scheidung nach §§ 9 ff.
VersAusglG mehr auszugleichen sind, nicht jedoch, ob und in welchem Umfang
zwischen einem der Ehegatten und seinem Arbeitgeber oder einen externen
Versorgungsträger solche Anrechte bestehen.
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c)
Die Beklagte hat die dem Kläger in der VO 1992 erteilte Versorgungs-
zusage auch nicht wirksam widerrufen. Der damit von der Beklagten erhobene
Einwand des Rechtsmissbrauchs
gegenüber dem Begehren des
Klägers auf Erfüllung seiner Versorgungszusage
greift nicht
durch.
aa)
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der von ihr erhobene Rechts-
missbrauchseinwand nicht deshalb nach § 319 BGB gerichtlich nur auf offenba-
re Unbilligkeit überprüfbar, weil der Beirat nach § 37 Abs. 3 VO 1992 seine Gel-
tendmachung beschlossen hat. Die Regelungen in §§ 317, 319 BGB finden auf
die Entscheidung des Beirats keine Anwendung.
(1)
Eine unmittelbare Anwendung von §§ 317, 319 BGB scheidet bereits
deswegen aus
, weil die Entscheidung über den „Widerruf“ der Versorgungszu-
sage keine Bestimmung der Leistung iSd. Norm ist. Der paritätisch besetzte
Beirat legt nicht fest, welche Leistung die Beklagte dem Kläger zu gewähren hat
oder unter welchen Modalitäten diese zu erbringen ist. Vielmehr handelt es sich
lediglich um die Entscheidung, ob dem zukünftigen Anspruch eines Arbeitneh-
mers der Einwand des Rechtsmissbrauchs
entgegengehalten
wird.
(2)
Auch eine entsprechende Anwendung dieser Regelungen kommt nicht
in Betracht. Zwar können in Betriebsvereinbarungen betriebliche Einrichtungen,
wie paritätische Kommissionen, geschaffen werden, denen die Aufgabe eines
Schiedsgutachters zukommt. Solche durch Entscheidungen paritätischer Kom-
missionen ergangenen Schiedsgutachten sind im arbeitsgerichtlichen Verfahren
in entsprechender Anwendung der §§ 317, 319 BGB nur eingeschränkt zu
überprüfen
.
Die darin liegende Schiedsgutachtenvereinbarung verstößt nicht gegen das im
Arbeitsrecht grundsätzlich geltende Verbot der Schiedsgerichtsbarkeit
, da die für das arbeitsgerichtliche Verfahren aus der Gutachtenabrede
folgende Bindung allein materiellrechtlicher Natur ist
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.
Eine
unzulässige Schiedsgerichtsvereinbarung liegt hingegen dann vor, wenn
der dritten Stelle nicht nur die Feststellung von Tatsachen, sondern darüber
hinaus auch deren verbindliche Subsumtion unter einzelne Tatbestandsmerk-
male - etwa im Bereich der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe - übertra-
gen wird
.
Ausgehend hiervon kann nicht angenommen werden, dass die Ent-
scheidung des Beirats entsprechend § 319 BGB vom Gericht nur eingeschränkt
überprüfbar ist. Die Frage, ob die Voraussetzungen für den Einwand des
Rechtsmissbrauchs gegeben sind, betrifft nicht die Feststellung einer Tatsache
aufgrund einer Beurteilung, sondern die rechtliche Bewertung eines tatsächli-
chen Sachverhalts. Eine - auch für die Gerichte - verbindliche Kompetenzüber-
tragung auf den Beirat wäre damit nicht zulässig. Angesichts dessen ist davon
auszugehen, dass die Betriebsparteien dem Beirat durch die ihm in § 37 Abs. 3
VO 1992 eingeräumte Entscheidungsbefugnis keine Entscheidungsmacht über
Rechtsfragen einräumen wollten.
bb)
Es kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf der
vom Kläger erworbenen unverfallbaren Anwartschaft nach § 37 Abs. 1
iVm. Abs. 2 VO 1992 vorliegen. Aufgrund des Entgeltcharakters der betriebli-
chen Altersversorgung und des besonderen Schutzbedürfnisses der Verspre-
chensempfänger, das eine starke Verfestigung bereits der Anwartschaften auf
Pensionsleistungen zur Folge hat, kommt eine Versagung von Versorgungsleis-
tungen wegen Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers nach ständiger Recht-
sprechung des Senats nur in Betracht, wenn die Berufung des Versorgungsbe-
rechtigten auf die Versorgungszusage dem durchgreifenden Rechtsmiss-
brauchseinwand
ausgesetzt ist
. Deshalb kann sich der Arbeitgeber trotz
eines Widerrufsvorbehalts von der erteilten Versorgungszusage wegen Pflicht-
verletzungen des Arbeitnehmers nur dann „lösen“ und die Leistung verweigern,
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wenn das Versorgungsverlangen des Arbeitnehmers nach den allgemeinen
Grundsätzen rechtsmissbräuchlich ist
.
Auch die Betriebsparteien sind nicht befugt, ein von den allgemeinen Voraus-
setzungen des Rechtsmissbrauchseinwands
abweichendes
- weitergehendes - Recht des Versorgungsschuldners, sich bei schädigendem
Verhalten des Arbeitnehmers von der zugesagten Altersversorgung zu lösen,
zu regeln. Eine solche Regelung entspräche nicht den rechtlichen Vorgaben
und damit nicht den Grundsätzen von Recht und Billigkeit iSv. § 75 Abs. 1 Be-
trVG.
cc)
Die Berufung des Klägers auf das Versorgungsversprechen ist nicht
rechtsmissbräuchlich
.
(1)
Der Rechtsmissbrauchseinwand kann gerechtfertigt sein, wenn der Ar-
beitnehmer die Unverfallbarkeit seiner Versorgungsanwartschaft nur durch Ver-
tuschung schwerer Verfehlungen erschlichen hat. Das ist anzunehmen, wenn
eine rechtzeitige Entdeckung derartiger Verfehlungen zur fristlosen Kündigung
geführt hätte, bevor die Versorgungsanwartschaft unverfallbar wurde und der
Arbeitnehmer den Arbeitgeber durch die Vertuschung des Fehlverhaltens daran
gehindert hat, noch vor Eintritt der Unverfallbarkeit zu kündigen
.
Zudem kann der Rechtsmissbrauchseinwand auch dann gerechtfertigt
sein, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber durch grobes Fehlverhalten ei-
nen nicht behebbaren, insbesondere durch Ersatzleistungen nicht wiedergut-
zumachenden schweren Schaden zugefügt hat
. Stützt
sich der Arbeitgeber auf die Verursachung eines Vermögensschadens durch
den Arbeitnehmer, ist das Versorgungsverlangen des Arbeitnehmers allerdings
nur dann rechtsmissbräuchlich, wenn dieser seine Pflichten in grober Weise
verletzt und dem Arbeitgeber hierdurch einen existenzgefährdenden Schaden
zugefügt hat. Soweit die Möglichkeit, erfolgreich einen Rechtsmissbrauchsein-
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wand gegenüber dem Versorgungsversprechen des Arbeitnehmers zu erheben,
damit auch von der wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers abhängt, ist dies
- entgegen der Rechtsansicht der Beklagten - deshalb gerechtfertigt, weil nur in
den Fällen, in denen der vom Arbeitnehmer verschuldete finanzielle Schaden
des Arbeitgebers zu einer existenzbedrohenden Situation führt, dessen wirt-
schaftliche Grundlage gefährdet und dadurch die Gefahr heraufbeschworen
wird, dass die Betriebsrente nicht gezahlt werden kann. Erst in einem solchen
Fall ist die Grenze überschritten, bis zu der auch ein pflichtwidrig Handelnder,
ohne sich dem Einwand des Rechtsmissbrauchs auszusetzen, das ihm gege-
bene Versprechen einfordern kann
.
Anders als von der Beklagten angenommen, führt dies nicht dazu, dass
große Unternehmen gegenüber Treupflichtverletzungen ihrer Mitarbeiter letzt-
lich schutzlos gestellt sind. Der Entzug von Anwartschaften, die durch Arbeits-
leistung erworben wurden, ist keine Sanktion für - selbst grobe - Verletzungen
vertraglicher Pflichten. Führen die vom Arbeitnehmer verursachten Vermögens-
schäden nicht zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlage des Arbeit-
gebers, sind seine Interessen durch die Möglichkeit, den Arbeitnehmer auf
Schadensersatz in Anspruch zu nehmen oder ab Eintritt des Versorgungsfalls
ggf. gegenüber dem Betriebsrentenanspruch des Arbeitnehmers aufzurechnen,
hinreichend gewahrt
.
(2)
Danach ist das Versorgungsverlangen des Klägers nicht rechtsmiss-
bräuchlich. Eine Entscheidung hierüber kann der Senat selbst treffen. Zwar hat
das Berufungsgericht den Einwand des Rechtsmissbrauchs nicht geprüft. Aller-
dings ist der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt; weitere Feststellun-
gen hierzu sind nicht zu erwarten.
(a)
Die Beklagte hat nicht behauptet, dass der Kläger die Unverfallbarkeit
seiner Versorgungsanwartschaft nur durch Vertuschung schwerer Verfehlungen
erschlichen hat. Die Straftaten, die Gegenstand seiner Verurteilung waren, hat
der Kläger im Jahr 2003 begangen. Zu diesem Zeitpunkt war seine Anwart-
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schaft auf Leistungen nach der VO 1992 bereits nach § 1b Abs. 1 iVm. § 30f
Abs. 1 Nr. 1 BetrAVG gesetzlich unverfallbar, da die Versorgungszusage schon
länger als zehn Jahre bestand und der Kläger das 35. Lebensjahr vollendet hat-
te.
(b)
Die Beklagte hat sich lediglich auf schwere Pflichtverletzungen des Klä-
gers berufen und geltend gemacht, ihr sei infolge eines Fehlverhaltens des Klä-
gers ein erheblicher materieller Schaden entstanden. Sie hat aber selbst vorge-
tragen, dass der ihr durch das pflichtwidrige Verhalten des Klägers zugefügte
Schaden - sogar unterstellt, dieser habe sich auf 740.000,00 Euro belaufen - für
sie nicht existenzgefährdend gewesen sei.
d)
Das Verlangen des Klägers nach vollständiger Erfüllung des ihm gege-
benen Versorgungsversprechens ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt wider-
sprüchlichen Verhaltens dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nach
§ 242 BGB ausgesetzt.
aa)
Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens als Ausprägung der Grund-
sätze von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und
Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung
. Wer durch seine Erklärung oder durch sein
Verhalten bewusst oder unbewusst eine Sach- oder Rechtslage geschaffen hat,
auf die sich der andere Teil verlassen durfte und verlassen hat, darf den ande-
ren Teil in seinem Vertrauen nicht enttäuschen
.
Allerdings ist nicht jedes widersprüchliche Verhalten rechtsmissbräuchlich. Die
Rechtsordnung lässt widersprüchliches Verhalten grundsätzlich zu. Wider-
sprüchliches Verhalten ist erst dann rechtsmissbräuchlich, wenn die andere
Seite auf ein Verhalten vertrauen durfte und ihre Interessen vorrangig schutz-
würdig erscheinen. Maßgeblich ist, ob für den anderen Teil ein schützenswerter
Vertrauenstatbestand geschaffen wurde oder andere besondere Umstände die
Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen
.
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bb)
Die Beklagte konnte aufgrund des Verhaltens des Klägers nicht
schutzwürdig darauf vertrauen, dass er nicht die Erfüllung des ihm erteilten
Versorgungsversprechens verlangen würde.
Dem Umstand, dass der Kläger gegen den Strafbefehl keinen Ein-
spruch eingelegt und die Kündigungsschutzklage gegen die fristlose Kündigung
zurückgenommen hat, kommt insoweit keine Aussagekraft zu. Aus diesem Ver-
halten konnte die Beklagte nur schließen, dass der Kläger sowohl die außeror-
dentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses als auch seine strafgerichtliche
Verurteilung akzeptieren wollte. Auch aus der Tatsache, dass der Kläger gegen
den im Jahr 2005 erfolgten Widerruf seiner Versorgungszusage - seine zumin-
dest zeitnahe Kenntnisnahme zugunsten der Beklagten unterstellt - in der Fol-
gezeit nicht gerichtlich vorgegangen ist, kann die Beklagte nichts Weitergehen-
des ableiten. Da der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist, den Bestand oder die
Höhe seiner Versorgungsansprüche vor Eintritt eines Versorgungsfalls gericht-
lich klären zu lassen, kommt dem Umstand, dass der Kläger nach Kenntnis des
Widerrufs keine Klage erhoben hat, kein Erklärungswert zu.
Dass der Kläger der von der Beklagten im Rahmen des Versorgungs-
ausgleichsverfahrens erteilten Auskunft, wonach ihm keine Anrechte auf be-
triebliche Altersversorgung zustünden, nicht widersprochen hat, führt ebenfalls
zu keiner anderen Bewertung. Da im Versorgungsausgleichsverfahren der Be-
stand einer Versorgungsanwartschaft des Klägers nicht mit rechtlicher Bin-
dungswirkung für die Beklagte geklärt werden konnte, war dieses Verhalten des
Klägers nicht geeignet, bei der Beklagten als Trägerin der Versorgung ein
schutzwürdiges Vertrauen darauf zu begründen, insoweit nicht mehr in An-
spruch genommen zu werden.
e)
Der Kläger hat seine Ansprüche auch nicht materiellrechtlich verwirkt.
Eine Verwirkung der sich aus der VO 1992 als Gesamtbetriebsvereinbarung
ergebenden Ansprüche scheidet nach § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG aus.
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III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Zwanziger
Ahrendt
Wemheuer
Schmalz
Schultz
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